„Ich glaube nicht an den Fortschritt, sondern an die Beharrlichkeit der menschlichen Dummheit.“ (Oscar Wilde)
Die Briten wollen raus aus der EU. Das ist ihr gutes Recht. Wie reagiert die Rest-EU? Das politische Europa ist geschockt. Die EU-Kommission ist wütend. Trotzig fordert sie den Austritt, sofort. Alle haben sie keinen Plan B. Der Brexit hat sie kalt erwischt. Die EU lebt in einer längst versunkenen, wirtschaftlich und politisch homogeneren Welt. Ihre Integrationsstrategie „Erweitern und Vertiefen“ geht schon lange nicht mehr auf. Die Bürger sind immer weniger bereit, auf nationale Souveränität zu verzichten. Auch Europas Werte differieren. Das hat die Flüchtlingskrise gezeigt. Die Risse quer durch die EU sind nicht mehr zu übersehen. Der Euro, die Flüchtlinge, die Regionen, alle spalten Europa. Die Interessen werden heterogener. Der EU-Kommission fällt nichts Besseres ein, als darauf zentralistisch zu reagieren. Kein Wunder, dass sich die Bürger veralbert vorkommen.
Zentralistische Integration ist gescheitert
Das Integrationskonzept der EU liegt in Trümmern. Offenere Märkte und technischer Fortschritt haben Europa ökonomisch vorangebracht. Allerdings sind die Länder auch wirtschaftlich und politisch heterogener geworden. Ihre nationalen Interessen stoßen sich heftiger. Das gilt nicht erst seit heute. Mehrere Runden der Erweiterung haben die EU aber weiter differenziert. Mit steigendem Wohlstand wurden auch die (wirtschafts-)politischen Präferenzen vielfältiger. Das trifft nicht nur für die Länder in der EU zu, es gilt auch für die Regionen. Die differierenden ordnungspolitischen Grundüberzeugungen wurden mit jeder Erweiterung noch heterogener. Von dem „einen“ Wirtschafts- und Sozialmodell für ganz Europa kann keine Rede mehr sein. Es macht deshalb keinen Sinn, alle Länder integrationspolitisch über einen Kamm zu scheren. Länder und Regionen wollen mehr Eigenständigkeit und weniger Zentralisierung.
Vielfältige Interessenkonflikte spalten die EU (hier). In der EWU verläuft der sichtbare Riss zwischen „Nord“ und Süd“. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das erste Land austritt. Das muss nicht Griechenland sein. Viel wahrscheinlicher macht ein kleines, reiches (Zahler-)Land den ersten Schritt. Im Schengen-Raum sind sich „Ost“ und „West“ in der Flüchtlingsfrage nicht einig. Gemeinsame Werte hin, gemeinsame Werte her, es gibt „willige“ Zahler und „unwillige“ Trittbrettfahrer. Vom deutschen „moralischen Imperialismus“ der Bundeskanzlerin halten die meisten nichts. Der Brexit ist möglicherweise erst der Anfang des Austritts von Mitgliedern aus der EU. Ändert die EU ihre Integrationsstrategie nicht von Grund auf, droht ein Domino-Effekt. Schließlich gehen seit langem Risse durch die Länder. Die Regionen sind oft am Gängelband ihres Nationalstaates. Sie drängen auf mehr Eigenständigkeit, einige wollen sogar einen eigenen Staat.
Ein Europa der institutionellen Vielfalt
Gelingt es der EU nicht, die Risse zu kitten, wird sie zerbröseln. Der Brexit ist das Zeichen an der Wand. Die EU-Kommission muss ihre integrationspolitische Strategie von Grund auf ändern. Im Mittelpunkt muss wieder die gelebte Vielfalt nicht die verordnete Einheit stehen. Der Prozess der Zentralisierung muss gestoppt werden, das Prinzip der Subsidiarität in dem Mittelpunkt rücken. Der „Europäische Sozialstaat“ ist ein Fata Morgana der Brüsseler Bürokraten. Er gehört ins Museum der Ideengeschichte der Europäischen Integration. Viele Kompetenzen, die sich Brüssel im Laufe der Jahre unter den Nagel gerissen hat, müssen wieder auf die nationale, besser noch auf die regionale Ebene zurückkehren. Die EU muss endlich klar entscheiden, wie die Kompetenzen vertikal verteilt werden (hier). So kann in Europa die Idee des wettbewerblichen Föderalismus wiederbelebt werden. Das hilft auch gegen Abspaltungen von Länder und Regionen.
Noch etwas muss sich ändern: Verträge müssen wieder eingehalten werden. In den jüngsten Krisen hat sich die europäische Politik einen Dreck um geschlossene Verträge geschert (hier). Maastricht, Dublin und Schengen wurden schnell Makulatur. So zerstört man das Vertrauen der Bürger in Rechtsstaatlichkeit und europäische Institutionen. Die Anreize für die Akteure werden pervertiert. Das Unkraut des „moral hazard“ wuchert. In der EWU fördert die Haftungsgemeinschaft nationale Verantwortungslosigkeit. Staatliche Haushalte werden nicht konsolidiert, strukturelle Reformen nicht angepackt. Der umstandslose Bruch der Verträge von Dublin hat Trittbrettfahrerverhalten gefördert. Nur einige wenige Länder in der EU waren bereit, die Lasten der massenhaften Flüchtlingsströme zu tragen. Die notwendige Grenzschließung hat die Personenfreizügigkeit eingeschränkt, einen Grundpfeiler des Binnenmarktes. So zerstört man die EU.
Kampf gegen Abstiegsängste
Das Fass zum Überlaufen gebracht hat in Großbritannien die massenhafte Migration. Immer mehr Menschen haben Angst, wirtschaftlich und sozial abgehängt zu werden. Es stimmt ja, offene Märkte und technischer Fortschritt meinen es mit einfacher Arbeit in reichen Ländern nicht gut. Die Löhne gering Qualifizierter stagnieren, ihre Beschäftigung sinkt. Auch Einkommen und Vermögen verteilen sich ungleicher in den Ländern. Diese Entwicklung trifft vor allem wenig qualifizierte Arbeitnehmer im schrumpfenden industriellen Sektor. Die erhebliche Zuwanderung verstärkt die Stagnation der Arbeitseinkommen noch. Es entsteht ein Druck auf Löhne und Beschäftigung. Auch die (untere) Mittelschicht hat immer öfter Angst, von dem Abwärtssog erfasst zu werden. Für diese Megatrends ist allerdings schwerlich die EU verantwortlich zu machen. Es handelt sich um eine weltweite Entwicklung. In die Kritik gerät Brüssel aber wegen der Personenfreizügigkeit in der EU.
Die demagogischen Populisten von links und rechts leben von dieser unbefriedigenden Entwicklung. Eine Lösung ist dringend notwendig, soll die EU nicht zerbrechen. Drei Möglichkeiten bieten sich an: 1) Verstärkte Investitionen in das Humankapital. Das erhöht die Aufstiegschancen aller, auch bildungsfernerer Schichten. 2) Staatliche Zuschüsse zu den Einkommen für einfache Arbeit. Der amerikanische EITC (hier) könnte ein Vorbild für Europa sein. 3) Eine stärkere Öffnung der Dienstleistungsmärkte in Europa. Von globalisierungsresistenteren personenbezogenen Dienstleistungen profitiert auch einfache Arbeit. Alle diese Alternativen sind allemal besser als „Arbeitsverkehrskontrollen“. Die Personenfreizügigkeit ist ein wichtiger Treiber wirtschaftlichen Wohlstandes. Protektionismus auf Arbeitsmärkten läuft Gefahr, weitere Eingriffe im Handel mit Gütern und Diensten nach sich zu ziehen. Die Büchse der Pandora wäre geöffnet.
„Europa à la carte“
Der 23. Juni 2016 war ein Waterloo für die zentralistische Strategie der europäischen Integration und ihrer Bürokraten in Brüssel. In einem wirtschaftlich und politisch heterogenen Europa ist es verfehlt, alle über einen Kamm zu scheren. Da waren Wolfgang Schäuble und Karl Lamers schon Mitte der 90er weiter. Heute reicht aber selbst eine Strategie der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ nicht mehr. Die Mitglieder der EU verfolgen unterschiedliche Ziele. Sie wollen nicht überall dabei sein. Die Zukunft gehört einem „Europa à la carte“. Es gibt viele Sub-Clubs mit verschiedenen Mitgliedern. Wer die Regeln dieser Clubs nicht einhält, muss sie verlassen. So weit ist allerdings die „Priesterkaste der EU-Kommission“ (Amrose Evans-Pritchard) noch nicht. In einer ihrer ersten Verlautbarungen nach dem Brexit pochte sie darauf, das Tempo hin zu einer Politischen Union zu forcieren. Jean-Claude Juncker will auch den Euro für alle EU-Länder verbindlich einführen. Sie haben nichts verstanden.
Beiträge zum Brexit:
Tim Krieger: Brexit: Englands und Europas Verteilungskonflikte bleiben ungelöst
Jan Schnellenbach: Brexit it is. On the rationality of referenda
Dieter Smeets und Markus Penatzer: Brexit or no Brexit – das ist hier die Frage!
Norbert Berthold: Die Risse in der EU werden größer. Euro, Flüchtlinge, Sezessionen und Brexit
Wolf Schäfer: Brexit: Von der Psychologie der Insellage
Renate Ohr: Quo vadis Europa? Zu den Folgen eines Brexit für die EU
- Pakt für Industrie
Korporatismus oder Angebotspolitik? - 27. Oktober 2024 - De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
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Nicht nur ein Waterloo der Zentralisten sondern zugleich auch ein Waterloo der Herren Schäuble und Schuknecht.
Dieser Meinung ist vermutlich auch Carl Christian von Weizsäcker, der in einem beachtenswerten Aufsatz zu Beginn die entscheidende Frage stellt: „Oder befinden wir uns in einer Krise des Kapitalismus-Verständnisses?“
Die Antwort hierauf gibt er selber am Ende seines exzellenten Aufsatzes: „Und es geht insgesamt nicht so sehr um eine Krise des Kapitalismus, sondern um eine Verirrung der „schwäbischen Hausfrau“. Die Übertragung ihres löblichen Sparwillens auf die öffentliche Hand ist heutzutage ein Fehler. Das Duo „Demokratie & Kapitalismus“ kann sich aus seinem globalen Fieberzustand lösen, wenn es den richtigen Umgang mit der Staatsschuld als Antwort auf den Sparüberhang lernt.“
Von Weizsäcker ist einer der wenigen deutschen Kapitalmarkexperten mit internationalem Renommee. Da sollte keiner reflexartig urteilen; insbesondere deshalb nicht, weil er sich der Argumentation der Österreichischen Schule bedient: https://zinsfehler.wordpress.com/2016/06/22/kapitalismus-in-der-krise/
LG Michael Stöcker