Im Jahre 1959 veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset seine vielbeachtete Modernisierungshypothese. Ihr zufolge ist die „Modernisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft eine unverzichtbare Grundlage für eine stabile Demokratie. Vor allem bedarf die Demokratie eines gewissen aufgeklärten Bildungsstandes unter den Wählern. Seit 1959 sind nun bald sechs Jahrzehnte vergangen, innerhalb derer das formale Bildungsniveau der Menschen in den etablierten Demokratien stetig gestiegen ist. In der Konsequenz aber feiern merkwürdige Figuren wie Donald Trump, Nigel Farage, Marine Le Pen, JarosÅ‚aw KaczyÅ„ski oder Frauke Petry rasante politische Aufstiege und erreichen gut zweistellige Wahlergebnisse. Wie ist das möglich?
In der ökonomischen Theorie ist es beliebt, hierfür „rationale Ignoranz“ verantwortlich zu machen, wohinter die Tatsache steckt, dass eine einzelne Wählerstimme so unbedeutend für das Wahlergebnis ist, dass es sich ein Wähler leisten kann, irgendeinen Unsinn zu wählen, wenn ihm danach ist, ohne ernsthaften Schaden anzurichten. So wahr das grundsätzlich ist, so bleiben doch viele Fragen unbeantwortet. Eine davon ist, warum ein Wähler so etwas wissentlich überhaupt tun sollte, selbst wenn er damit höchstwahrscheinlich keinen Schaden anrichten wird.
Bleiben wir aus diesen Gründen einmal dabei, das ein Wähler, vorsichtig ausgedrückt, das wählt, wovon er überzeugt ist. Dann müssten Wähler, die einen Populisten wählen, von diesem Populisten ebenfalls überzeugt sein. Wenn das aber so ist, dann bleibt zu klären, wie Wähler zunehmend auf Populisten hereinfallen können, während der Grad an gesellschaftlicher Aufklärung, Säkularisierung und Rationalität nach allem, was wir zur Messung solcher Eigenschaften zur Verfügung haben, stetig steigt. Könnte es gar sein, dass die Attraktivität von Populisten nicht trotz, sondern gerade wegen der zunehmenden Rationalität im Denken steigt?
In dem kürzlich erschienenen Buch „Engineers of Jihad“ setzen sich die beiden Politikwissenschaftler Diego Gambetta und Steffen Hertog mit der Beobachtung auseinander, dass die Berufsgruppe der Ingenieure einen überproportional großer Anteil an den aktiven islamistischer Terroristen bildet. Dieser Befund bleibt in allen Variationen der Daten signifikant und auffällig hoch. Wie ein Puzzle setzen Gabbetta und Hertog ähnliche Befunde zu einem Gesamtbild zusammen und finden unter anderem, dass auch in der gewalttätigen rechtsextremen Szene in ganz ähnlicher Weise die Ingenieure überrepräsentiert sind und es auch in der Vergangenheit waren. Zwar ist zumindest in der jüngeren Geschichte der Bildungsstand rechtsextremer Gewalttätiger insgesamt im Vergleich mit den Dschihadisten und den gewalttätigen Linksextremen relativ klein. Aber das ändert nichts daran, dass der Anteil an Ingenieuren auch in gewaltbereiten rechtsextremen Kreisen signifikant höher ist als in der Gesamtbevölkerung und dass die Differenz ein erstaunlich gleiches Ausmaß hat wie in der Dschihadistenszene.
Man könnte nun meinen, dass dies ein nachfragebedingtes Phänomen sei, weil terroristische Gruppen gern technisch begabte Personen anwerben könnten. Dass dies aber keine gute Erklärung ist, zeigen die Autoren ebenfalls mit Hilfe ihrer Daten. Daher scheint eine bestimmte Kritik am westlich-liberalen Gesellschaftsbild ausgerechnet für Personen attraktiv zu sein, welchen man zu Recht ein besonderes Maß an analytischer Schärfe, an Säkularismus und an Rationalität zuordnet. Interessant ist aber, dass eine auf den ersten Blick ganz ähnlich geprägte Gruppe alle diese Befunde nicht aufweist: Nicht anwendungsorientierte Naturwissenschaftler nämlich, allen voran Physiker.
Gambetta und Hertog führen diese Beobachtungen auf persönliche Eigenschaften zurück. Weist eine Person diese Eigenschaften auf, dann erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Ingenieurstudium oder das einer anderen angewandten technischen Wissenschaft aufnimmt. Die gleiche persönliche Eigenschaft erhöht aber auch – wenngleich in geringerem Maße – die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Träger irgendwann einmal unsere westlich-liberale Welt infrage stellt. Natürlich wird nicht jeder gleich zum manifesten Kritiker der liberalen Demokratien. Eine noch kleinere Anzahl dieser Personen wird in extremistische Kreise abgleiten und dort am Ende gar zur Gewalt greifen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, ist eben für solche Personengruppen etwas höher, und das reicht, um die von den Autoren präsentierten Beobachtungen zu erklären.
Unter den Eigenschaften, auf die es hier ankommt, gehören nach Gambetta und Hertog vor allem diese: eine tiefe Abneigung gegenüber jeder Art von Unbestimmtheit und Kontrollverlust auf der einen Seite und eine Neigung zu in sich abgeschlossenen Erklärungsmustern auf der anderen Seite. In der Tat kann als Ingenieur nur bestehen, wer die Disziplin hat, komplexe Industrieprodukte wie ein Atomkraftwerk oder ein Verkehrsflugzeug in der Gesamtheit seiner sprichwörtlich Tausende ineinandergreifende Einzelteile zu jedem Zeitpunkt unter Kontrolle zu halten, und wer es für fahrlässig hält, nicht auch dem kleinsten Detail die jeweils nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Denn nur in dem jederzeit kontrollierten Zusammenspiel aller dieser Bauteile kann das Ganze gelingen. Es war ein Ingenieur, dessen Beobachtung wir das berühmte Gesetz von Murphy verdanken, wonach alles tatsächlich schief geht, was auch nur mit der kleinsten Wahrscheinlichkeit schief gehen könnte. Statistisch gesehen war Murphy’s Gesetz natürlich falsch, denn was mit einer kleinen Wahrscheinlichkeit schief geht, das geht in der Realität auch nur selten schief. Allerdings: Auch bei der kleinsten Wahrscheinlichkeit eines Fehlers wird in komplexen Maschinen praktisch immer irgendein Fehler in irgendeinem Bauteil des großen Ganzen auftreten, wenn nur die Zahl der Bauteile groß genug ist. Daher gilt: Wer die Nachsicht gegenüber geringen Fehlerwahrscheinlichkeiten in kleinen Details zur handlungsleitenden Einsicht erhebt und wer das geschlossene Ganze der Funktionsweise aller Details nicht mit größter Detailversessenheit im Blick zu halten bereit ist, der wird als Ingenieur kaum Karriere machen.
Zugleich gilt aber auch: Wer sich mit der Kontroll-Orientierung der Maschinen-Rationalität an Einsichten über die Funktionsweise einer Gesellschaft heranwagt, der begibt sich auf Abwege. Denn Gesellschaften sind keine Gebilde, die nach Art einer Maschine in einer in sich geschlossenen Logik dann und nur dann funktionieren, wenn man über jedes Detail in genauestens dokumentierten Verfahren die Kontrolle behält. Gesellschaften können dies schon deshalb nicht sein, weil ihre Bauteile einen eigenen Willen haben, und sie können es erst Recht nicht sein, wenn wir diesem Willen bewusst Raum geben, ihnen also Freiheit gewähren. Wenn wir das aber tun, dann geschehen im Ergebnis Dinge, die niemand vorhergesehen und oft genug auch niemand gewollt hat und die wir doch geschehen lassen müssen, wenn wir dem freien Willen der gesellschaftlichen „Bauteile“ Raum geben wollen. Dann geht die Logik der Maschine verloren und mit ihr die Fähigkeit des Gebildes, einem vorab definierten Zweck zu dienen. Das kann man solange aushalten, wie man die tatsächlichen Ergebnisse, die dieses Gebilde erzeugt, zu akzeptieren bereit ist. Aber wann immer daran Zweifel aufkommen, geraten zwei unvereinbare Welten miteinander in Konflikt, und zwar so:
- Erstens: Wer den Anspruch an eine Gesellschaft erhebt, wie eine rational konstruierte Maschine zu funktionieren, der wird es nur schwer akzeptieren können, dass man Dinge geschehen lässt, die niemand im Ergebnis gewollt hat, „nur“ weil die – im Grunde doch jederzeit änderbaren – prozeduralen Regeln dieser Gesellschaft es verbieten, einem „Bauteil“ der freien Gesellschaft eine genau definierte Funktion zuzuweisen. Wenn es beispielsweise rechtsstaatlich geboten ist, einen verurteilten und potenziell immer noch nicht sicher ungefährlichen Sexualtäter nach Verbüßung seiner Haft in die Freiheit zu entlassen, so käme das der Weisung gleich, in einen Airbus ein nachweislich in gefährlicher Weise defektes Bauteil zu installieren. Wenn so etwas in einem Airbus aber unvernünftig ist, dann kann es in einer Gesellschaft nicht vernünftig sein, wo doch beides in unmittelbar vergleichbarer Weise Leben kosten kann. Das jedenfalls folgt aus der Maschinen-Rationalität der Gesellschaft.
- Zweitens: Wer die Gesellschaft wie eine rational konstruierte Maschine begreift, der kann sich im Prinzip nicht einmal vorstellen, dass es von niemandem gewünschte Ergebnisse der Gesellschaftsmaschine überhaupt nur geben kann. Wenn es der Sinn einer Maschine ist, einen Zustand A herbeizuführen, dann wird man die Maschine so bauen, dass sie den Zustand A produziert. Umgekehrt folgt daraus: Produziert eine Maschine den Zustand B, dann kann das kein Zufall sein. Vielmehr muss jemand sie bewusst so konstruiert haben, dass sie B herstellt und nicht A. Nachweise dafür finden sich immer, und sie beginnen gern mit der Einleitung: Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien, aber…
Die Akzeptanz von Ungewissheit und Ergebnisoffenheit ist einerseits konstituierend für eine freie und offene Gesellschaft. Darauf haben in jeweils ähnlicher Weise bereits vor Jahrzehnten die Sozialphilosophen Karl Popper und Friedrich von Hayek immer wieder hingewiesen. Aber zugleich bleibt diese Einsicht schwer zu ertragen, wenn man in einer bestimmten Weise rational denkt – in der Weise nämlich, in der anwendungsorientierte Ingenieure denken, nicht jedoch Naturwissenschaftler, weil bei diesen das Motiv zur Dienstbarmachung physikalischer, chemischer oder biologischer Gesetze nicht im Vordergrund steht. Steht es aber im Vordergrund, dann wird es schwer zu akzeptieren, dass man den Dingen scheinbar sinnloserweise ihren Lauf lässt, ohne sie in einen ordnenden Zusammenhang zu stellen, der alles auf ein vernünftiges Ziel hin ausrichtet. Und ganz analog dazu ist die Einsicht schwer zu verstehen, dass hinter den tatsächlichen Ergebnissen gesellschaftlicher Interaktion nicht doch und notwendigerweise eine regulierende Hand stecken muss, die – gegebenenfalls im Hintergrund – die Kontrolle ausübt. Wer sich mit dieser Orientierung des Dankens in einen übersteigerten Unwillen gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Missständen verbeißt, der kann zur leichten Beute extremistischer Zirkel werden. Aber soweit muss man gar nicht gehen, um zum Gefahrenpotenzial einer offenen Gesellschaft zu werden. Allein ein sich ausbreitender latenter Eindruck, dass sich tatsächliche oder vermeintliche Missstände weniger der Ergebnisoffenheit einer freien Gesellschaft als vielmehr der mangelnden gesellschaftlichen Ingenieurskunst der formal Verantwortlichen in Verbindung mit der Ingenieurskunst verdeckt arbeitender Zirkel verdanken, stellt eine latente Gefahr dar – und womöglich wächst diese Gefahr gerade in der modernen Gesellschaft.
Unsere moderne Welt bietet uns Lösungen für alles und jedes an, und das meiste davon sind großartige Errungenschaften. Wir beherrschen heute komplexeste Technik, wir leben länger und besser, wir heilen Krankheiten, die über Jahrtausende ganz selbstverständlich unser Ende bedeutet hätten. Zugleich aber sinkt unsere Fehlertoleranz in allen diesen Dingen, weil bestimmte tragische Fehler in unserer modernen Gesellschaften einfach nicht mehr passieren müssen und daher auch nicht mehr passieren dürfen. Passieren sie dennoch, so wollen wir gerade deshalb nicht an Zufall glauben, weil sie rein technisch gesehen längst nicht mehr nötig gewesen wären.
An eine gesellschaftlich immer noch ergebnisoffene und damit scheinbar irrationale Welt den Anspruch perfektionierter Ingenieurskunst anzulegen, ist zwar im Kern verfehlt, aber aus einem bestimmten Rationalitätsbegriff heraus naheliegend. Die Diskrepanz zwischen der perfektionierten Ingenieurskunst, welche alle Bauteile den zuvor definierten Zielen rational zuordnet, auf der einen Seite und dem ergebnisoffenen Chaos der Gesellschaft auf der anderen Seite wächst mit zunehmender technischer Perfektionierung, weil das Chaos immer ein konstituierendes Merkmal freier Gesellschaften bleiben wird. Wenn der Grund für diese wachsende Diskrepanz aber nicht erkannt wird oder nicht akzeptiert werden will, dann steigt mit dem Anwachsen der Dikrepanz fast schon naturgemäß die Nachfrage nach Politikern, die vorgeben, es den Ingenieuren gleichtun zu können. Die Zutaten dazu haben sie alle: Jeder von ihnen verweist auf die dunklen Mächte, welche im Schatten der öffentlichen Kontrolle die gesellschaftliche Maschine manipulieren, auf dass diese das von ihnen gewünschte Ergebnis zulasten der Allgemeinheit produziere. Und jeder von ihnen geht mit den gesellschaftlichen Konstruktionsplänen hausieren, mit denen sie jenes Ergebnis herzustellen versprechen, das der Allgemeinheit dient – wenn man sie nur wählt. Schließlich kann jeder von ihnen die Hintermänner benennen, derentwegen die falsch konstruierten Maschinen statt der ohne weiteres möglichen korrekt konstruierten Maschinen laufen und die uns fälschlicherweise weis machen wollen, dass es letztere nicht geben könne – wegen der Rechtsstaatlichkeit, wegen der Globalisierung, wegen internationaler Verträge oder schlicht wegen bestimmter Verfahrensvorschriften, die sich immer wieder gern als absurdes Theater vorführen lassen.
Populisten bieten uns Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen an, die unter Einhaltung solcher Restriktionen nicht zu haben sind. Sie fragen uns, warum wir diese Restriktionen akzeptieren sollen, wo sie doch erstens von Menschenhand gemacht sind und damit abgeschafft werden können und wo sie zweitens den guten gesellschaftlichen Ergebnissen im Wege stehen. Und schließlich versichern sie uns, dass die Existenz dieser Restriktionen in Wahrheit nur einen Grund haben: Weil sie Teil einer Maschine sind, die anderen Zielen dient als denen der Allgemeinheit. Grund genug, sich davon zu verabschieden.
Dass die idealen Lösungen aller Probleme in der Regel aber auch dann nicht zu haben sein werden, wenn wir die Restriktionen einer freiheitlichen und rechtstaatlichen Gesellschaft missachten, steht auf einem anderen Blatt – das man freilich nicht gern liest. Wenn aber die Maschinen-Rationalität bei zunehmender technischer Perfektion Maßstab gesellschaftlichen Handelns wird, dann treibt dies immer mehr Wähler in die Hand von Populisten, ohne dass diese Wähler irrational sein müssen. Im Gegenteil könnte es sein, dass uns die technische Rationalität mit ihren überzeugenden Erfolgen in eine fehlerhafte Analogie und damit in die Irre führt.
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Ein wirklich toller Beitrag. Gleichwohl drängt es mich als (wie der Autor) Wirtschaftswissenschaftler, ein bisschen relativierend zu wirken:
1. Einer der Fundamentalkalküle unserer Zunft ist die Optimierung, d.h. Maximierung/Minimierung unter Nebenbedingungen. Ein solcher Kalkül ist bzw. wirkt wie eine Maschine, weil er voraussetzt, dass es ein vom Anwender akzeptiertes Ziel gibt, keine intentionale Pluralität oder – strukturell sehr viel schwerer einzuordnen – „ergebnisoffen“, und dann mechanisch zu lösen ist.
2. Das Ganze funktioniert grundsätzlich auch unter Unsicherheit. Auch wir Wirtschaftswissenschaftler agieren hier in dem Sinne optimistisch, dass wir unterstellen, die Wahrscheinlichkeitgesetze (Verteilungsfunktionen) seien bekannt oder zumindest durch unseren Wissensstand hinreichend gut approximierbar.
3. Letztlich laufen wir dann auf die Akzeptanz von Zielen zu, die gesellschaftlich akzeptabel sind. Diese Werturteile sind wissenschaftlich kaum zu legitimieren. Man beachte nur die Kontrollüberlegung, dass man bestimmte Ziele aus einer bestimmten (bspw. Apolte/Knoll) Prädisposition nicht zulässt und das betrifft nicht nur einzelne Ziele, sondern auch Konstellationen wie die „Ergebnisoffenheit“.
In diesem Sinne sei einfach nur zur Vorsicht aufgerufen: So hoch interessant (ich kann das nur nochmals in aller Deutlichkeit unterstreichen) die Überlegungen des Beitrags sind, so sehr sollten wir Nicht-Ingenieure aufpassen, die Ziel-Mittel-Mensch-Problematik nicht vorschnell als gelöst zu betrachten.
Ein sehr origineller Beitrag. Mir scheint, dass der Wettbewerb der Anbieter alternativer Maschinenrationalitäten wünschenswert ist und den Kern einer funktionierenden offenen Gesellschaft positiv beschreibt.