Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz von 15,5 Prozent des Bruttoarbeitsentgelts im Jahr 2014 auf 14,6 Prozent im Jahr 2015 gesenkt. Dabei wurde der Arbeitgeberanteil bei 7,3 Prozent festgeschrieben. Der nur von den Arbeitnehmern zu zahlende Beitrag in Höhe von 0,9 Prozent wurde zum Jahresbeginn 2015 abgeschafft. Stattdessen kann jede Kasse seither einen individuellen lohnabhängigen Zusatzbeitrag erheben. Der kassenindividuelle Beitrag betrug im Jahr 2015 im Durchschnitt 0,9 Prozent. Im Jahr 2016 wird er sich wohl auf 1,1 Prozent belaufen. Bis zum Jahr 2020 könnte er auf 1,8 Prozent steigen (Boysen-Hogrefe 2015, S. 10). Der Spitzenverband der GKV sagt schon für das Jahr 2019 einen Zusatzbeitrag in Höhe von 1,8 Prozent voraus (Thelen 2016, S. 1). Auch mit Blick auf diese Perspektiven wird von vielen Politikern gefordert, zur paritätischen Finanzierung der Ausgaben der GKV zurückzukehren (vgl. zu entsprechenden Forderungen Stratmann 2016, S. 5 und Mihm 2016, S. 15).
Wie könnte die paritätische Finanzierung konkret aussehen? Was wären die Folgen einer geänderten Finanzierung? Was sollte tatsächlich geändert werden?
Zwei Varianten einer paritätischen Finanzierung
Eine hälftige Finanzierung lässt sich dadurch erreichen, dass die Arbeitgeber neben dem Arbeitgeberanteil von 7,3 Prozent die Hälfte des kassenindividuellen Beitrags zahlen müssen (Variante 1). Möglich wäre alternativ, dass die kassenindividuellen Beiträge der Arbeitnehmer abgeschafft werden und der einheitliche Beitragssatz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte gezahlt wird; für das Jahr 2016 bedeutete dies Anteile von je 7,85 Prozent (Variante 2). Diese Variante scheint von den Politikern gewünscht zu sein.
Was wären die Folgen einer geänderten Finanzierung?
Bei der Argumentation werden der Bruttolohn (das Bruttoarbeitsentgelt gemäß Sozialversicherungsrecht bzw. der Effektivlohn, der den Tariflohn übersteigen kann), der Produzentenlohn (Bruttolohn zuzüglich Arbeitgeberbeitrag zur GKV) und der Konsumentenlohn (Bruttolohn abzüglich Arbeitnehmerbeitrag zur GKV) unterschieden. Es bleibt unberücksichtigt, dass neben den Arbeitgebern die Rentenversicherungsträger und die Bundesagentur für Arbeit (wie Arbeitgeber) Beiträge zahlen. Es wird auch nicht beachtet, dass es spezifische Regelungen für die Beiträge der (ausschließlich oder im Nebenerwerb) geringfügig Beschäftigten und für die Beiträge der in Midi-Jobs Beschäftigten gibt und dass Beiträge nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben werden. Schließlich wird zunächst nicht berücksichtigt, dass Beiträge an die Gesetzliche Rentenversicherung, an die Arbeitslosenversicherung und an die soziale Pflegeversicherung geleistet werden und dass Lohnsteuer fällig wird.
Wenn gemäß Variante 2 der Arbeitnehmerbeitrag gesenkt wird und der Arbeitgeberbeitrag erhöht wird, dann steigen der Produzentenlohn und der Konsumentenlohn. Kurzfristig profitieren die Arbeitnehmer, während die Arbeitskosten der Unternehmen steigen; die Beschäftigung sinkt. Es kommt aber zu Zweitrundeneffekten infolge des lohnpolitischen Verhaltens der Tarifvertragsparteien, das auf die Lohnfindung für jene Beschäftigten ausstrahlt, die nicht tarifvertraglichen Bindungen unterliegen. Die Beschäftigung nimmt daraufhin zu.
Bei Neuverhandlungen über Tariflöhne in den einzelnen Branchen wird die geänderte Finanzierung nämlich Konsequenzen haben und bei gegebener Verhandlungsmacht der widerstreitenden Tarifvertragsparteien zu Bruttolöhnen führen, die geringer sind, als sie es sonst gewesen wären. Letztlich werden nach der Vereinbarung neuer Tarifverträge für alle Branchen – angesichts der üblichen Laufzeiten der Tarifverträge nach rund 2 Jahren – geringere Bruttolöhne gelten, die bei der geänderten Aufteilung der Beiträge Konsumentenlöhne und Produzentenlöhne auf den jeweiligen alten Niveaus bedeuten. Für Löhne, die nicht über Tarifverträge festgesetzt werden, ist ein grundsätzlich ähnliches Ergebnis zu erwarten. Die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme wird kleiner als im Status quo sein.
Hinter diesen Aussagen steht die Tatsache, dass die Beiträge zur GKV im Kern eine Steuer sind. Rund 95 Prozent der Ausgaben der GKV sind für alle Versicherten gleich; die wesentliche Ausnahme sind die nettolohnabhängigen Aufwendungen für das Krankengeld. Im Fall der Mitversicherung von Familienangehörigen sind die Ausgaben je Beschäftigten natürlich höher als bei Alleinversicherten, bei gegebener Haushaltsstruktur aber gleich. Die Beiträge sind – mit Einschränkungen (für Mini- und Midi-Jobs und für Löhne oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze) – eine proportionale Lohnsteuer.
Die ökonomische Traglast von Beiträgen, die praktisch eine Wertsteuer darstellen, hängt nicht von der Zahllast (der Verpflichtung, Beiträge abzuführen) ab (Sachverständigenrat, 2005, Kasten 18, S. 251-255). Die Irrelevanz der Zahllast bedeutet, dass eine Änderung der Aufteilung der Beitragszahlung mittelfristig keine Beschäftigungseffekte hat und das Beitragsaufkommen nicht ändert.
Das gilt aber nur, wenn der Abgabenkeil, der auch von anderen Beitragssätzen und von der Lohnsteuer abhängt, konstant bleibt. Vernachlässigt man diese anderen Beiträge und die Lohnsteuer, so bleibt bei einer geänderten Aufteilung der Beiträge zur GKV der Abgabenkeil (Keil zwischen Produzentenlohn und Konsumentenlohn) konstant, wenn 1-t=1 /1+Ï„ gilt. Dabei bezeichnen t den Beitragssatz des Arbeitnehmers und Ï„ den des Arbeitgebers.
Diese Bedingung wird nicht erfüllt, wenn die Summe aus Arbeitgeberbeitragssatz und Arbeitnehmerbeitragssatz nach der Änderung der Aufteilung so groß ist wie im Status Quo (15,7 Prozent). Vielmehr müssten – bei Abstraktion von anderen Beiträgen und von der Lohnsteuer – der Beitragssatz der Arbeitgeber bei gegebenem Beitragssatz der Arbeitnehmer oder der Beitragssatz der Arbeitnehmer bei gegebenem Beitragssatz der Arbeitgeber größer sein als 7,85 Prozent.
Der Anreiz, die Krankenkasse zu wechseln, nähme bei einer paritätischen Finanzierung gemäß Variante 2 ab (vgl. Mihm 2016 und sowie Pellengahr 2016).
Wenn eine paritätische Finanzierung gemäß Variante 1 eingeführt wird, dann sind die Konsequenzen für die Bruttolöhne und für die Beschäftigung ähnlich. In jedem Tarifbereich gibt es zwar Beschäftigte mit unterschiedlichen Beitragssätzen, tendenziell würde aber auch gelten, dass der Übergang zu einer paritätischen Finanzierung mittelfristig keinen Unterschied macht, dass die Traglast also nicht von der Zahllast abhängt.
In Variante 1 blieben die Beitragssatzunterschiede bestehen, wenngleich im Vergleich zum Status Quo nur zur Hälfte. Die Anreize zum Kassenwechsel wären größer als in Variante 2, in der es Beitragssatzunterschiede nicht gibt. Der Wettbewerb der Kassen würde weniger geschwächt als in Variante 2.
Infolge der Änderung der Aufteilung der GKV-Beiträge auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde sich – wie gezeigt – die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme ändern. Die Beitragssätze für die anderen Bereiche der Sozialversicherung und die Regeln für die Bemessung der Lohnsteuer (auch die Regeln zur Festsetzung der Absetzbarkeit der Beiträge zur Sozialversicherung) müssten angepasst werden, damit das Beitragsaufkommen dieser Bereiche und das Lohnsteueraufkommen konstant bleiben.
Was sollte tatsächlich geändert werden?
Eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung ist nicht zu empfehlen. Der Grund dafür ist nicht, dass die Beschäftigung wegen erhöhter Arbeitskosten sänke. Dies wäre mittelfristig nicht der Fall. Gegen eine Rückkehr spricht, dass der Wettbewerb der Krankenkassen schwächer würde. Dies wäre bei Variante 2 mehr der Fall als bei Variante 1.
Sinnvoll wäre es, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die ökonomische Traglast mittelfristig nicht von der Zahllast abhängt. Dies bedeutet, dass die Unterscheidung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen abgeschafft wird. Der Arbeitgeber müsste den Gesamtbeitrag zahlen. Die Arbeitnehmer könnten die gesamte Belastung durch Beiträge leichter erkennen. Sie würden bei Beitragssatzunterschieden wegen der erhöhten Transparenz eher die günstigste Kasse wählen. Der Wettbewerb nähme zu.
Langfristig sollte eine grundlegende Reform ins Auge gefasst werden. Die GKV sollte zu einer privaten Krankenversicherung umgestaltet werden. Das bedeutet, dass risikogerechte Prämien erhoben werden, dass adäquate Vorkehrungen gegen moral hazard der Versicherten (z. B. Selbstbeteiligungsregeln) getroffen werden und dass die sonstigen Prinzipien der Privaten Krankenversicherung eingeführt werden. Mit einer solchen Reform entfielen die Beiträge zur GKV, die wegen ihres weitgehenden Steuercharakters insbesondere die Arbeitsanreize schwächen.
Literatur:
Andreas Mihm, Verlogene Beitragsdebatte, FAZ vom 5. Januar 2016, S. 15.
Jens Boysen-Hogrefe, Steigende Zusatzbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Eintagsfliege oder Dauerbrenner? Kiel Policy Brief Nr. 98, Institut für Weltwirtschaft, Dezember 2015.
Hubertus Pellengahr, Halbe-halbe schadet Wettbewerb, FAZ vom 11. Januar 2016, S. 20.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Chance nutzen – Reformen mutig voranbringen, Jahresgutachten 2005/2006, Kasten 18, S. 251-255, Wiesbaden.
Peter Thelen, Falsche Medizin, Handelsblatt vom 7. Januar 2016, S. 1 und S. 4-5.
Klaus Stratmann, Wer zahlt was zur Krankenversicherung? Handelsblatt vom 7. Januar 2016, S. 5.
- Die Bundesagentur für Arbeit „schwimmt im Geld“: Was tun? - 5. August 2017
- Arbeitslosengeld für einen verlängerten Zeitraum? - 2. März 2017
- Mehr Steuerwettbewerb nach dem Brexit? - 21. Dezember 2016
Ist nicht die paritätische Finanzierung der gesamten Sozialversicherung eine Fehlkonstruktion von Anfang an?
1. Es ist doch ein Selbstbetrug, zu glauben, die Arbeitgeber gäben „etwas dazu“. Sie geben formal natürlich etwas dazu, allerdings das, was sie vorher abgezogen haben. Will heißen: Ohne Arbeitgeberanteile sähen die Ergebnisse von Tarifverhandlungen sicher anders aus.
2. Die gesetzlichen Sozialversicherungen sind von ihrem Wesen her reine Arbeitnehmerversicherungen. Weil jedoch ein Teil der Beiträge als durchlaufende Posten über die Bücher der Arbeitgeber geht, sitzen deren Vertreter in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungen, wo sie eigentlich überhaupt nichts zu suchen haben.
3. Es gibt eine „wunderbare“ Entkoppelung: Falls ein Arbeitgeber beispielsweise einen Rentner beschäftigt, muss er für diesen Arbeitgeberanteile zur Arbeitslosenversicherung und zur Rentenversicherung abführen, ohne dass sein Arbeitnehmer irgendeinen Nutzen daraus zieht: Im Falle von Arbeitslosigkeit wird der Rentner schlicht auf seine Rente verwiesen; und seine Rente erhöht sich durch die Beiträge auch nicht. Nach dem jetzigen System hat den Arbeitgeber nun einmal nicht zu interessieren, welchen Nutzen der Arbeitnehmer hat; und den Arbeitnehmer hat nicht zu interessieren, was der Arbeitgeber zahlen muss. Wenn sämtliche Zahlungen an die Sozialversicherung ganz normal komplett über die Konten der Arbeitnehmer liefen, hätten Regelungen wie die obigen – natürlich politisch gewollten – sicher keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht, wie schon einmal die Diskussion über Rentenversicherungsbeiträge für geringstfügig Beschäftigte, denen keinerlei Gegenleistung gegenüberstehen sollte, gezeigt hat.
4. Eine weitere Augenwischerei entsteht dadurch,
dass der naive Arbeitnehmer sein Nettogehalt zum „Bruttogehalt“ in Relation setzt und nicht – wie es eigentlich richtig wäre – zu seinem „Gesamtgehalt“ oder – wie ihn Herr Boss nennt – „Produzentenlohn“ mit sämtlichen Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung; und etliche mehr würden sich wundern, dass sie bei bescheidenen Einkommensverhältnissen weniger als die Hälfte Netto übrigbehalten. Dann würde das wahre Ausmaß der Abzüge offensichtlich. Aber auch das ist wohl politisch nicht gewollt,
denn so gibt es natürlich geringeren Widerstand gegenüber Erhöhungen von Steuern oder Sozialabgaben.
In diesem Sinne gehört die paritätische Finanzierung der Gesetzlichen Sozialversicherung schnellstmöglich abgeschafft.
Sie ist nur bei naiver Betrachtungsweise sozial.
das größte problem unserer Sozialversicherungen ist, hier entscheiden menschen darüber die nicht unter diesen zwangsbeiträgen leiden. sie selbst sind in den Privatversicherungen!
auch können sie nicht für die Fehlentwicklungen, welche durch ihr tun entstanden sind, zu Verantwortung gezogen werden. wenn in diesen Systemen finanzielle Schwierigkeiten aufkommen, werden einfach die beiträge erhöht.es werden keine Betrügereien oder unsinnige Behandlungen verfolgt. nein, einfach beiträge erhöhen und dem kleinen mann erzählen alles wird teurer und er wird älter. diese aussagen sind samt und sonders falsch.die Betrügereien in den Krankenversicherungen umfassen, nach Untersuchungen, heute ca. 25 Milliarden euro.dazu kann man getrost noch die gleiche summe für unsinnige Behandlungen und unsinnige Medikamente dazu rechnen.in dieser summe sind noch nicht einmal die Folgekosten durch unnötige und schädigende Behandlungen aufgeführt.
aber um hier mal etwas zu tun haben unsere Politiker nicht den willen, da sie selber davon profitieren.