Europas Ursprung
So paradox es klingen mag: Europas Ursprung liegt in Asien – jedenfalls, wenn man auf die Sage der griechischen Mythologie rekurriert: Danach wurde bekanntlich das Mädchen Europa, eine bildhübsche phönizische Königstochter, vom Götterfürsten Zeus, der sich in einen strahlenden und gut riechenden Stier verwandelt hatte, von den Gestaden des heutigen Libanon nach Kreta, der ältesten Hochkultur auf europäischem Boden, entführt. Dort hatten sie drei Söhne miteinander, von denen zweien zuerkannt wurde, dass sie die gerechtesten Menschen auf der Welt wären. Sie führten auf Kreta, also auf europäischem Boden, Recht und Gesetz ein (und wurden im Übrigen deshalb zu Richtern im Totenreich erhoben). Manche Europarechtler leiten von diesem mythischen Ereignis ausgehend die Herrschaft des Rechts als den Kern des „Modells Europa“ ab, also der Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union. Der phönizische Name „Europa“ bedeutete bekanntlich „Sonnenuntergang“, das Abendland also.
Von der Mythologie zur Gegenwart: Geht im heutigen Europa der EU die Sonne unter? Stehen wir vor dem Zerfall der EU, weil sie sich von der Idee einer Rechtsgemeinschaft aufgrund der zunehmenden signifikanten Rechtsverletzungen entfernt, die sich mit der Erweiterungs- und Vertiefungsphilosophie der politischen Agenten verbinden und mit dem weithin Recht verletzenden Management der Euro-Krise, der Schuldenkrise und neuerdings auch der Flüchtlingskrise einhergehen –  ganz zu schweigen von den desaströsen geldpolitischen Kompetenzüberschreitungen, die sich die EZB als mächtiges EU-Organ sanktionslos erlaubt?
In dieser unübersichtlichen Gemengelage steht Großbritannien vor dem Referendum am 23. Juni, in dem die Briten über Verbleib oder Austritt aus der EU entscheiden. Referenden sind immer psychologiegetränkt. Die spezielle europarelevante Psychologie der Briten, die ja auf einer Insel außerhalb Kontinentaleuropas leben („Offshore Europeans“), verbietet eine eindeutige Voraussage des Ergebnisses, aber sie hat einen bias, der sich in den letzten sieben Jahrzehnten der Nachkriegszeit wie ein roter Faden durch die europäische Integrationsdiskussion zog.
Winston Churchill vor 70 Jahren
Es ist genau 70 Jahre her, dass der britische Premierminister Winston Churchill in seiner berühmten Rede von 1946 an der ETH Zürich die Forderung erhob, dass nach allem Elend, das die europäische Kriegshistorie in Europa hinterlassen hatte, nun endlich die Zeit für die Konzipierung einer europäischen Friedensordnung gekommen wäre, die Zeit für die Schaffung eines Integrationsraumes im Kontinentaleuropa unter der Headline „The United States of Europe“. Es war die Zeit einer neuen zukunftsgestaltenden Integrationseuphorie, wie sie ähnlich auch schon in den zwanziger Jahren von Graf Coudenhove-Kalergi mit der visionären Idee eines Pan-Europa entwickelt wurde: Eines ganzheitlichen Europas des Friedens und der Freiheit. Es war übrigens auch die Zeit, in der Friedrich August von Hayek 1947 die Mont Pèlerin Society gründete, eine internationale Vereinigung von liberalen Wissenschaftlern, Historikern, Politikern, Philosophen, Publizisten und Unternehmern, mit dem Ziel, eine neue Welt der Freiheit zu denken und zu gestalten.
Winston Churchills Rede passte zu dieser Ideenwelt einer Neukonzeption für Europa. Churchill war aber weit davon entfernt, Großbritannien mit einzubeziehen, denn Europa war für ihn allein das Kontinentaleuropa ohne die Insel. Die prinzipielle kontinentaleuropa-averse Integrationsphilosophie Churchills verschwand keineswegs mit dem EG-Beitritt Großbritanniens im Jahre 1973. Und das hatte seine guten Gründe, die bis heute noch gelten: Die zunehmende politische Regulierung durch Zentralisierung in der Integrationsphilosophie der EU, angeführt durch Frankreich unter heftig sympathisierender Unterstützung von Deutschland, entspricht nicht dem angelsächsischen Integrationsdenken, das traditionell von Subsidiarität, Dezentralität und Marktwirtschaft geprägt ist. Die Briten können dieses Denken sehr überzeugend rational begründen, was im Übrigen der EU als Gegenpol zur französisch-deutschen Zentralisierungs-Entente gut bekommen ist. Nicht umsonst stammten Adam Smith und David Hume ja auch von der Insel. Wichtig zudem erscheint es aber zu erkennen, dass zentralisierte Dominanz von außerhalb der Insel, also durch die Brüsseler Zentrale oder gar durch Deutschland, bei den Briten weitverbreitet als absurd, weil unerträglich, angesehen wird. Schließlich hätten es die Briten ja geschafft, dass über die Jahrhunderte ihrer Geschichte niemand ihre Insel okkupieren und deren Bewohner fremdbestimmen konnte. Dies kennzeichnet die Psychologie der britischen Insellage in besonderer Weise als eine Art „angeborener Überlegenheit“.
Die Psychologie der Insellage
Der britische Historiker Keith Lowe stellt fest, dass die Briten nur dann ins Ausland schauten, wenn sie eine Reflexion ihrer selbst sehen möchten: Briten definierten sich zuvorderst über das, was sie von anderen unterscheide. Es gebe eine kollektive Ignoranz in Bezug auf die europäische Geschichte außerhalb der eigenen. Deutschland spiele in ihr nur insofern eine Rolle, als Großbritannien in zwei Weltkriegen gegen Deutschland gekämpft und gewonnen habe. In der Nachkriegsgeschichte wird Deutschland als wirtschaftlich mächtigster Staat der EU anerkannt, aber zugleich wegen seiner dominanten Stellung in der EU kritisiert. Werde über die Dominanz der EU geklagt, ziele diese Klage dabei auch zentral auf das eher Frankreich und der EU-Kommission zugeneigte Deutschland.
Eine solche Kollektivpsychologie der Briten findet sich verständlicherweise nicht in den zumeist von Ökonomen und Politologen innerhalb und außerhalb Großbritanniens angefertigten rational-ökonomischen Kosten-Nutzenanalysen eines Austritts oder Verbleibs Großbritanniens in der EU. Für viele, vielleicht sogar die meisten Wähler überwölbt die emotionale Psychologie die ökonomische Rationalität. Man mag es glauben, dass die deutsche Bundeskanzlerin einen Verbleib Großbritanniens in der EU befürwortet und dementsprechend David Cameron in seiner Pro-Kampagne unterstützt, nicht zuletzt um die französische zentralistisch-affine Umgarnung zu relativieren. Aber, so konstatiert der Brite Keith Lowe, es gibt wohl nichts, was Angela Merkel tatsächlich tun könnte, um auf die britische Kollektivmeinung Einfluss zu nehmen. Sich von Deutschland beeinflussen lassen? Allein die Vorstellung sei absurd.
Wenn dem so ist, dann hat Deutschland in der EU in der Vergangenheit viele grundfalschen integrationsstrategischen Weichen gestellt. Diese Feststellung ist nicht neu, sie ist von vielen Integrationstheoretikern immer wieder artikuliert worden. Denn sollte Großbritannien tatsächlich die Exit-Option wählen, näherte sich „Europa“, seinem Namen entsprechend, dem „Sonnenuntergang“ an. Und der Bogen zu Winston Churchills Integrationsvision mit Großbritannien außerhalb eines kontinentaleuropäischen Zentralismus´ wäre über die Entwicklung in den vergangenen 70 Jahren wieder geschlossen. Aber Europa würde ärmer.
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5 Antworten auf „Brexit: Von der Psychologie der Insellage“