Flüchtlingspolitische Widersprüche
Nachdem die Euphorie verflogen ist, die im letzten Spätsommer über die deutsche Grenzöffnung in weiten Teilen der Öffentlichkeit herrschte, scheint sich ein neuer Konsens in der deutschen Politik zu etablieren. Auch wenn man sich über die Mittel nicht einig ist, so wird doch von der CSU über die SPD bis hin zu Teilen der Grünen und der Linken ein Absenken oder eine Begrenzung der Zahl weiterer Flüchtlinge gefordert. Die Frage, wie man dies bewerkstelligen soll, dominiert im Moment die bundespolitische Debatte.
Parallel dazu und mit etwas weniger Aufmerksamkeit bedacht laufen auf der kommunalen Ebene eine große Zahl „kleiner“ Debatten über den Umgang mit denjenigen Flüchtlingen, die schon bei uns sind. Die erste und zentrale Frage ist stets: Wo sollen sie untergebracht werden? Auch hier kommt es, wenn es in die konkrete Planungsphase von Flüchtlingsunterkünften geht, schnell zu Widerständen der Bevölkerung.
Es wäre falsch, die Ursache hierfür einfach in einer angeblichen Fremdenfeindlichkeit der Protestierer zu suchen, oder in kurzfristigen Ressentiments, die von den katastrophalen Ereignissen der Silvesternacht hervorgerufen wurden. Wenn es um den eigenen Hinterhof geht, werden plötzlich auch besonnene SPD-Ortsvereine aktiv, ebenso wie die Bürger der größtenteils doch eher links-alternativ geprägten Anrainerbezirke des Tempelhofer Feldes in Berlin.
Das expressive Motiv
Einerseits deutet vieles darauf hin, daß wir es hier mit einem ganz normalen Problem politischer Entscheidungsverfahren zu tun haben. Auf der abstrakten bundespolitischen Ebene, auf der man als einzelner Bürger praktisch keinen Einfluß hat, kann man problemlos die tatsächlichen Kosten einer Politik aus seinem individuellen Kalkül ausklammern und für diejenige Politik eintreten, die am besten zu den sonstigen subjektiven Prädispositionen passt. Es geht dann also nicht um die tatsächlichen Folgen einer Politik, sondern darum, welche Forderung einem ein gutes politisches Gefühl verschafft.
Im verhaltensökonomisch orientierten Zweig der ökonomischen Theorie der Politik nennt man das „expressives Verhalten“; man könnte es auch den Vorrang der Gesinnungs- vor der Verantwortungsethik nennen. Ein britischer Journalist hat für eine Form dieses expressiven Verhaltens den treffenden Begriff „virtue signalling“ geprägt. Vermutlich sind davon alle politischen Lager betroffen. Hier fällt es nur besonders ins Auge, weil das Ziel ja tatsächlich erstrebenswert ist: ein offenes Land, das Hilfsbedürftige mit offenen Armen empfängt. Und dennoch besteht die Gefahr, daß diejenigen, die dieses Ziel aus expressiven Motiven heraus zu kompromisslos, zu euphorisch und zu ignorant im Hinblick auf die kurz- und mittelfristigen Kosten vertreten, ungewollt das Gegenteil von dem erreichen, was sie wollen.
Wenn expressive Motive zur Grundlage der Politik werden und nüchternes Abwägen verdrängen, dann werden auch solche Bürger mit den edelsten Motiven manchmal, frei nach Goethe, zu einem Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Schlechte schafft. Zu den schlechten, sicher von keinem Liberalen gewünschten Nebenwirkungen zählen inzwischen die drastische Verschärfung einer einst großzügigen Asylpolitik sogar in einem Land wie Schweden, sowie die Gefahr, daß der Schengen-Raum zerstückelt wird. Ein weiterer unerwünschter Effekt entwickelt sich, wenn die hohe Zahl der unterzubringenden Flüchtlinge zu einem Zusammenbruch der eigentlich gewünschten Willkommenskultur in der Praxis führt. Von einem solchen Zusammenbruch muß man wohl sprechen, wenn selbst Grünen-Wähler aus Friedrichshain-Kreuzberg keine Flüchtlingsunterkunft auf ihrer Tempelhofer Spielwiese dulden wollen.
Not in my backyard?
Es ist heute völlig offen, ob man den Knoten auf der europäischen Ebene noch durchschlagen kann, aber zumindest gegen die „Not in my backyard“-Attitüde im kleinteiligen kommunalpolitischen Alltag könnte man etwas tun. Ein wesentliches Problem ist, daß die entsprechenden Verfahren so ablaufen, wie man sich das in Deutschland klischeehaft vorstellt, nämlich strikt hierarchisch und preußisch-autoritär. Zwar finden oft Konsultationen etwa in Bürgerversammlungen statt, jedoch dienen diese als Informationsveranstaltung und als Ventil für die Bürger, einmal ihren Unmut abzulassen. Ein substantielles Mitspracherecht haben die Bürger dagegen nicht.
Diese eher autoritäre Herangehensweise provoziert Widerstand bei denen, die erwarten, daß sie im Alltag die Kosten solcher Entscheidungen zu tragen haben, etwa in Form von verlorenen Grünflächen, sinkenden Immobilienpreisen oder einfach weniger Ruhe. Nun kann man sich natürlich auch über solche Bedenken autoritär hinwegsetzen. Aber hier geht es um die Ansiedlung von Menschen, und ob es der Integration förderlich ist, Flüchtlinge in einer von vornherein ablehnend gestimmten Umgebung unterzubringen, kann bezweifelt werden.
Der erste ökonomische Reflex zur Lösung des NIMBY-Problems besteht dann stets im Vorschlag, die privaten Haushalte einfach individuell für ihre erwarteten Verluste zu kompensieren und die Planungen so für sie konsensfähig zu machen. Wie eine bereits vor zwanzig Jahren veröffentlichte und immer noch relevante Studie von Bruno Frey, Felix Oberholzer und Reiner Eichenberger zeigte, funktioniert das aber nicht wirklich gut wenn die Zeit drängt und man längerfristige psychologische Anpassungsmechanismen der Bevölkerung nicht abwarten kann. Denn kurzfristig werden solche Kompensationsangebote oft als eine Art Bestechungsversuch mißverstanden, die den eigenen moralischen Prinzipien zuwider laufen und daher die Ablehnung sogar noch steigern.
Gerade in den Regionen, in denen eigentlich eine grundsätzliche Befürwortung einer großzügigen Flüchtlingspolitik überwiegt und nur lokale NIMBY-Probleme zu bewältigen sind, wäre es daher sinnvoll, weder auf monetäre Kompensation noch auf autoritäre Verordnung zu setzen, sondern die Bürger bei ihrem Sinn für ihre gesellschaftliche Verantwortung zu packen. So könnte beispielsweise die Landespolitik den Kommunen Angebote machen, die Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen mit einem regional verbesserten Angebot öffentlicher Güter, etwa Investitionen in lokale Infrastruktur oder Schulen, zu verbinden. Regionen die in der Ansiedlung einer relativ hohen Zahl von Flüchtlingen einen Ansatz zur Lösung ihres demographischen Problems sehen, könnten mit zusätzlichen Mitteln für besonders intensive Integrationsprogramme versorgt werden. Der politischen Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, solange es darum geht, Verordnung durch Freiwilligkeit zu ersetzen und Kompensationen geschickt so zu gestalten, daß nicht plumpe monetäre Anreize das schon vorhandene bürgerliche Verantwortungsgefühl verdrängen.
Es ist vollkommen verständlich, daß die meisten Landesregierungen angesichts der im Spätsommer einsetzenden Flüchtlingsströme zunächst andere Sorgen hatten, als sich über den Verteilungsschlüssel Gedanken zu machen, der in der Regel Flüchtlinge nach Einwohnerzahl und Fläche auf die Kommunen verteilt. Aber das ist eben doch ein sehr kruder Allokationsmechanismus. Es wäre sinnvoll, ihn zunehmend durch positive Anreizsysteme zu ersetzen, die es für die Kommunen selbst interessanter machen, sich als Unterbringungsort ins Spiel zu bringen.
Schlußfolgerungen
Zum Schluß kann man noch einmal auf die Ebene der großen Politik zurückkommen. Es ist kaum zu bestreiten, daß man bei einer Fortschreibung der aktuellen Zahlen unter der deutschen Bevölkerung sehr bald an die Grenze der Akzeptanz für die Aufnahme neuer Flüchtlinge kommen wird. Andererseits hat zweifellos auch die Bundeskanzlerin Recht, wenn sie darauf hinweist, daß bezogen auf Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft der gesamten Europäischen Union die aktuellen Flüchtlingsströme ohne große Verwerfungen handhabbar wären. Nur wie kommt man zu einer europäischen Lösung?
Man hat das Gefühl, daß viele deutsche Vertreter bis hin zum Präsidenten des Europäischen Parlamentes derzeit mit stramm sitzender Pickelhaube Politik machen und beispielsweise den osteuropäischen EU-Mitgliedern vor allem als drohende Oberlehrer begegnen. So erreichen sie allerdings natürlich überhaupt nichts in einer Frage, in der es nicht um die Durchsetzung bestehender Vereinbarungen, sondern um das Ausloten neuer Kooperationsmöglichkeiten geht.
Es ist schwer vorstellbar, daß es bei den vielen Dimensionen, welche die europäische Politik hat, gar keine Möglichkeit gibt, übergreifende Kompromisspakete unter Einbeziehung auch ganz anderer politischer Themen zu schnüren und so Lösungen zu finden, die für alle tragbar waren. Das war die Methode Kohl. Sie war, gerade für Deutschland, nicht immer billig, doch sie funktionierte besser als alles, was wir heute sehen.
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Und die prägnanteste Frage ist: wie würden die Herrschaften in der Politik fühlen und agieren wenn sie in derselben Situation wären ? Was würden sie machen wenn sie keine Perspektive hätten ? Würden sie es wollen wie eine Nummer von Stelle zu Stelle geschickt zu werden ?
Sie haben keine Ahnung und werden sich, wenn die Scheisse so richtig am dampfen ist, ihrer Verantwortung entziehen. Was hat das noch mit Menschenrechten zu tun ?