1. Thomas S. Kuhns Paradigma
In Deutschland dämmert es, in Europa auch: Die gewohnten politischen Paradigmen zerfallen zusehends, neue Ideen kommen in die politische Arena. Es war der US-amerikanische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, der 1962 in seinem epochemachenden Werk über die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ den Begriff des Paradigmas und damit auch des Paradigmenwechsels in die (zunächst) wissenschaftliche Diskussion eingeführt hat. Er erklärt den wissenschaftlichen Fortschritt mit einer revolutionären Ablösung eines alten durch ein neues Paradigma. Ein Paradigma ist ein System an Grundüberzeugungen, die die Vertreter einer Disziplin oder „Schule“ verbinden, also die gemeinsamen Wertvorstellungen, Vorurteile, Urteile, Methoden und Ausdrucksmittel. Das nennt Kuhn die „Normalwissenschaft“. Außerhalb des Paradigmas der Normalwissenschaft existieren andere Grundüberzeugungen als „Anomalien“, als abweichende Randpositionen ohne allgemeine Akzeptanz. So dominiert und verdrängt die Normalwissenschaft als paradigmatisches Kartell der „normalen“ Wissenschaftsanbieter die „Anomalien“ der Außenseiter. Innerhalb dieses etablierten Anbieterkartells gibt es im Rahmen des allgemein akzeptierten Paradigmas durchaus Wettbewerb der Ideen, also Projektrivalitäten, jedoch auch Coopetition, also Kooperation im Wettbewerb.
Aber dieses monopolistische Normal-Kartell steht durchaus im, zunächst intensitätsschwachen, Wettbewerb mit den abweichenden „anomalen“ Außenseitern. Im Laufe der Zeit, so die Erfahrung, lassen sich die Phänomene dieser Welt aber nicht mehr mit dem Paradigma der Normalwissenschaft erklären: Das Normalparadigma erscheint zunehmend als Anomalie, ohne dass ihre Dominanz aber schon als gefährdet gelten kann. Schließlich wird jedoch, zum Beispiel, das ptolemäische Weltbild durch das kopernikanische ersetzt, sozusagen „revolutionär“ gestürzt. Zu diesem revolutionären Paradigmenwechsel als Tabubruch kommt es, wenn aus dem etablierten Kartell der „Normalanbieter“, aber vor allem aus der Szene der Außenseiter eine neue Sicht der Dinge dieser Welt überzeugend angeboten werden. Die neue und die alte Sicht unterliegen der Inkommensurabilität : Sie sind nicht vergleichbar, jedenfalls ist das Neue nicht mit den Maßstäben der alten Sicht zu messen und zu verstehen: Kopernikus kann nicht aus der Sicht von Ptolemäus erklärt werden.
Zum Paradigmenwechsel braucht es jedoch eine kritische Masse von Außenseitern, die die Gläubiger der bisherigen Paradigmen entmachten und einen Paradigmenwechsel überzeugend einleiten. Diese kritische Masse bildet sich, wenn sich genügend viele Protagonisten des neuen Paradigmas finden, wenn also die Zeit dafür „reif“ ist, Neues zukunftsorientiert überzeugend zu denken. Wer dem alten Paradigma verhaftet bleibt, verschwindet über kurz oder lang aus dem dominanten „Normalen“ in die unbedeutende Anomalie und damit schließlich ins Vergessen. So kann man sagen, dass es die Diskontinuität ist, die die Entwicklung einerseits von der Anomalie zur Normalität und andererseits von den Erstarrungen der Normalität zur Anomalie kennzeichnet. Man kann auf Schumpeter verweisen, der von „unsteten Stößen“ spricht, die die Zeiten relativer Ruhe trennen und die „Schöpferische Zerstörung“ demonstrieren.
2. Paradigmenwechsel in Deutschland
Vor diesem analytischen Hintergrund erscheint es geradezu faszinierend, die gegenwärtigen Aktivitäten in der deutschen Politik-Arena unter die Lupe zu nehmen. Das parteipolitische Agieren kennzeichnet eine Zeit des dämmernden, aber noch gehemmten Paradigmenwechsels. Dieser wird sich nach der Bayern- und Hessenwahl vermutlich machtvoll entfalten. Denn die Parteien als oligopolistische Paradigmen-Anbieter können sich mit ihren Programmen auf ihre Stammwähler nicht mehr verlassen, weil sie ihnen weitgehend weglaufen. Die Folge ist, dass die Parteienlandschaft sich zusehends atomisiert. Der inter-parteiliche politische Wettbewerb funktioniert. Und der politische Wettbewerb auch innerhalb der Parteienfamilien unterminiert deutlich die intra-politischen Paradigmen:
Bei den Linken heißt es „Aufstehen“ als Gegenbewegung innerhalb des gewohnten linken Bundestagsparadigmas, das sich zerfledert und deshalb mit dem Kuhnschen Terminus der disziplinären Matrix tituliert werden kann, die sich innerhalb eines übergeordneten – hier sozialistischen – Paradigmas mit speziellen Paradigmen, also politischen Einzelprojekten, herausbildet. Bei der CDU wird der inhaltliche Paradigmenwechsel zurzeit vor allem personalpolitisch inkorporiert und überlagert: Brinkhaus, Kramp-Karrenbauer, Spahn repräsentieren wohl die von der Bayern- und Hessen-Wahl geprägte Warteschleife zum inhaltlichen Paradigmenwendel. Durch diese Funktionsträger scheint inhaltlich und personell im Team der Parteispitze ein zukünftiger Paradigmenwechsel vor allem im Sinne der disziplinären Parteimatrix alsbald wahrscheinlich. Dieser Wechsel wird wohl, wenn nicht alles in den drei Persönlichkeiten täuscht, in der Partei Ludwig Erhards eine paradigmatische Hinwendung zu wieder mehr Marktwirtschaft und weniger staatliche (Über-)Regulierung bedeuten (müssen). In der CSU ist der personelle Paradigmenwechsel mit Söder wohl durchgeführt, inhaltlich lugt der Suchprozess durch ihn nach paradigmatischer Erneuerung hervor, der sich wohl nach der Bayernwahl erst bahnbricht und nicht ohne den künftigen Koalitionspartner ausgelebt werden kann.
Die SPD stochert in der Post-Schulz-Suche nach einem neuen inhaltlichen Paradigma bisher erfolglos herum, nachdem die „Soziale Gerechtigkeit“ als paradigmatischer Wahlslogan und zugleich als hayeksches Wieselwort keine genügende Wählerakzeptanz bekommen hat. Traditionell dem Arbeitermilieu verbunden, fällt der SPD der Paradigmenwechsel zu modernen Arbeitsmarktinstitutionen mit reduzierter traditioneller Gewerkschaftsmacht offenbar schwer. Die Liberalen warten auf die Bildung einer genügend großen kritischen Masse der Stimmen im Bundestag, vermutlich um diese im potentiellen Paradigmenwechsel in einer neuen Koalition zu mehr freiheitsorientierter Politik wahlstrategisch zu unterstützen. Mit ihrem Verlangen nach der Kanzlerin-Vertrauensfrage sind sie der Kuhnschen Terminologie des revolutionären Paradigmenwechsels wohl am nächsten. Die Grünen versuchen offenbar, ihr traditionelles Paradigmen-Schild der Bürgerbevormundung, des Vorschreibens, Regulierens und Bestrafens mit den neuen Führungsteams scheinbar abzumildern, aber nicht paradigmatisch aufzugeben. Denn das Traditionsparadigma der besseren grünen Moral, die die ökonomische Ratio dominieren müsse, kommt bei vielen Wählern zurzeit gut an. Die AfD muss sich inhaltlich erst finden, sie ist sozusagen in einer vorparadigmatischen Phase, um dem Begriff des Normalparadigmas sowie des inhaltlichen Paradigmenwechsels unterliegen zu können. Sie ist eher noch eine flatternde disziplinäre Matrix. Nicht zu leugnen ist jedoch, dass sie im politischen Parteienwettbewerb wechselparadigmatisch auf die anderen Parteien einwirkt. Dabei gilt wohl, was die beim Wählervolk politisch gewünschten Inhalte anlangt, signifikant das Prinzip der inter-parteilichen kommunizierenden Röhren: Was die einen Parteien paradigmatisch vernachlässigen, fangen andere auf.
3. Paradigmenwechsel in Europa
In Sachen Europa ist die Flucht aus den gewohnten Paradigmen, wie sie von den EU-Politikern als kanonische Dogmen schon jahrzehntelang vorgetragen werden, bereits länderunterschiedlich real vorhanden, der Paradigmenwechsel läuft. Das ursprüngliche EU-Paradigma der ever closer union, das dem europäischen Integrationsprozess unumkehrbar unterliege, wird von immer weniger Staaten noch akzeptiert. Sie befördern es im Kuhnschen Sinne vom Zustand des Normalparadigmas zur Anomalie. Dabei ist Großbritanniens Brexit-Wunsch die Speerspitze der EU-paradigmatischen Exit-Option. Vor allem Frankreich, Italien und die Mittelmeerstaaten dominieren die Abschaffung bzw. Nichtbeachtung der kodifizierten Paradigmen der Eigenverantwortung jedes Landes für seine Wirtschafts-, insbesondere Finanzpolitik der Stabilitätsorientierung und Verschuldungsdisziplin. Die EZB-Politik untergräbt dieses national-orientierte Stabilitätsparadigma durch ihre Nullzinspolitik, die ihr Präsident Draghi für das monetäre Normalparadigma hält, obwohl die ökonomisch desaströsen Folgen offenliegen und als schwere Anomalie bezeichnet werden können. Vielmehr verweigert Draghi bisher einen monetär-politischen Paradigmenwechsel, zum Beispiel hin zur Österreichischen Schule der Klassifikation Mieses/Hayek, deren Qualität Draghi im Vergleich zu seiner geldpolitischen Philosophie offenbar als Anomalie betrachtet. Einen möglichen Paradigmenwechsel hat er für frühestens Herbst 2019 angekündigt.
Das national orientierte Paradigma der Selbstverantwortung, das in der EU zunehmend durch das im hayekschen Sinne wieselwortartige Paradigma der Solidarität ersetzt worden ist, wird oft genug fälschlicherweise als Rückschritt zum Paradigma des gefährlichen Nationalismus klassifiziert, das es in Europa und überhaupt in einer Welt der Globalisierung zu überwinden gelte. Dabei wird die Tatsache übersehen, dass das Nationale nicht nur die Wurzel der Vielfalt Europas bildet, sondern auch das für den Erhalt dieser Vielfalt notwenige Paradigma des inter-nationalen Institutionenwettbewerbs garantiert. Hier wird dann das Nationale grundsätzlich nicht mehr als integrationspolitische Anomalie, sondern zunehmend wieder als Normalparadigma für den EU-Integrationsprozess klassifiziert. Die Entwicklungen in Polen, Ungarn, der Slowakei und anderen EU-Staaten dokumentieren differenzierte Formen der EU-paradigmatischen Wechselbereitschaft mindestens im Sinne der disziplinären Matrix Kuhnscher Provenienz. Was in der EU in Bezug auf diese Länder als Weg in die demokratische Anomalie angesehen wird, halten diese ihren abweichenden Weg als Normalparadigma. Italien spielt sichtbar auch mit dem Itex-Paradigmenwechsel, verbunden mit Ideen zum Euro-Austritt, die vielleicht nur theoretisch und als Drohgebärde gemeint sind, aber doch nicht ins total Unwahrscheinliche und Inakzeptable abzuschieben sind. Ganz im Gegensatz zu den gegenwärtigen Plänen zur Erhöhung des Staatsdefizits, wird Italien – und nicht nur dieses Land – nicht herumkommen, in der Verschuldungsfrage schnell einen Paradigmenwechsel einzuleiten, der aus dem gegenwärtig Anomalen seiner Überschuldungssituation zur Normalsituation der langfristigen Schuldentragbarkeit führt.
4. Fazit
Was ist das Normalparadigma in der Politik, was ist politische Anomalie? Thomas S. Kuhns Konzept des Paradigmas und des (revolutionären) Paradigmenwechsel ist als originelle Grundlage für die Analyse der gegenwärtigen politischen Trends in Deutschland und Europa fruchtbar. Paradigmen und Paradigmenwechsel zeugen von Vielfalt und von Veränderungen erstarrter politischer Weltbilder. Sie sind die Treiber des Fortschritts. Vielfalt im politischen Deutschland heißt zum Beispiel, dass zukünftige Koalitionen sich bilden (können), die nicht unbedingt die Abstimmungsmehrheit im Bundestag besitzen, die Minderheitsregierungen also nicht als Anomalien betrachten, sondern durchaus als Normalinstitutionen. Diese müssen sich dann bewähren und, wenn nicht, als Anomalien verschwinden. Was Europa betrifft, so kollidiert die Erstarrung des offiziellen EU-Weltbildes der zentralisierten ever closer union als zunehmende Anomalie mit dem zukunftsorientierten Normalparadigma eines Europas der nationalen Vielfalt, der Differenzierung, des Unterschieds.
- Ordnungsruf
Der Bundesfinanzminister ist kein Freund des Steuerwettbewerbs
Er verkennt die Realität - 22. Januar 2020 - Ordnungsruf
Warum gibt es keinen Ökonomen im Deutschen Ethikrat? - 13. Oktober 2019 - Bitte kein Zentralabitur in Deutschland! 10 Thesen - 26. Juli 2019