Gut zwei Jahre, nachdem die Briten für den Brexit gestimmt haben, hat die Regierung nun ein Weißbuch[1] vorgelegt, das die britischen Vorstellungen bezüglich der künftigen Beziehungen zur EU darlegt. Abgesehen von den dadurch ausgelösten Rücktritten des Staatssekretärs für den Brexit, David Davis, und des Außenministers, Boris Johnson, hat das Papier in allen Bereichen der britischen Wirtschaft hohe Wellen geschlagen. Es ist in vier Kapitel unterteilt: Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Sicherheits-Partnerschaft, Sonstige Kooperation und Institutioneller Rahmen. Davon hat das erste Kapitel die höchste Aufmerksamkeit erfahren, so dass nachfolgend die dort vorgeschlagenen Neuregelungen erläutert werden sollen. Den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen bildet jedoch der europäische Binnenmarkt und dessen Regelungen als Beschreibung des ökonomischen Status quo für Großbritannien.
Der europäische Binnenmarkt ist – wie Abbildung 1 veranschaulicht – durch die vier Grundfreiheiten, nämlich den freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr gekennzeichnet. Den Kern des freien Warenverkehrs bildet dabei die Zollunion, die durch einen Abbau aller Zölle und quantitativen Handelshemmnisse (etwa Kontingente) gekennzeichnet ist. Darüber hinaus sind die Außenzölle gegenüber Drittländern für alle Mitgliedsländer harmonisiert – also einheitlich hoch. Neben der Zollunion umfasst der freie Warenverkehr aber auch den Abbau aller nichttarifären Handelshemmnisse wie etwa länderspezifische Normen und Typisierungen. Diese haben ihre Wirkung im Laufe der Zeit dadurch (weitgehend) verloren, dass die nationalen Regulierungen entweder harmonisiert oder gegenseitig anerkannt wurden (Ursprungslandprinzip).
Im Gegensatz dazu herrscht im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs „nur“ das Prinzip der Nichtdiskriminierung. In Artikel 57 AEUV heißt es dazu[2]: „Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.“ Während beim freien Warenverkehr also nur ein Regulierungsrahmen, nämlich der des Heimatlandes zu beachten ist (Ursprungslandprinzip), müssen beim freien Dienstleistungsverkehr im Extremfall die (unterschiedlichen) Regulierungen aller anderen EU-Mitgliedsländer berücksichtigt werden, da man stets deren spezifische nationale Regulierungen befolgen muss. Dieses Vorgehen verursacht aber weit höhere Kosten als beim Warenhandel. Mit folgender Ausnahme: Im Bereich der Finanzdienstleistungen gilt das sogenannte „Passporting“[3], das in etwa dem Ursprungslandprinzip beim Warenhandel entspricht. Demnach kann ein Finanzdienstleister, der seinen Firmensitz in einem Mitgliedsland der EU hat, (mit minimalen zusätzlichen Genehmigungsanforderungen) seine Dienstleistungen zu den Regulierungsbedingungen des Sitzlandes auch in allen anderen Mitgliedsländern anbieten – ohne dort geltende weitergehende Regulierungsvorschriften zu beachten. Dies hat dazu geführt, dass sich auch viele außereuropäische Banken in London angesiedelt haben, um von dort aus ihre Finanzdienstleistungen ungehindert den Kunden in der gesamten EU bereitzustellen. Dies ist ferner dadurch erleichtert worden, dass es unter diesen Bedingungen ausreicht, Zweigstellen in anderen Mitgliedsländern der EU zu gründen statt der komplexeren und mit weit höheren Kosten verbundenen rechtlich unabhängigen Tochtergesellschaften.
Eine alternative Möglichkeit, Bankdienstleistungen innerhalb des Binnenmarktes ungehindert anbieten zu können, besteht dann, wenn die Rechtsvorschriften des (außereuropäischen) Herkunftslands von der EU als „gleichwertig“ mit den eigenen Standards anerkannt werden. Eine solche Anerkennung der Gleichwertigkeit eröffnet allerdings deutlich geringere Möglichkeiten, was den Umfang der erlaubten Bankdienstleistungen betrifft, als dies beim „Passporting“ der Fall ist.
Beim freien Personenverkehr geht es um die Möglichkeit aller EU-Bürger ungehindert von Grenzkontrollen zu reisen (Schengen-Abkommen), den Wohnsitz innerhalb der EU frei zu wählen sowie einer Arbeitsaufnahme in jedem Land der EU. Der freie Kapitalverkehr umfasst abschließend die Aufhebung aller Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern. Gleichwohl sind die Kapitalmärkte nach wie vor fragmentiert, so dass bis 2019 darüber hinaus ein wirklich integrierter Kapitalbinnenmarkt geschaffen werden soll.
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Vor diesem Hintergrund sollen nun die im Weißbuch vorgeschlagenen Neuregelungen erläutert werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Regelungen im Bereich des Warenhandels einschließlich der dort enthaltenen Agrarprodukte, die Abbildung 2 weiter veranschaulicht. Die bisher bestehenden Integrationsbereiche sind dabei durch die EU und deren vorher erläuterten Binnenmarkt sowie durch die Europäische Freihandelszone (EFTA) gekennzeichnet. Die EU und die EFTA-Länder Norwegen (NOR), Island (ISL) und Liechtenstein (LIE) haben sich darüber hinaus zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zusammengeschlossen, für den im Prinzip die EU-Binnenmarktregelungen in ihrer Gesamtheit gelten. Die Schweiz (CHE) nimmt hingegen wegen ihrer politischen Neutralität nicht am EWR teil.
Da eine Anbindung an die EU über den EWR für Großbritannien nicht in Frage kommt, weil dies die Übernahme der gesamten Binnenmarktvorschriften impliziert, strebt man künftig eine eigene umfassende („comprehensive“) Freihandelszone mit der EU an. Diese könnte den Namen Britisch-Europäische-Freihandelszone (BEFTA) tragen. Im Innenverhätnis dieser Freihandelszone werden wiederum alle handelsbeschränkenden Maßnahmen abgebaut. Dies soll auch für diejenigen nichttarifären Handelshemmnisse gelten, die notwendig sind, um einen ungehinderten grenzüberschreitenden Handel zu ermöglichen. Dabei wird es aber nicht ausreichen, nur – wie im Weißbuch vorgesehen – diejenigen Standards (weiterhin) zu akzeptieren, die die Grenzkontrollen betreffen. Um Wettbewerbsverzerrungen aus Sicht der EU zu vermeiden ist es vielmehr erforderlich, weitergehende Vereinbarungen zu treffen. Die entsprechenden Regelungen sollen in einem gemeinsam erstellten Regelwerk für verarbeitete Produkte und ein weiteres für landwirtschaftliche und Fischerei-Produkte sowie Lebensmittel zusammengefasst werden. In der Praxis wird dies allerdings darauf hinaus laufen, dass Großbritannien in Zukunft die entsprechenden EU-Regulierungen übernehmen muss, ohne zugleich einen Einfluss auf Neuregelungen in diesen Bereichen ausüben zu können – eine Aussicht, die für viele Briten unakzeptabel erscheint. Das britische Parlament soll zwar (mit) entscheiden können, ob neue Regeln übernommen werden oder nicht – allerdings würde eine Ablehnung wohl dazu führen, dass der Zugang zum EU-Markt eingeschränkt würde. Großbritannien will hingegen nicht länger Teil des Gemeinsamen Agrarmarktes und der Gemeinsamen Fischereipolitik bleiben, da dies keine notwendige Voraussetzung für einen freien Handel in diesen Bereichen darstellt. Die Anbindung Großbritanniens über eine Freihandelszone, die vom Umfang und Tiefgang her (weitgehend) den Binnenmarktvorschriften für den Warenverkehr entspricht, wird insbesondere auch deshalb angestrebt, weil sich (nur) dadurch die grüne Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland aufrecht erhalten lässt.
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Im Gegensatz zu einer Zollunion, wie sie die EU darstellt, behalten die einzelnen Mitgliedsländer einer Freihandelszone allerdings ihre individuellen Außenzölle. Dies ist auf der einen Seite eine notwendige Voraussetzung, um eigenständige Freihandelsabkommen mit Drittländern abschließen zu können – bringt allerdings auf der anderen Seite auch neue Probleme mit sich. Hierzu zählt insbesondere die Gefahr der Umwegeinfuhren. Sollte Großbritannien seine Zölle – wie dies insbesondere von den Befürwortern eines harten Brexits geplant war – nach dem Austritt aus der EU deutlich (unter das Niveau der EU) senken, dann wäre es für Anbieter aus Drittländern lukrativ, ihre Waren, die für ein Mitgliedsland der EU bestimmt sind, über den Umweg Großbritannien einzuführen, um auf diese Weise die höheren EU-Zölle zu umgehen. In der Regel wird dieses Problem mit Hilfe von Ursprungszeugnissen ausgeräumt, wobei das Lieferland (GB oder Drittland) an der Wertschöpfung festgemacht wird. Erst ab einem bestimmten Anteil an der Wertschöpfung gilt das Produkt als eine Ware aus dem Mitgliedsland der Freihandelszone (GB). Nur bei Waren aus Großbritannien wäre aber die Zollfreiheit im Handel mit der EU gegeben. Bei Waren aus Drittländern, die für die EU bestimmt sind, sehen die Vorschläge im Weißbuch daher vor, dass Großbritannien die entsprechenden Zollsätze der EU anwendet und die dabei erzielten Zolleinnahmen an die EU weiterleitet. Dies impliziert erstmals, dass bei Umwegeinfuhren keine Nachverzollung im endgültigen Bestimmungsland sondern die Zollerhebung bereits beim Eintritt in die Freihandelszone erfolgt.
Um die Unterscheidung gemäß der Herkunft vornehmen zu können, bedarf es aber eines sehr engmaschigen und aufwändigen Kontrollsystems, das mit hohen Kosten verbunden ist. Der Vorschlag, die adäquate Zollerhebung bereits bei Eintritt in die Freihandelszone vorzunehmen ist daher wohl auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass man die (zusätzlich) anfallenden Kosten nicht der EU aufbürden will, um so die Akzeptanz des Vorschlags zu erhöhen. Neben den Kosten ist allerdings unklar, ob sich ein solches Kontrollsystem überhaupt in absehbarer Zeit einrichten und umsetzen lässt.
Die Anbindung des Warenhandels an die EU in Form einer Freihandelszone ermöglicht es Großbritannien grundsätzlich, eigene Präferenzabkommen mit Drittländern wie etwa den USA abzuschließen. Der Abschluss solcher Abkommen könnte sich allerdings umso schwieriger gestalten, je enger sich Großbritannien (weiterhin) an die Regulierungen der EU anpasst. Denn dadurch wäre der Verhandlungsspielraum weitgehend auf die Höhe der Zollsätze reduziert.
Lässt sich die Freihandelszone in der oben beschriebenen Form umsetzen, so würde dies zu Wohlfahrtsgewinnen in allen beteiligten Ländern führen. „Mehr (auch nur partieller) Freihandel zwischen [der] EU und GB ist besser als weniger oder gar kein Freihandel. Und er nützt beiden.“[4] Daher sollte dieser Vorschlag von Seiten der EU auch nicht als „Rosinenpicken“ interpretiert werden. Im Kern handelt es sich um ein umfassendes Präferenzabkommen zwischen der EU und Großbritannien, das beim Warenhandel zwar über die Abkommen etwa mit Japan (JEFTA) und Kanada (CETA) hinausgehen würde, das aber – wie die zuvor genannten – im beiderseitigen Interesse ist und Großbritannien keine einseitigen Vorteile verschafft. Der einzige Unterschied besteht darin, dass im Falle Großbritanniens keine Märkte (weiter) geöffnet werden, sondern die gegenwärtig offenen Märkte auch in Zukunft frei zugänglich bleiben.
Großbritannien will darüber hinaus über Assoziierungsabkommen in solchen EU-Agenturen verbleiben bzw. mitarbeiten, die den freien Warenhandel unterstützen, und in diesem Rahmen auch weiterhin in verschiedene EU-Etats einzahlen. Hierzu gehören etwa die European Aviation Safety Agency, die European Chemicals Agency und die European Medicines Agency – aber auch Europol sowie das Studierendenaustauschprogramm ERASMUS. Der neue, für den Brexit zuständige Staatssekretär, Dominic Raab, hat aber bereits deutlich gemacht, dass Großbritannien nach dem Austritt aus der EU kein Geld mehr ohne Gegenleistung bereitstellen wird. Konflikte mit der EU bezüglich der Auslegung der Binnenmarkt-Regelungen sollen im Rahmen von Streitschlichtungsverfahren beigelegt werden. Während die Vorschläge des Weißbuchs allerdings nur vorsehen, dass britische Gerichte die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) „angemessen“ berücksichtigen sollen, beharrt die EU (bisher) darauf, dass der EuGH die oberste Rechtsprechungs-Instanz bleibt.
Für den Bereich der Dienstleistungen strebt Großbritannien in Zukunft keinen präferierten Zugang zum Binnenmarkt mehr an. Das bedeutet, dass die Vorteile des „Passportings“ für in Großbritannien ansässige Banken wegfällt und man sich entweder den unterschiedlichen Regulierungsbedingungen in den Mitgliedsländern der EU unterwerfen muss oder den Firmensitz in ein Land der EU verlegen muss, um auf diese Weise wieder in den Genuss des „Passportings“ zu kommen. Auf eine solche Umsiedlung hoffen insbesondere Frankfurt und Paris als wichtige Finanzzentren in der Rest-EU. Auch ein – wenn auch deutlich eingeschränkter – Zugang zum Binnenmarkt über die Anerkennung der Gleichwertigkeit entsprechender Regulierungsvorschriften ist im Weißbuch nicht (mehr) vorgesehen.
Der freie Personenverkehr insbesondere in Form der Arbeitnehmerfreizügigkeit soll in Zukunft deutlich eingeschränkt werden. Das Weißbuch sieht allerdings ein „Rahmenwerk für Mobilitätât“ vor, wodurch es möglich sein soll, EU-Bürger zumindest „temporär“ in Großbritannien zu beschäftigen. Dabei will man den Zugang wohl in erster Linie auf hochqualifizierte Arbeitnehmer und Studierende beschränken.
Mit den im Weißbuch enthaltenen Vorschlägen versucht die britische Regierung, im Bereich des Warenhandels eine möglichst enge Bindung an die EU aufrecht zu erhalten – obgleich dieser Bereich nur etwa 20 Prozent der britischen Wirtschaft ausmacht. Dies geschieht allerdings auf Kosten der Dienstleistungen und dort insbesondere auf Kosten der Anbieter von Finanzdienstleistungen, die ihren ungehinderten Zugang zu den Märkten der EU-Mitgliedsländer verlieren würden. Dies ist wohl der Preis, den man zu zahlen bereit ist, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit (weitgehend) einzuschränken sowie den freien Warenhandel – auch zur Lösung der Irland-Problematik – aufrecht zu erhalten.
Mit den neuen Vorschlägen bewegt sich die britische Regierung zwar ein wenig stärker in Richtung eines weichen Brexits. Voraussetzung für die Umsetzung dieses Fahrplans ist allerdings, dass Theresa May und ihre Regierung die jetzigen Vorschläge auch im britischen Parlament durchsetzen können, was angesichts des aktuellen politischen Chaos äußerst unsicher ist. Lassen sich die Vorschläge – die den Brexit-Gegnern nicht weit genug und den Brexit-Hardlinern zu weit in Richtung EU gehen – hingegen nicht durchsetzen oder werden sie von Seiten der EU nicht akzeptiert, dann droht im März nächsten Jahres ein ungeordneter Austritt Großbritanniens aus der EU, der für beide Seiten mit erheblichen ökonomischen Kosten verbunden wäre.
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[1] https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/725288/The_future_relationship_between_the_United_Kingdom_and_the_European_Union.pdf
[2] Vgl. https://dejure.org/gesetze/AEUV/57.html
[3] Vgl. hierzu ausführlich http://www.bankingpolicy.eu/wp-content/uploads/2017/07/BQB3-German-updated-NE-comments.pdf
[4] http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=23230
- Die Neuregelung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
Schlimmer geht immer! - 1. Februar 2024 - Der Brexit und das Vereinigte Königreich
Drei Jahre danach - 8. Januar 2024 - Wie geht es weiter mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt? - 20. August 2022
3 Antworten auf „Brexit … und kein Ende
Die aktuellen Vorschläge der britischen Regierung“