2018 wird allem Anschein nach zum Jahr der Wahrheit für die weitere Zukunft der Eurozone (EMU). Entscheidend dafür sind drei zentrale Faktoren:
- das Auslaufen bisheriger monetärer Stützung durch die EZB
- die langjährige Untätigkeit und Reformverweigerung der Politik
- die neue populistische Regierung in Italien
Wie hängen diese Punkte zusammen?
Monetäre Anästhesie der EZB läuft aus
Seit dem Ende der Euro-Krise 2012 dämmert Europa in einem künstlichen Wachkoma. In dieser Phase hat die EMU, durch massive Geldspritzen der EZB ruhiggestellt, drängende Strukturprobleme und akute Friktionen einfach weggelächelt. Verantwortlich für diesen surrealen Zustand waren, neben chronischer Reformverweigerung vieler EMU-Länder, vor allem Mario Draghi und die bisherige Politik der EZB. Deren massives Programm zum Ankauf von EMU-Staatsanleihen („Quantitative Easing“ oder „Q.E“) flutete die Eurozone mit billigem Geld, führte zu absurd tiefen – vielfach sogar negativen – Zinsen und übertünchte damit sehr salopp bestehende Bruchlinien der Eurozone.
Der stetige Zustrom von insgesamt knapp 2,5 Bio. Euro an neu gedrucktem Geld von der EZB vermittelte den EMU-Ländern völlig zu Unrecht ein trügerisches Gefühl wohliger Geborgenheit. Die positiven Effekte dieser monetären Anästhesie – tiefe Zinsen, Ruhe an den Anleihemärkten und tendenziell sinkende Kosten der Staatsverschuldung – wurden von vielen Ländern gerne angenommen; der zweite Teil des Geschäfts, nämlich das Einleiten und Umsetzen zügiger Strukturreformen, wurde hingegen schlicht „vergessen“. Das Zugeständnis von Mario Draghi, Europas „Chef-Anästhesist“, der den EMU-Ländern Zeit und Ruhe für notwendige Reformen verschaffen wollte, wurde so faktisch ausgehebelt und konterkariert.
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Reform oder Selbstzerstörung der EMU?
Sofern die EZB an ihrem bisherigen Fahrplan festhält, wird diese monetäre Sedierung in weniger als vier Monaten enden. Ab September 2018 plant die EZB den Ausstieg aus der bisherigen Q.E.-Politik („Tapering“). Auf diese wichtige Veränderung hat sich die gesamte EMU bisher jedoch kaum vorbereitet. Die wiederholten Angebote von Frankreichs Präsident Macron zu grundlegenden Reformen der EU („Neugründung“) sind wirkungslos verpufft. Verantwortlich für diesen Stillstand sind die lange (und komplizierte) Phase der deutschen Regierungsbildung sowie die diffizile politische Konstellation in Berlin. Erst vor wenigen Tagen, nach fast einem Jahr „Denkpause“, sah sich Bundeskanzlerin Merkel bemüßigt, Macron per Zeitungsinterview schwache Signale zurückzusenden.
Zugleich stellt sich aber auch die Frage nach der Substanz der Macron-Vorschläge. Diese decken sich weitgehend mit bisherigen Ideen und „Visionen“ der EU-Kommission und gehen, aus ökonomischer Sicht, an den wirklich relevanten Problemstellungen völlig vorbei. Statt nachhaltige Staatshaushalte und striktere ökonomische Konvergenz durchzusetzen, werden neue Mechanismen zur Umverteilung von Risiken, zur generellen Erhöhung diverser Verschuldungskapazitäten sowie zur Überwälzung systemischer Probleme und Altlasten gefordert.
EMU auf dem Weg zur Transferunion
Sollte auch nur ein Teil dieser Vorschläge umgesetzt werden – Verhandlungen darüber finden noch im Juni statt – so beschreitet die EMU zunehmend offen den Weg in eine fragile „Transferunion“. Das bedeutet nicht nur steigende Transferleistungen „starker“ EMU-Mitglieder an „das System“, sondern zusätzlich noch deutlich erhöhte Haftungsrisiken, sowohl für bereits bestehende als auch zukünftige Schulden der gesamten EMU.
Dass ein solches Transfersystem viele Probleme nicht wirklich löst, sondern lediglich (mit hart erarbeitetem Steuergeld) übertüncht, ist unmittelbar klar. Hinzu kommt ein wichtiger spieltheoretischer Aspekt: Ein solches System würde die schon bisher vorhandenen Anreize zum ökonomischen und fiskalischen „Trittbrettfahren“ deutlich und dauerhaft erhöhen. Dringend erforderliche Strukturreformen prekärer Länder, wie etwa Italien, würden dann mangels Anreiz erst recht nicht mehr stattfinden.
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Schon bisher war klar, dass Architektur und Statik der EMU massive Baumängel und Schieflagen aufweisen. Doch auch die aktuell absehbaren Reparaturen zielen in die falsche Richtung. Nun wird auch noch das Fundament der EMU, das ursprünglich auf klaren Verhaltensregeln und Prinzipien wie Verantwortung, Haftung und Konvergenz aufgebaut war, durch überzogene „Solidarität“ geschwächt und unterminiert. Wie die EMU vor diesem Hintergrund eine glänzende Zukunft haben soll, bleibt das Geheimnis der EU-Kommission und ihrer hochrangigen Vertreter.
Italien als Spielverderber
Gerade jetzt tritt mit Italien ein akuter Spaltpilz hervor, der die Schwächen der EMU schonungslos offenlegt. Italiens neue populistische Regierung ist wie das Kind, das die neuen Kleider des Kaisers EMU als Illusion entlarvt. Die umgehende Forderung der Wahlgewinner nach einem 250-Milliarden Euro Schuldenerlass durch die EZB zeigt ganz klar, wo die Reise hingehen wird.
Italien leidet seit rund 20 Jahren unter ökonomischem Stillstand, chronischer Reformverweigerung und gleichzeitig (in absoluten Zahlen) der dritthöchsten Staatsverschuldung der Welt. Viele dieser Probleme gehen auf die lange Misswirtschaft des Systems Berlusconi zurück, andere sind eher exogen, etwa als Folge der massiven Migration oder der Finanzkrise. Die Wirtschaftsleistung Italiens zeigt seit 20 Jahren lediglich einen Gesamtzuwachs um rund 4 %, die Staatsverschuldung liegt bei über 130 % des BIP und die Jugendarbeitslosigkeit beträgt dramatische 32 %. Vor diesem Hintergrund war absolut zu erwarten, dass Italiens Bürger ihrem Unmut Luft verschaffen und „gegen das Establishment“ votieren würden. Italien als wichtiges Kernland der EU ist nun das erste Land, das von einer offen populistischen Regierung geführt wird.
Das kommende „Game of Chicken“
Schon jetzt ist absehbar, dass Italien auf einen direkten Konflikt mit EU, EMU und EZB zusteuert. Dieser Konflikt ist nicht nur gewollt, sondern von langer Hand geplant. Viele Dokumente und Ereignisse der letzten 15 Monate belegen, dass Italiens populistische Parteien offen über einen Bruch mit der EMU nachdenken oder diesen, als Ultima Ratio, sogar bewusst ansteuern. Pläne zur Einführung einer Parallelwährung (über die Ausgabe von Staatsanleihen in kleiner Stückelung, sogenannte Mini-BOT’s), dubiose Konferenzen zur Zukunft der italienischen Staatsschulden oder gar direkte Anfragen an die EZB zur Rückzahlungspflicht aufgelaufener TARGET-Schulden zeigen eine klare Intention: Der bisherige konsensuale Status Quo der EMU wird aufgekündigt; stattdessen wird eine frontale Drohkulisse gegenüber Berlin, Brüssel (EU) und Frankfurt (EZB) aufgebaut. Die schon jetzt absehbare Drohung lautet: „Gebt uns Geld und/oder einen Schuldenerlass, oder wir verlassen die EMU!“
Italien eröffnet damit ein spieltheoretisches Manöver, das auch als „Game of Chicken“ bekannt ist. Die Drohung mit dem Selbstmord soll den oder die Spielpartner zu Zugeständnissen bewegen, nach dem Motto: Wer zuerst zuckt, hat verloren. Leider ist diese Drohkulisse im Fall Italiens wesentlich glaubwürdiger als im vorherigen Fall Griechenlands. Zur Erinnerung: Der damalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis (ein Experte für Spieltheorie!) plante 2015 ebenfalls ein „Game of Chicken“, einschließlich Austritts aus der Eurozone und Einführung einer Parallelwährung. Sein Problem war nur, dass im Fall Griechenlands – trotz hoher Schulden – die Drohkulisse schlicht zu klein war.
Ganz anders der Fall Italien, wo neben 2,3 Bio. Euro Staatsschulden und rund 350 Mrd. fauler Kredite im Bankensystem auch noch rund 440 Mrd. Euro an Verpflichtungen aus dem TARGET-System auf dem Tisch liegen. All diese Schulden würden bei einem Austritt Italiens aus der EMU schlagartig entwertet, entweder vollständig (im Fall der TARGET-Schulden) oder teilweise (Staatschulden und faule Kredite). Diese Zahlen und die dadurch repräsentierten Ausfallrisiken sind so atemberaubend, dass kein Rettungsschirm der EMU sie jemals würde auffangen können. Folglich wäre die Existenz der gesamten EMU unmittelbar gefährdet.
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Die Drohkulisse der italienischen Regierung wird damit glaubwürdig, und das „Game of Chicken“ kann beginnen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bringen die italienischen „Spieler“ sich genau jetzt dafür in Position. Spätestens beim kommenden EU-Gipfel werden entsprechende Forderungen auf dem Tisch liegen. Aus heutiger Sicht deutet sich bereits an, dass dieses Spiel für Europa (vor allem Deutschland) entweder sehr kostspielig oder sehr gefährlich werden wird, wahrscheinlich sogar beides. Das „Game of Chicken“ wird sicher nicht schnell beendet und dürfte sowohl Politik als auch Finanzmärkte für den Rest des Jahres in Atem halten.
Finanzmärkte als Nachtwächter
Speziell die Finanzmärkte haben in diesem Jahr unter Beweis gestellt, dass sie zur Durchdringung komplexer Sachverhalte oft nicht in der Lage sind. Obwohl die ökonomischen und finanziellen Risiken Italiens seit Jahren allgemein bekannt sind und der Wahlausgang in Rom seit Monaten relativ klar zu erwarten war, haben die Finanzmärkte das Risiko Italien bis vor wenigen Tagen komplett ignoriert. Im Gegenteil fielen diverse Risiko-Indikatoren, etwa die Zinsen 2-jähriger italienischer Staatspapiere sowie die Spreads zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen, noch im April 2018 in die Nähe historischer Tiefs!
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Erst Ende Mai, als die Forderungen aus Italien bereits in jeder Tageszeitung nachgelesen werden konnten, fand an den Märkten eine abrupte Neubewertung statt. Dies führte zu einem sprunghaften, äußerst schmerzhaften Anstieg der Renditen und Risiko-Spreads italienischer Staatspapiere. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde das Problem Italien, und dessen gefährliche Rückwirkung für die gesamte EMU, angemessen wahrgenommen. Dieser Punkt ist für Investoren sehr wichtig: Er entlarvt die Finanzmärkte in wichtigen Fragen der EMU als „Nachtwächter“ ohne ernstzunehmende Prognosefähigkeit. Eingeschläfert vom Valium der EZB haben die Märkte offenbar verlernt, Risiken objektiv zu bewerten.
„Euro Wake Up“ oder „Euro Break Up“?
Offenkundig haben die Risiken eines fatalen Bruchs der Euro-Zone zuletzt schlagartig zugenommen. Dieses „Euro Break Up“-Risiko dürfte im Gesamtjahr 2018 weiter ansteigen und könnte sogar dramatisch eskalieren. Die neue Politik Italiens ist dafür ein wichtiger, aber bei weitem nicht der alleinige Grund. Ebenso wichtig sind der absehbare Rückzug bisheriger EZB-Liquidität sowie der schleppende Fortschritt dringend erforderlicher Strukturreformen der EMU. Für Kapitalanleger und Investoren lautet 2018 also eine wichtige Frage: „Euro Wake Up“ oder „Euro Break Up“?
Die zugrundeliegende Botschaft ist klar: Wer nicht im Blindflug den zunehmenden Risiken der EMU ausgesetzt sein will, der sollte sich intensiv mit den akuten Problemen der EMU auseinandersetzen. Einen guten Ansatzpunkt dazu bietet eine ausführliche Studie, die unter Leitung des Verfassers am FERI Cognitive Finance Institute erstellt und bereits im März 2018 publiziert wurde (8 Wochen vor den krisenhaften Marktentwicklungen). Die Studie mit dem Titel „Zukunftsrisiko Euro Break Up – Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und mögliche Konsequenzen“ kann abgerufen werden unter https://www.feri-institut.de/media-center/studien/.
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Es gibt wenig Grund für das allgemeine Italienbashing: Die Finanzierungssalden aller drei Sektoren öffentliche und private Haushalte sowie Unternehmen sind im Plus. Das hier Italien immer wieder als „Gefahr“ beschrieben wird, zeigt vor allem, das die Kommentatoren ungeprüft ein paar vorurteilsnahe Bewertungen übernehmen.
Das könnte sich die Salden in das Negative drehen , wenn die EZB die Zinsen erhöht, aber aus genau diesem Grund wird sie es nicht tun (können).