Die frechen Abgasmanipulationen von VW waren ein Ärgernis, das durch die Reaktion der deutschen Politik nur noch schlimmer geworden ist. Während amerikanische VW-Fahrer Gutscheine, Reparaturen und eine Entschädigung erhalten werden, dürfen sich die deutschen Kunden des Konzerns über den Einbau eines Plastikrohrs in ihren Volkswagen freuen, das angeblich alle Probleme löst. Minister Dobrindt ist als aufklärender Tiger gesprungen und als subventionsverteilender Bettvorleger gelandet. Überraschen kann das nicht, denn Verbraucherinteressen spielen in Deutschland immer dann eine untergeordnete Rolle, wenn es um das Wohl der Automobilindustrie geht. Umso mehr überrascht es, mit welcher Vehemenz sich die Deutschen, darunter viele geprellte VW-Fahrer, gegen den Ansatz zur Produkthaftung wehren, der von amerikanischer Seite in den TTIP-Verhandlungen propagiert wird.
In der aktuellen Debatte über die geleakten TTIP-Papiere wird das europäische Vorsorgeprinzip gegen das in der Diskussion als Wissenschaftsprinzip bezeichnete amerikanische Verständnis von Produkthaftung in Stellung gebracht, ohne dass jedoch erklärt würde, dass sich beide verbraucherpolitischen Prinzipien aus jeweils berechtigten Begründungslogiken herleiten und mit zwei sehr unterschiedlichen Rechtstraditionen einhergehen.
Das Vorsorgeprinzip (Precautionary Principle) besagt vereinfacht, dass die Hersteller zunächst die Unbedenklichkeit ihres Produktes belegen müssen, um eine Genehmigung für dessen Produktion und Vertrieb zu erhalten. Es findet also eine Vorabkontrolle durch eine Regulierungsbehörde statt. Je nachdem, wie genau diese Behörde vorab kontrolliert, kommen potenziell gefährliche Produkte – frei nach dem Motto: „Vorsicht ist besser als Nachsicht“ – gar nicht erst auf den Markt. Schaut allerdings eine Behörde wie das dem Bundesverkehrsministerium unterstellte Kraftfahrtbundesamt nur mit halbem Auge hin, weil eine präzise Prognose über die Folgewirkungen einer Produkteinführung nicht möglich ist oder weil es politisch nicht opportun erscheint, dann können durchaus auch gefährliche oder umweltbelastende Produkte auf den Markt kommen und dort mit amtlichem Segen bleiben. Es bedürfte dann einer Nachjustierung der Regulierungsmaßnahme durch eine höhere Stelle. Dazu allerdings müsste diese Stelle, etwa ein Minister Dobrindt, den politischen Willen und die Kraft haben.
Vergleicht man diese Situation mit der amerikanischen Praxis, dann ist zunächst festzustellen, dass es auch in den USA für ausgewählte, besonders sensible Güterklassen eine Zulassungspraxis auf Basis eines streng ausgelegten Vorsorgeprinzips gibt (etwa für Medizinprodukte der Klasse III wie Herzklappen, für die ein Premarket Approval durch die U.S. Food and Drug Administration nötig ist). Für alle anderen Produkte gilt dagegen, dass sie in der Regel ohne besondere Vorabkontrollen angeboten werden dürfen. Erst wenn sich die Schädlichkeit des Produkts wissenschaftlich belegen lässt (daher Wissenschaftsprinzip), kommt es im Nachhinein zu regulierenden Maßnahmen oder sogar Verboten.
Die deutsche bzw. europäische Debatte endet üblicherweise an diesem Punkt mit einem völligen Unverständnis über das nachträgliche Vorgehen der Amerikaner. Es wird davon ausgegangen, dass bereits sehr viele Menschen geschädigt worden sind, ehe es – wenn überhaupt – zu einem Verbot kommt. Diese Sichtweise ignoriert allerdings einen zentralen Aspekt des amerikanischen Rechtssystems: die exorbitante Höhe möglicher Schadensersatzzahlungen. Ein seriös kalkulierendes Unternehmen ist sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass im Falle eines fehlerhaften Produkts massive Schadensersatzzahlungen sowie Zahlungen für Gerichts- und Anwaltskosten in enormer Höhe zu leisten sind. Diese können dem Unternehmen massiv schaden und sogar dessen Existenz gefährden, sodass sie aus unternehmerischem Eigeninteresse bereits vorab durch sorgfältige Produkttests und hohe Sicherheitsstandards möglichst ausgeschlossen werden sollten. Die rechtsökonomische Literatur spricht in diesem Zusammenhang – treffender – von einem Economic Incentive Precautionary Principle, da in einem rechtlich abgesicherten Ordnungsrahmen mit scharfen Sanktionen den Unternehmen sehr starke ökonomische Anreize zur Vorsorge und Sorgfalt innerhalb des Marktmechanismus gesetzt werden. Dieser institutionelle Rahmen wird durch durchsetzungsstarke Regulierungs- und Kontrollinstanzen des Staates sowie durch mit rechtsgestaltenden Kompetenzen ausgestattete Richter in Schadensersatzprozessen und hochprofessionalisierte Anwaltskanzleien gestärkt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass ein Missbrauch natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, etwa wenn die unternehmerische Tätigkeit nicht auf Dauer angelegt ist, sondern auf die Übervorteilung von Kunden abzielt.
Die beiden Prinzipien haben damit Vor- und Nachteile, die gegeneinander abgewogen werden müssen, anstatt die amerikanischen Haftungsprinzipien pauschal zu verurteilen. Das amerikanische System ist zweifellos marktfreundlicher, da es die Verantwortung des einzelnen Unternehmens betont, innovationsfördernde Trial-and-Error-Prozesse unterstützt und dennoch starke Anreize zu einem verbraucherfreundlichen Verhalten setzt. Zugleich wirkt der Verbraucher dabei aber gelegentlich wie ein Versuchskaninchen, das im schlimmsten Fall bedingungslos der reinen Profitgier schwarzer Schafe unter den Unternehmern ausgesetzt wird.
Europas Haftungsregeln sind darauf ausgerichtet, genau diese Problematik schon frühzeitig zu verhindern. Sie schaffen darüber hinaus längerfristige Rechtssicherheit auch in sich wandelnden Umgebungen. Dafür verursachen die europäischen Regeln hohe Anfangskosten bei der Produkteinführung und sie leiten sich vornehmlich aus vergangenen Erfahrungen ab, wodurch sie wenig innovationsfördernd sind. Hinzu kommt, dass sie starke Anreize zur Orientierung am Zeitgeist, zum Lobbyismus und – im schlimmsten Fall – zur Korruption setzen. Nicht der klare wissenschaftliche Nachweis einer kausalen Gefährdung alleine kann zu Verboten führen, sondern auch der politische Regulierungswille. Dies ist ein Einfallstor für opportunistisches Verhalten der Politiker, die lediglich jene häufig sehr abstrakten Risiken adressieren, die von der Öffentlichkeit als besonders beängstigend empfunden werden. Dies trägt zwar einem oberflächlichen Verständnis von Demokratie Rechnung, entspricht jedoch nicht einer rationalen und auf Expertenwissen basierten Auseinandersetzung mit konkreten Produktrisiken.
In den TTIP-Verhandlungen wird es darauf ankommen, dass – sofern eine Vereinheitlichung so unterschiedlicher Rechtssysteme und -normen wie denjenigen in den USA und Europa überhaupt möglich ist – nicht die Nachteile beider Welten miteinander vereint werden, also eine Abkehr vom Vorsorgeprinzip mit sehr geringen Schadensersatzzahlungen kombiniert wird. Das Ergebnis wäre eine neue Welt, in der sich Minister Dobrindt wohlfühlen würde, eine Welt wie jene, in der es keine harten Regulierungsmaßnahmen gegen VW und auch keine Entschädigung für die Kunden des Konzerns gäbe.
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