Deutschland ist ein verdammt starkes Land, verkündet der Superminister Gabriel. Mit ungebrochener wirtschaftlicher Dynamik stemmen sich die Deutschen gegen die europäische Wirtschaftskrise. Der Jahreswirtschaftsbericht berichtet für Deutschland 1,7% reales Wachstum für das Jahr 2016. Die Beschäftigung liegt auf einem historischen Hoch. Die Steuereinnahmen sprudeln: 672 Milliarden Euro haben Bund, Länder und Gemeinden 2015 eingenommen. So viel wie nie zuvor!
Der historische Rekord finanziert Notwendigkeiten und weckt Begehrlichkeiten: Mütterrente, Rente mit 63, mehr Familienförderung, Streckensanierung bei der Bahn, eine besser ausgerüstete Bundeswehr, ein Bauprogramm für den sozialen Wohnungsbau und die Kosten für die Integration eines überwältigenden Flüchtlingsstroms. Alles kein Problem! Die Gelder fließen. Der Schwabe Schäuble glänzt trotz Flüchtlingskrise mit schwarzer Null und Wirtschaftswunder!
Wer wissen will, ob dies so bleiben wird, muss sich Gedanken über die Bestimmungsgründe des Steuerwunders machen. Derer gibt es mindestens zwei: Reformen und billiges Geld. Da ist zum einen die sich zwischen 1995 und 2008 hinziehende Zurückhaltung bei den Lohnverhandlungen. Diese hat – unterstützt von der Agenda 2010 – ein Beschäftigungswunder bewirkt, da im Vergleich zum Ausland das deutsche Lohnniveau deutlich gesunken ist. Nie seit der Wiedervereinigung war die Anzahl der Beschäftigten in Deutschland so hoch und die Anzahl der Arbeitslosen so gering. Wer arbeitet kann auch Steuern zahlen und bezieht keine Stütze. Der Finanzminister freut sich.
Und dann hilft noch Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Dieser hält auch acht Jahre nach Ausbruch der europäischen Finanz- und Schuldenkrise den Leitzins nahe Null. Mit immer großzügigeren Ankäufen von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren treibt er das Bilanzvolumen der Europäischen Zentralbank nach oben. Die immer noch desolate Lage im Süden der Europäischen Währungsunion scheint diese Politik notwendig zu machen. Das nützt dem deutschen Finanzminister. Auf der Ausgabenseite sinken bei gleichbleibendem Schuldenstand die Zinslasten. So manche neu emittierte Staatsanleihe verzinst sich sogar negativ. Seit 2008 haben die öffentlichen Haushalte nach Berechnungen der Bundesbank 193 Milliarden Euro gespart. Der so geschaffene Ausgabenfreiraum kann andere Verwendung finden.
Auf der Einnahmenseite macht die sehr expansive Geldpolitik der EZB den Finanzminister (und die der Länder) u.a. über zwei Kanäle glücklich. Zum einen flüchtet der deutsche Sparer in Sachwerte, insbesondere Betongold. Da Einlagen auf deutschen Sparkonten ebenso wie die Staatsanleihen weitgehend unverzinst bleiben, sieht der schwäbische Sparer die Immobilie als letzte sichere Anlagemöglichkeit. In Ballungszentren mit positiver erwarteter Bevölkerungsentwicklung schießen die Preise nach oben. Der Staat profitiert über (dazu noch steigende) Grunderwerbsteuern, eine wachsende Nachfrage nach Baustoffen (Mehrwertsteuer) und Bauarbeitern (Lohnsteuer). Allein die Einnahmen aus der Grunderwerbssteuer haben sich innerhalb von fünf Jahren auf 10 Milliarden verdoppelt.
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Zum anderen hilft der Wechselkurs. Mit jeder zusätzlichen Staatsanleihe, die die EZB aufkauft, wird der Euro geschwächt. Dies beflügelt den ohnehin robusten deutschen Export weiter. Gute Qualität deutscher Produkte kombiniert mit mäßigen Löhnen und dem billigen Euro treiben das Geschäft. Der deutsche Exportüberschuss lag 2015 bei knapp 260 Milliarden Euro und blieb damit ein zentraler Beschäftigungsmotor. Mehr Beschäftigung und robuster Konsum spülen über die Einkommens- und Mehrwertsteuer Geld in die öffentlichen Kassen.
Wird sich das so fortsetzen? Die Antwort auf diese Frage hängt stark davon ab, wie sehr die Haushaltslage in Deutschland von der derzeit sehr expansiven Geldpolitik getrieben wird. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Länder, in denen sich spekulative Blasen – z.B. auf dem Immobilienmarkt – entwickelt haben, von unerwartet hohen Steuereinnahmen profitierten. In Spanien (und anderen Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion) explodierten beispielsweise seit 2001 die Steuereinnahmen, als sich getragen von starken Zinssenkungen der EZB und wachsenden Kapitalzuflüssen ein beispielloser Immobilienboom entfaltete (siehe Abbildung).
Der immense Anstieg der Staatseinnahmen wurde meist von einem fast ebenso starken Anstieg der Staatsausgaben begleitet. Bei sprudelnden Steuern ist die Versuchung zu Mehrausgaben groß. Eine Ausgabenzurückhaltung ist politisch zu schwer durchzusetzen, wie Deutschland derzeit zeigt. Die Übertreibungen auf den Finanzmärkten werden damit durch die wachsenden Staatsausgaben aber noch verstärkt. Im Gegensatz zu Finanzminister Schäuble erwirtschafteten die spanischen Finanzminister Montoro und Solbes im Boom sogar Haushaltsüberschüsse (siehe Abbildung). Diese ließen im Lichte der Maastricht-Kriterien Spanien als finanzpolitisches Musterland erscheinen. Spanien erlebte finanzpolitische Flitterwochen!
Dort und vielen anderen Staaten, die zwischen 2001 und 2007 vom billigem Geld der Zentralbanken getriebene Boom-Phasen erlebt haben – z.B. USA, Irland, Island, Griechenland und die baltischen Staaten – waren die von Spekulation getriebenen Steuereinnahmen aber nicht nachhaltig. Sie lösten zusätzliche Ausgabenabenteuer des Staates aus, die mittelfristig keine ausreichende Finanzierungsgrundlage mehr hatten. Sobald die Blasen platzten, brachen die Steuereinnahmen weg (siehe Abbildung). Die Ausgabenverpflichtungen blieben. Und es kamen in der Krise neue finanzielle Verpflichtungen hinzu: z.B. für die Rekapitalisierung maroder Banken und die Alimentierung vieler Arbeitsloser. Die einschneidenden Folgen für den öffentlichen Schuldenstand (und damit auch für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank) sind bekannt.
Selbst Bundebankpräsident Weidmann lässt wenig Zweifel, dass die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank für Deutschland derzeit zu expansiv ist. Die Entwicklungen auf den Immobilienmärkten der Ballungszentren und bei den Exporten deuten darauf hin. Nun scheint Schäuble in den finanzpolitischen Flitterwochen. Doch das rosa Umfeld wird nicht für immer anhalten. Es droht – wie in vielen Ehen – Ernüchterung. Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass eines Tages der süße Boom bei Immobilien und dem Export ein Ende finden wird. Dann werden die jetzt eingegangen finanziellen Verpflichtungen auf den Prüfstand gestellt. Von diesem Tag an werden entweder die stolze Schuldenbremse oder die Großzügigkeit des deutschen Sozialstaates unter Druck geraten.
Literatur:
Gunther Schnabl: Monetary Policy Reform in a World of Central Banks. In White, Lawrence / Vanberg, Viktor / Köhler, Ekkehard (eds.): Renewing the Search for a Monetary Constitution: Reforming Government’s Role in the Monetary System, Cato Institute, Washington DC 2015, 165-186.