Armut, Tafeln und Sozialstaat
Lasst die Tafeln in Ruhe arbeiten

„Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut.“ (Jens Spahn)

Die Entscheidung der Tafel in Essen hat viel Staub aufgewirbelt. Sie nimmt vorerst Ausländer nicht mehr als Neukunden an. Das hat viel Kritik ausgelöst. Klar ist, die Tafeln können nur das verteilen, was ihnen von Spendern (kostenlos) an Lebensmitteln zur Verfügung gestellt wird. Übersteigt die Nachfrage das Angebot, bleibt nur die Rationierung. Ob es allerdings gerechtfertigt ist, ganze Gruppen auszuschließen, ohne individuelles Fehlverhalten zu prüfen, ist umstritten. Die Entscheidung in Essen hat aber auch die Kritiker des Sozialstaates auf den Plan gerufen. Der Staat mache sich im Kampf gegen die Armut einen schlanken Fuß. Die Zahl der Armen in Deutschland habe sich seit den Hartz-Reformen drastisch erhöht. Der Sozialstaat ziehe sich immer öfter zurück. Private Mildtätigkeit versuche, die Lücke zu schließen. Es sei deshalb kein Wunder, dass sich die Zahl der Tafeln seit Mitte der 00er Jahre auf bundesweit 934 Tafeln fast verdoppelt habe. Notwendig sei eine höhere Grundsicherung für Arbeitslose, Geringverdiener und Rentner. Sie würde die Armut spürbar senken und das unerfreuliche Gedränge an den Tafeln bundesweit verringern.

Entwicklung der Tafeln

Die gegenwärtigen Leistungen des Sozialstaates garantieren, dass in Deutschland niemand hungern muss und ein Dach über dem Kopf hat. Sie stellen auch sicher, dass Hilfeempfänger am sozialen Leben (eingeschränkt) teilnehmen können. Mit diesen Leistungen wird nur ein gesellschaftlich akzeptiertes Existenzminimum garantiert. Es ist keine Vollabsicherung des Lebensstandards. Kinder, Arbeitslose, Geringverdiener und Rentner erhalten diese Leistung. Absolute Armut tritt in Deutschland nur dann auf, wenn Hilfsberechtigte die ihnen zustehenden Leistungen des Sozialstaates nicht in Anspruch nehmen. Verschämte absolute Armut ist die Folge. Absolute Armut und Tafeln sind über diesen Kanal lose miteinander verbunden. Hilfsbedürftige nutzen die Tafeln, um ihre staatlichen Transfers (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter) mit Sachleistungen aufzubessern. Es ist zu vermuten, dass verschämt Arme die Leistungen der Tafeln weniger nutzen als andere Hilfsbedürftige. Sie schämen sich, sowohl Leistungen der staatlichen Existenzsicherung als auch die Lebensmittelhilfen der Tafeln in Anspruch zu nehmen.

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In den letzten drei Jahrzehnten hat die Zahl der Tafeln stark zugenommen. Die erste Tafel wurde im Jahre 1993 ins Leben gerufen. Inzwischen hat sich ihre Zahl bundesweit auf 934 im Jahr 2017 erhöht. Die Zeit um die Mitte bis Ende der 00er Jahre war die Phase des stärksten Wachstums der Tafeln. In dieser Zeit schossen die Tafeln in Deutschland überall wie Pilze aus dem Boden. Mit dem neuen Jahrzehnt wurden die Zuwächse geringer. Der Höhepunkt des Wachstums der Tafeln scheint erreicht. Allerdings hat sich die Klientel im Laufe der Zeit verändert. Über die Hälfte der Kunden sind heute Erwachsene im erwerbsfähigen Alter. Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und Niedriglöhner machen das Gros aus. Jeweils ein Viertel der Empfänger von Leistungen der Tafeln sind Rentner und Kinder und Jugendliche. Vor allem der Anteil der Kinder hat im Laufe der Zeit stetig zugenommen. Neuerdings haben die Tafeln mit den anerkannten Asylbewerbern eine neue, wachsende Klientel. Der Schwerpunkt der Leistungen sind noch immer Lebensmittelhilfen. Andere Leistungen des täglichen Bedarfs kommen aber hinzu. Die „Finanzierung“ der Leistungen erfolgt zum größten Teil über Sachspenden. Geldspenden nehmen aber zu.

Ursachen des Wachstums

Der Grund für das rasante Wachstum der Tafeln liegt für viele auf der Hand: In Deutschland habe die Armut stark zugenommen. Schuld daran seien die Hartz-Reformen. Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter verhinderten zwar absolute Armut. Allerdings seien immer mehr Menschen armutsgefährdet. Jens Spahn hat es zugespitzter formuliert: „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut.“ Das Geschäftsmodell der Tafel ist die Versorgungslücke zwischen staatlich garantiertem Existenzminimum und individueller Armutsgefährdung. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hat das soziale Sicherungsniveau nicht für die Armen und Schwachen (hier) abgesenkt, wohl aber für mittlere und höhere Arbeitseinkommen. Der „soziale“ Mindestlohn liegt für diese Individuen niedriger als zuvor. Er trägt grundsätzlich mit dazu bei, dass weniger Arbeitnehmer arbeitslos werden. Wer allerdings als Arbeitnehmer das Pech hat, langzeitarbeitslos zu bleiben, hat weniger als vor der Reform in der Tasche. Der wachsende Niedriglohnsektor hat diese Entwicklung verstärkt. Die Zahl der (einfachen) Arbeitsplätze hat zwar stark zugenommen. Allerdings stellen sich die „Aufstocker“ schlechter als vor der Reform. Das Einkommen aus Arbeit und Transfers bleibt für viele hinter den Möglichkeiten der früheren Arbeitslosenhilfe zurück.

Diese Geschichte klingt plausibel. Die Hartz-Reformen schufen eine Lücke zum alten Sicherungsniveau. In diese Versorgungslücke stieß das Angebot der Tafeln. Sie reagierten auf die steigende Nachfrage der (temporären) Verlierer der Strukturreformen. Das könnte erklären, warum die Zahl der Tafeln um die Mitte der 00er Jahre bundesweit stark stieg. Mit dem beschäftigungspolitischen Erfolg der Hartz-Reformen, der erst nach und nach eintrat, hatte das Wachstum der Tafeln allerdings ihren Zenit überschritten. Die soziale Lücke wurde gesamtwirtschaftlich wieder kleiner. Immer mehr Arbeitslose fanden eine Beschäftigung. Das galt auch für Langzeitarbeitslose, die bis dahin ohne Hoffnung waren. Ohne die Flüchtlinge wäre die Zahl der Tafeln zurückgegangen. Der massive Zustrom von Flüchtlingen änderte alles. Bis zum Abschluss des Asylverfahrens bleibt (fast) alles beim Alten. Die Zuwanderer entfalten in Gemeinschaftsunterkünften keine Nachfrage nach den Leistungen der Tafeln. Nach der Anerkennung treten die Migranten allerdings als zusätzliche Nachfrager auf dem Marktplatz der Tafeln auf. Das Geschäftsmodell der Tafeln funktioniert weiter.

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Diese Erklärung hat aber einen Haken: Die Armutsgefährdungsquote (weniger als 60 % des Medianeinkommens) hat sich seit Mitte der 00er Jahre nur wenig erhöht. Sie pendelt zwischen 14 und 16 %. Der Prozess der sukzessiven Anerkennung von Flüchtlingen wird dies ändern. Für die Leistungen der Tafeln entsteht neue Nachfrage. Die Zahl der Tafeln ist aber nicht nur nachfrage-, sie ist auch angebotsgetrieben. Schon seit Anfang der 90er Jahre war die Vernichtung von Lebensmitteln vielen ein Dorn im Auge. Engagierte Bürger wollten dieser Entwicklung ein Ende setzen. Die Lebensmittel, die vor der Vernichtung gerettet wurden, sollten an Arme in unserer Gesellschaft verteilt werden, vor allem an Rentner und Alleinerziehende. Diese Idee fand auch beim Handel viel Zustimmung, teils aus altruistischen Gründen, teils aus Gründen der betrieblichen Kostenminimierung. Mit der kostenlosen Abgabe von überschüssigen Lebensmitteln konnten Reputationsgewinne erzielt aber auch kostspielige Entsorgungen verringert werden. Der Staat begünstigt diese Entwicklung finanziell. Spendable Unternehmen können die Spenden steuermindernd geltend machen. Und die Finanzämter sind bereit, die gespendeten Lebensmittel von der Umsatzsteuer zu befreien. Das steigende Angebot an Tafeln hat eine höhere Nachfrage nach ihren Leistungen geschaffen. Ist das die deutsche Variante des Say’schen Theorems in der Sozialpolitik?

Besteht Handlungsbedarf?

Der Paritätische Wohlfahrtsverband und andere Verbände der Armutsindustrie fordern höhere Regelsätze des Arbeitslosengeldes II und der Grundsicherung bei Erwerbsminderung und im Alter. Bei höheren existenzsichernden Leistungen des Sozialstaates müssten die Tafeln weniger oft den sozialen Lückenbüßer spielen. Diese Sicht der Dinge ist populistisch. Über die Höhe der Leistungen im Kampf gegen Armut entscheidet eine Mehrheit der Wähler. Handelt sie rational, wägt sie zwischen distributiven Zielen und allokativen Risiken und Nebenwirkungen ab. Großzügigere Leistungen zur Garantie eines Existenzminimums erhöhen den „sozialen“ Mindestlohn. Die Gefahr nimmt zu, dass er über dem Marktlohn liegt. Vor allem Geringqualifizierte laufen Gefahr, dass sie in der „Sozialhilfe-Falle“ („Arbeitslosengeld II-Falle“) landen. Das gilt weniger für Alleinstehende. Es trifft aber für Familien mit Alleinverdienern und Kindern zu. Mit höheren Leistungen des Arbeitslosengeldes II wird absolute Armut zwar finanziell besser abgefedert. Allerdings nimmt die Gefahr zu, dass Empfänger lohnbedingt in der „Sozialhilfe-Falle“ stecken bleiben. In Sozialhilfedynastien pflanzt sich diese Gefahr inter-generativ fort.

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Privat organisierte Tafeln verringern den Konflikt zwischen allokativen und distributiven Zielen. Mit ihren (Sach-)Leistungen an Bedürftige ist die Gefahr gering, dass sie in Konkurrenz zum herkömmlichen Sozialstaat geraten. Ganz im Gegenteil, sie erleichtern es ihm, seine originäre, distributive Aufgabe zu erfüllen. Und sie sorgen dafür, dass sich die allokativen Risiken und Nebenwirkungen staatlicher Garantie des Existenzminimums in Grenzen halten. Tafeln offerieren Sachleistungen, keine Geldleistungen. Damit ist die Gefahr geringer als bei Geldleistungen, dass sie die „sozialen“ Mindestlöhne erhöhen und Langezeitarbeitslosigkeit produzieren. Tafeln sind ein gutes Beispiel, wie staatliche Fürsorge und private Mildtätigkeit Hand in Hand gegen Armut kämpfen. Ohne Probleme sind ihre Aktivitäten allerdings dennoch nicht. Da auch sie unter dem kalten Stern der Knappheit agieren, müssen sie ihre Leistungen oft rationieren. Nicht alle Bedürftigen kommen in den Genuss. Und noch etwas können sie nicht lösen. Das Problem der verschämten Armut bleibt auch bei den Tafeln erhalten. Ob es größer oder kleiner ist als bei staatlichen Leistungen ist weiter unklar.

Fazit

Der Streit um das Verhalten der Tafel in Essen hat in Deutschland eine neue „Sozialstaatsdebatte“ ausgelöst. Getrieben wird die kontroverse Debatte von den unhaltbaren Zuständen an vielen Tafeln. Die steigende Nachfrage an den Tafeln sind die Folgen des massiven Zustroms von Flüchtlingen. Das Problem der Armut spielte in der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre keine große Rolle. Die günstige beschäftigungspolitische Entwicklung auch als Spätfolge der Hartz-Reformen hat die Armut in den Hintergrund gedrängt. Mit dem massiven Zustrom von Flüchtlingen kehrten aber auch die alten Probleme zurück. Die Kritik der Bundeskanzlerin an dem Verhalten der Essener Tafel ist dreist, hat sie doch den migrationspolitischen Schlamassel mit verursacht. Es zeigt sich, es war naiv zu glauben, die Integration der Flüchtlinge in den regulären Arbeitsmarkt wäre erfolgreich. In den meisten Fällen ist sie es nämlich nicht (hier). Entweder werden die Flüchtlinge arbeitslos oder finden nur eine gering entlohnte Arbeit. So oder so, die meisten von ihnen liegen dem Sozialstaat auf der Tasche. Das wird nicht nur die Aufwendungen für das Arbeitslosengeldes II in die Höhe schnellen lassen. Auch der Verteilungskampf an der Front der privaten Mildtätigkeit, den vielen deutschen Tafeln, aller gegen alle wird sich weiter verschärfen.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold: Das Gespenst der Altersarmut. Lebensleistungsrente, „Grundsicherung plus“ (Grundrente) und anderes Gedöns

Steffen J. Roth: Traue keiner Statistik. Zur Armut von Kindern in Deutschland

Thomas Apolte: Armut per Gesetz?

Dieter Bräuninger: Altersarmut. Kein Anlass für rückwärtsgerichtete Rentenpolitik

Norbert Berthold: Flüchtlinge in der Mindestlohnfalle. Doppelte Lohnuntergrenze behindert Integration

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