Nachhaltige Zuwanderung?

Die weiterhin ungebremste Zuwanderung ist zwar das dominante Thema unseres gegenwärtigen politischen Diskurses. Sie bildet aber nur eines der absehbaren Risiken. Weniger sichtbar ist es, dass vor allem die wirtschaftlich entwickelten Länder des Westens eine Finanz- und Geldpolitik betreiben, die als weitgehend unerprobt gelten muss. Wenn diese Politik dazu dienen würde, eine Atempause zur Einleitung von Strukturreformen zu bilden, wäre sie sinnvoll. Aber die meisten EU-Länder schieben Reformen, die eine nachhaltige Stabilisierung der öffentlichen Haushalte erlauben, ebenso vor sich her wie nötige Reformen von Rentensystemen und Arbeitsmärkten. Die Abrechnung wird kommen. Sie wird die Bundesrepublik Deutschland, die beachtliche und sinnvolle Strukturreformen bereits vor der Finanzkrise und der „neuen Gelpolitik“ vornahm, ebenso betreffen wie unsere Nachbarn. Haben wir Glück, so werden wir mit einer längeren Phase der Stagflation ohne Gefährdung fundamentaler politischer Stabilität bezahlen. Haben wir Pech, dann werden wir das größte Kapital unserer westlichen Systeme, die Privatrechtsordnung und die sie stützende stabile Rechtsstaatlichkeit des Demokratischen Verfassungsstaates beschädigen.

Der Nährboden, in dem sich Gefährdungen der rechtsstaatlichen Stabilität entwickeln können, ist durchaus vorhanden. Wie in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts haben populistische Politiker dies erkannt. Sie sind nicht nur vereinzelt, sondern auf breiter Front in praktisch allen Ländern Westeuropas und den USA auf dem Vormarsch. In der Bundesrepublik gab es insoweit bislang eine Sonderentwicklung. Die scheinbar unerschütterliche Wirtschaftskraft Deutschlands und die damit einhergehende Abnahme der Arbeitslosigkeit hat in den Jahren seit der Finanzkrise — wie bereits in der Frühzeit der Republik — viele Konflikte übertüncht. Die Wirtschaftskraft Deutschlands könnte aber in naher Zukunft gefährdet sein. Exportmärkte, deren Nachfrage nach unseren Gütern auf Öl und anderen Rohstoffen schwamm, sind aktuell ebenso von Einbußen bedroht, wie der chinesische Markt. Die Automobilnachfrage könnte einbrechen. Die Kursaufblähung an den Kapitalmärkten scheint ihrem Ende zuzustreben usw.
Von alledem ist bislang bei uns wenig zu spüren. Deshalb erscheint sogar das Problem der Zuwanderung als weniger dramatisch, als es ist. Noch herrscht nahezu Vollbeschäftigung in Deutschland. Migranten werden, sofern sie im Alltag überhaupt auftreten, allenfalls als Störungen des Straßenbildes, aber nicht als Konkurrenten um Arbeitsplätze wahrgenommen. Wenn Migranten in nicht allzu ferner Zukunft auf einen dann möglicherweise weniger aufnahmefähigen Arbeitsmarkt drängen, sind Probleme jedoch vorprogrammiert.

Wollen wir verhindern, dass aus denen, die bislang nur knurren und murren, Angstbeißer werden, dann müssen wir aufhören, die zu verteufeln, die gegen den weiteren Zuzug von Migranten sind. Es ist an der Zeit, uns einzugestehen, dass es jedenfalls so wie im Augenblick auf Dauer nicht weitergehen kann. Das ist das einzige, was klar ist.

Wenn sich die wirtschaftlichen Gefahren, die sich am Horizont abzeichnen, nicht konkretisieren sollten, dann lässt sich die Zuwanderung in der gegenwärtigen Höhe wirtschaftlich zwar noch länger verkraften. Doch politisch ist bereits jetzt der Punkt erreicht, an dem sich größere Gruppierungen von der offenen Gesellschaft als solcher abzuwenden beginnen. Sie machen nicht die Regierung, sondern das politische System und dessen Grundinstitutionen insgesamt für die Zuwanderung verantwortlich. Unsere primäre Loyalität muss unserer eigenen Freiheit und dem Schutz der Rechte unserer eigenen Bürger gelten.

Das Ideal, Menschen einen Rechtsschutz, soweit dies politisch möglich ist, zu gewähren, sollten wir nicht aufgeben. Wir müssen aber anerkennen, dass wir in einer Welt leben, in der das Ideal nicht realisiert ist. Wenn wir es ohne Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen ohne Parteinahme für unsere eigenen Bürger umsetzen wollen, erreichen wir nur, dass sich die Ablehnung Fremder regelmäßig mit einer Ablehnung der Grundwerte der Rechtsstaatlichkeit selber verbindet.

Die unrealistische Verknüpfung des Ideals der Rechtlichkeit für die eigenen Bürger mit dem Ideal der Rechtlichkeit für alle Menschen ist ein gravierender Fehler unserer öffentlichen Auseinandersetzung. Wer nicht meint, die Rechte von Ausländern schützen zu müssen, kann immer noch dafür eintreten, sie für Inländer umfassend zu verteidigen. Man kann parteiisch für unsere Freiheiten sein, ohne für diese Freiheiten universell einzutreten. Man muss keineswegs Sympathien für Altnazis und Rassisten haben, um gegen den ungebremsten Zuzug von Migranten zu sein. Mit solchen Stereotypen zu hantieren, ist ebenso demagogisch, wie der Populismus der Feinde der offenen Gesellschaft.

Die Bürger wissen sehr wohl, dass diejenigen, die zu uns kommen, in der Regel gerade nicht von unseren freiheitlichen Idealen, der emanzipierten Rolle der Frau, der Freiheit der Rede und der Humanität unseres Strafsystems angezogen werden. Sie sind auf der Flucht vor der endemischen Rechtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit ihrer Heimatgebiete, aber keineswegs auf der Suche nach den Freiheiten und der Toleranz, die westliche Rechtsstaaten wie die Bundesrepublik auszeichnen. Zwar finden die Migranten es im Westen besser als zu Hause, doch sind sie deshalb nicht auf der Suche nach jenen Werten, die den Westen in unseren westlichen Augen moralisch überlegen scheinen lassen.

Die Zuwanderer werden jedenfalls kaum dazu beitragen, die Institutionen und Werte, von deren Unterstützung gerade sie profitieren, zu stützen. Sie sind nur ausnahmsweise Anhänger der Werte einer offenen Gesellschaft. Wenn eine Partei diese Wahrheiten unverblümt aussprechen und sich zugleich der Wahrung der rechtsstaatlichen und freiheitlichen Prinzipien ausdrücklich verschreiben würde, dann könnten sich die Gegner des Zuzugs in einer solchen Partei politisch artikulieren, ohne sich mit den Gegnern rechtsstaatlicher Prinzipien überhaupt zu solidarisieren.

Würde die FDP aus dem politischen Koma erwachen, könnte sie die ihr geradezu auf den Leib geschnittene Rolle einer freiheitlichen zuzugsskeptischen Partei wahrnehmen. Die Artikulation freiheitlicher Werte läßt sich mit der Parteinahme für die Freiheiten der eigenen Staatsbürger verbinden. Das Eintreten für unsere eigenen Freiheiten steht im Vordergrund. Diesen Freiheiten muss unsere erste politische Loyalität gelten. Möglichkeiten, anderen zu Freiheiten zu verhelfen, bestehen nur soweit wir unseren eigenen Rechtsstaat stabil halten. Nachhaltig ist das aber nur möglich, soweit unsere eigenen freiheitlichen Institutionen nicht dadurch gefährdet werden, dass wir sie anderen öffnen.

 

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