Nachdem am 13. November dieses Jahres durchsickerte, dass sich die Brexit-Unterhändler Großbritanniens und der EU auf den Entwurf eines 585 Seiten umfassenden Austrittsabkommens geeinigt hatten, ist es in Großbritannien zu einer innenpolitischen Krise gekommen. Obwohl das britische Kabinett den Text nach stundenlanger Debatte am 14. November mehrheitlich billigte, kam es am Tag darauf zu Rücktritten mehrerer Minister und Staatssekretäre, die erklärten, dieses Abkommen nicht mittragen zu wollen. Zu ihnen gehört auch der Brexit-Minister Dominic Raab. Spätestens nach der Verteidigung des Abkommens durch die Premierministerin Theresa May im Unterhaus wurde deutlich, dass es massive Widerstände sowohl in der eigenen Partei als auch bei der Opposition gibt, so dass vollkommen unklar ist, ob eine Mehrheit für den Vertrag im britischen Parlament zustande kommen wird. Darüber hinaus droht Theresa May möglicherweise ein Misstrauensvotum der eigenen Partei, dessen Ausgang ebenfalls offen wäre. Unbeeindruckt davon hat EU-Rats-Präsident Donald Tusk für den 25. November einen Sondergipfel der verbleibenden 27 EU-Staaten einberufen, bei dem der nun vorliegende Austrittsvertrag von Seiten der EU formell beschlossen werden soll.
Entzündet haben sich die heftigen Reaktionen dabei in erster Linie – wie bereits in allen vorherigen Vorschlägen – an der „Lösung“ des Nordirland-Problems. Bevor diese Problematik näher erläutert wird, soll zunächst kurz der (ökonomische) Inhalt des Austrittsabkommens insgesamt beschrieben werden, der folgende wesentliche Punkte enthält:
- Die Rechte von EU-Bürgern, die in Großbritannien leben und arbeiten, sowie von Briten, die in der EU leben und arbeiten werden geregelt. Beide Seiten behalten weitgehend ihre bisherigen Rechte – und zwar auf Lebenszeit. Dies gilt selbst für diejenigen Wanderungsbewegungen, die erst während der Übergangsphase bis Ende 2020 vollzogen werden.
- Zur Ermittlung der abschließenden Zahlung haben sich beide Seiten auf eine Methode zur Berechnung der finanziellen Rechte und Pflichten von Großbritannien geeinigt. Schätzungen gehen davon aus, dass für Großbritannien ein Nettobetrag von etwa 45 Mrd. Euro als Scheidungszahlung verbleiben wird. Aus britischer Sicht wird allerdings über den Zeitpunkt der Zahlung diskutiert. Es soll nach Möglichkeit nicht gezahlt werden, bevor eine „Gegenleistung“ in Form eines Freihandelsvertrags mit der EU vorliegt. Gegebenenfalls soll die Zahlung (komplett) verweigert werden.
- Zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland soll weiterhin eine „grüne Grenze“ ohne Kontrollen erhalten bleiben, um der Gefahr wieder aufflammender politischer Unruhen zu begegnen. In diesem Zusammenhang geht es ferner um den sogenannten „Backstop“, also um eine Notfallregelung für denjenigen Fall, dass sich die EU und Großbritannien nicht auf ein Freihandelsabkommen einigen können, das Kontrollen an der irischen Grenze überflüssig macht. Der nun vorliegende Austrittsvertrag sieht in dieser Hinsicht vor, dass ganz Großbritannien in der Zollunion mit der EU verbleibt – Nordirland sogar im Binnenmarkt für den Warenhandel. Damit gäbe es auf der irischen Insel keinerlei handelspolitische Beschränkungen.
Nach dem offiziellen EU-Austritt Großbritanniens am 29. März 2019 soll es zu einer Übergangsphase bis Ende 2020 kommen, während der Großbritannien faktisch Mitglied des gesamten Binnenmarktes bleibt, allerdings keine Mitgliedschaft und kein Stimmrecht mehr in den EU-Gremien sowie im Europaparlament besitzt und damit alle künftig dort beschlossenen Änderungen ohne eigenen Einfluss akzeptieren und übernehmen muss. Die Übergangsphase kann – nach einer Prüfung im Juli 2020 – einmal verlängert werden, wobei die maximale Dauer noch offen ist.
Ergänzt wird das Austrittsabkommen um eine politische Erklärung über das zukünftige (ökonomische) Verhältnis der beiden „Partner“ zueinander. Angestrebt wird demnach eine umfassende Freihandelszone ohne handelsbeschränkende Maßnahmen jeglicher Art, kombiniert mit fairen Wettbewerbsbedingungen! Von Seiten der EU wird dies so verstanden, dass Großbritannien zukünftig nicht in einen Steuerwettbewerb mit der EU eintreten darf sowie deren Umwelt-, Klima-, Arbeits- und Sozialstandards weitgehend übernehmen muss. Damit wäre man aber weiterhin in starkem Maße abhängig von den Regulierungen der EU und auch bei eigenständigen Freihandelsabkommen weitgehend gebunden.
Den Hauptstreitpunkt bildet allerdings das Irland-Problem (siehe Punkt 3 oben) und die dafür vorgeschlagene „Lösung“. Zur Erläuterung und begrifflichen Klärung soll zunächst noch einmal die Beziehung zwischen dem Binnenmarkt auf der einen Seite und der Zollunion auf der anderen Seite veranschaulicht werden: Der Europäische Binnenmarkt ist – wie Abbildung 1 veranschaulicht – durch die vier Grundfreiheiten, nämlich den freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr gekennzeichnet. Den Kern des freien Warenverkehrs bildet dabei die Zollunion, die durch einen Abbau aller Zölle und quantitativen Handelshemmnisse (etwa Kontingente) gekennzeichnet ist. Darüber hinaus sind die Außenzölle gegenüber Drittländern für alle Mitgliedsländer harmonisiert – also einheitlich hoch. Neben der Zollunion umfasst der freie Warenverkehr innerhalb des Binnenmarktes aber auch den Abbau aller nichttarifären Handelshemmnisse wie etwa länderspezifische Normen und Typisierungen. Diese haben ihre Wirkung im Laufe der Zeit dadurch (weitgehend) verloren, dass die nationalen Regulierungen entweder harmonisiert oder gegenseitig anerkannt wurden (Ursprungslandprinzip). Die Zollunion stellt also (nur) einen Teil des Binnenmarktes insgesamt und auch nur einen Teil des freien Warenverkehrs als eine der vier Grundfreiheiten dar.
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Ein in diesem Zusammenhang bedeutendes Charakteristikum einer Zollunion ist es nun, dass die Unionsmitglieder gegenüber Drittländern einen einheitlichen Außenzoll aufweisen. Bleibt Großbritannien also bis zum Ablauf der Übergangszeit Ende 2020 Mitglied des gesamten Binnenmarktes und damit auch Mitglied der Zollunion, so würde dies – zumindest vorübergehend – die Vorstellung der Brexit-Hardliner unmöglich machen, durch eigenständige Freihandelsabkommen die Außenzölle Großbritanniens weitgehend zu senken und dadurch den Handel mit Drittländern zum eigenen Vorteil anzukurbeln. Hierin sieht man von Seiten der Brexit-Befürworter ferner eine Möglichkeit, einen Rückgang des Handels mit der EU zu kompensieren. Darüber hinaus befürchtet man, dass sich die Übergangsphase, während der sich prinzipiell nichts ändert, immer weiter hinauszieht – womöglich mit dem Hintergedanken eines neuen Referendums, das eine Exit-Entscheidung vom Brexit zum Ergebnis haben könnte.
Als noch problematischer wird allerdings die „Backstop“-Lösung angesehen – also diejenige Regelung, die für den Fall greift, dass während der Übergangszeit kein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien abgeschlossen werden kann. Um auch unter diesen Umständen eine formale EU-(Außen-)Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland zu vermeiden ist vorgesehen, dass Großbritannien insgesamt (dauerhaft) in der Zollunion mit der EU verbleibt während Nordirland darüber hinaus auch die Mitgliedschaft im Binnenmarkt für den Warenhandel (freier Warenverkehr) behält. Dadurch würden weiterhin notwendige Kontrollen aufgrund voneinander abweichender Standards und Vorschriften etwa bei Tieren und Tierprodukten zwischen der EU und Großbritannien in die irische See verlagert – allerdings dann auf Kosten einer (ökonomischen) „Spaltung“ Großbritanniens. Die Möglichkeit, eigenständige Handelsabkommen mit Drittländern abzuschließen, wäre damit zugleich (auf Dauer) ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass Großbritannien diese Notfall-Lösung nicht auf eigene Initiative sondern nur im gegenseitigen Einverständnis verlassen kann. In den Augen der Kritiker erscheint es somit einfacher aus der EU selbst auszutreten, als die einmal vereinbarte Notfall-Lösung außer Kraft zu setzen.
Theresa May argumentiert in diesem Zusammenhang stets, die „Backstop“-Lösung würde überhaupt nicht relevant, weil es „mit Sicherheit“ zu einem Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU kommen wird. Dabei übersieht sie allerdings, dass sich auch und gerade bei einem umfassenden Freihandelsabkommen mit der EU erneut das „Irland-Problem“ stellen wird, für das man kaum eine andere „Lösung“ als die nun vorliegende finden wird. Damit wird aber die aktuelle Diskussion mit Blick auf den Warenhandel nur aufgeschoben, nicht aber aufgehoben. Dafür spricht auch, dass die EU davon ausgeht, dass Großbritannien bei den Verhandlungen über ein künftiges Freihandelsabkommen nicht mehr hinter die im vorliegenden Austrittsabkommen zugestandenen Regelungen – insbesondere bezüglich der „Backstop“-Lösung – zurückfallen kann.
Im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs herrscht gegenwärtig „nur“ das Prinzip der Nichtdiskriminierung – ausländische Anbieter dürfen also gegenüber den inländischen Anbietern nicht schlechter gestellt werden. Mit folgender Ausnahme: Im Bereich der Finanzdienstleistungen gilt das sogenannte „Passporting“[1], das in etwa dem Ursprungslandprinzip beim Warenhandel entspricht. Demnach kann ein Finanzdienstleister, der seinen Firmensitz in einem Mitgliedsland der EU hat, (mit minimalen zusätzlichen Genehmigungsanforderungen) seine Dienstleistungen zu den Regulierungsbedingungen des Sitzlandes auch in allen anderen Mitgliedsländern anbieten – ohne dort geltende weitergehende Regulierungsvorschriften zu beachten. Dies hat dazu geführt, dass sich auch viele außereuropäische Banken in London angesiedelt haben, um von dort aus ihre Finanzdienstleistungen ungehindert den Kunden in der gesamten EU bereitzustellen.
Nach dem Verlassen des Binnenmarktes verbleibt nur noch eine eingeschränkte Möglichkeit, Finanzdienstleistungen innerhalb der EU ohne administrative Beschränkungen anbieten zu können. Hierzu müssen die Rechtsvorschriften des betroffenen Landes (Großbritannien) von der EU als „gleichwertig“ mit den eigenen Standards anerkannt werden. Eine solche Anerkennung der Gleichwertigkeit eröffnet allerdings deutlich geringere Möglichkeiten, was den Umfang der erlaubten Bankdienstleistungen betrifft, als dies beim Passporting der Fall ist.[2] Ferner kann die entsprechende Anerkennung jederzeit von der EU zurückgenommen werden und beinhaltet somit eine erhebliche Unsicherheit. Auf das Passporting hatte die britische Regierung allerdings bereits im sogenannten Chequers-Plan und dem in diesem Zusammenhang vorgelegten Weißbuch[3] (freiwillig) verzichtet. Darüber hinaus streben aber beide Seiten im Dienstleistungsbereich Vereinbarungen zum Luftverkehr, der Energie und der Fischerei an. Beginnen sollen die entsprechenden Verhandlungen unmittelbar nach dem Austritt Großbritanniens am 29. März 2019.
Der freie Personenverkehr, der es ermöglicht, den Wohnsitz sowie eine Arbeitsaufnahme in jedem Land der EU frei zu wählen sowie der freie Kapitalverkehr, der die Aufhebung aller Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs umfasst, entfallen nach Abschluss der Übergangsphase (wunschgemäß) komplett.
Der Austrittsvertrag muss nach der – für das kommende Wochenende erwarteten – Zustimmung durch die verbleibenden EU-Staaten und der britischen Regierung abschließend noch vom Europarlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden. Während die Zustimmung des Europaparlaments eher als Formsache angesehen wird, ist es hingegen vollkommen offen, ob auch das britische Parlament den jetzt vorliegenden Austrittsvertrag akzeptieren wird.
Vor dem Hintergrund der zuvor erläuterten Regelungen haben sich nämlich die Widerstände dagegen aus verschiedenen politischen Richtungen formiert. So sehen sich die nordirischen Unionisten (DUP), deren 10 Stimmen Theresa May für eine Mehrheit im Unterhaus benötigt, nicht in der Lage einer Vereinbarung zuzustimmen, durch die Großbritannien „zerschlagen“ wird. Brexit-Befürworter wie der Abgeordnete Rees-Mogg werfen der Premierministerin hingegen vor, Brüssel zu viele Zugeständnisse (Zollunion, Übernahme von EU-Standards) gemacht zu haben, was aus seiner Sicht einer Kapitulation gleichkommt. Großbritannien werde auf diese Weise vom „Vasallenstaat“ zum „Sklavenstaat“. 13 schottische Unterhausabgeordnete der Konservativen Partei drohen wiederum damit, gegen das Abkommen zu stimmen, wenn nicht bis Ende 2020 der Ausstieg aus der gemeinsamen Fischereipolitik garantiert wird – womit aus gegenwärtiger Sicht nicht zu rechnen ist. Darüber hinaus wird erwartet, dass auch die schottischen Tories gegen eine Sonderbehandlung Nordirlands stimmen werden weil sie befürchten, die schottischen Nationalisten könnten dann ebenfalls eine engere Anbindung an die EU fordern. Deren Vorsitzende, Nicola Sturgeon, hat sich bereits beklagt, dass das Abkommen in der jetzigen Form Nordirland einen unfairen Vorteil gegenüber dem Rest Großbritanniens verschaffen würde.
Sollte das britische Parlament allerdings die Zustimmung verweigern, wäre ein harter Brexit mit einem Rückfall Großbritanniens auf den WTO-Status wohl kaum noch abzuwenden, denn die dann verbleibende Zeit für umfangreiche Neuverhandlungen wäre äußerst knapp bemessen. Nach dem Austritt am 29. März 2019 käme es unter diesen Umständen wieder zu Grenzkontrollen zwischen Großbritannien und der EU sowie zur Einführung von Zöllen auf beiden Seiten. Lieferketten würden zerschlagen, der verbleibende Handel verteuert und (längerfristig) Investitionen verlagert. Die damit verbundenen Wohlfahrtsverluste würden allerdings in erster Linie Großbritannien treffen. Außerdem stünde man in diesem Fall gänzlich ohne eine Lösung für das Irland-Problem da, denn ohne Austrittsvertrag greift auch kein „Backstop“. Am Ende wäre das Chaos insgesamt noch weit größer als bisher – und zwar sowohl in ökonomischer Hinsicht als auch bezüglich der innenpolitischen Lage in Großbritannien.
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[1] Vgl. hierzu ausführlich: http://www.bankingpolicy.eu/wp-content/uploads/2017/07/BQB3-German-updated-NE-comments.pdf
[2] Vgl. hierzu ausführlich: https://www.ukfinance.org.uk/wp-content/uploads/2017/10/BQB4-German-UKF.pdf
[3] Vgl hierzu: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=23296
- Die Neuregelung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
Schlimmer geht immer! - 1. Februar 2024 - Der Brexit und das Vereinigte Königreich
Drei Jahre danach - 8. Januar 2024 - Wie geht es weiter mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt? - 20. August 2022
Im Vereinigten Königreich werden schon die Steuersenkungen für die Zeit nach dem Brexit geplant. Ob diese aber die zu erwartenden ökonomischen Nachteile des Brexit – oder gar das Chaos im Falle eines „harten Brexit“ – aufwiegen können, ist äußerst fraglich. Das ifo Institut hat im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen 1.250 deutsche Unternehmen befragt. Demnach verneinten 26,5 Prozent der befragten Familienunternehmen mit Geschäftsbeziehungen zu Großbritannien, dass britische Steuerreformen und -senkungen die möglichen Nachteile des Brexits aufwiegen könnten. Unter den großen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern lag dieser Anteil sogar bei 37,1 Prozent. Nur 10,8 Prozent der befragten Familienunternehmen gaben an, dass eine Steuerreform die Nachteile des Brexits wettmachen könne. Unter den Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten waren es 14,6 Prozent. Mehr dazu: https://www.familienunternehmen.de/de/pressebereich/meldungen/2018/2018-09-27/steuersenkungen-gleichen-nachteile-des-brexit-nicht-aus