Viele der Herausforderungen, vor denen Politiker heute stehen, sind nicht neu. Lehren aus der Vergangenheit haben sie kaum gezogen. Was zurzeit passiert, kann Ökonomen fast aller Schulen nur in die Verzweiflung treiben.
Lord Keynes hat viele kluge und manche weniger überzeugende Sätze gesagt. Eine Aussage wird besonders häufig zitiert, nämlich die Aussage, dass kluge Pragmatiker in der Regel die Sklaven einiger „defunct economists“ seien. Wenn man sich die Welt ansieht, kann man das kaum glauben, denn bis heute haben Ökonomen aller Generationen eine einigermaßen klare und schlüssige Politik vorgeschlagen.
Klar und schlüssig sind die politischen Leitideen in der Weltwirtschaft gerade nicht. Zu abenteuerlich und riskant erscheint, was gegenwärtig an vielen Orten passiert. Fünf keineswegs erschöpfende Beispiele verdeutlichen dieses Problem sehr klar.
• Beginnen wir in Deutschland. Obwohl die Gesellschaft altert und der Fachkräftemangel schon überall durchschimmert, schafft es die Bundesregierung nicht, ein vernünftiges Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen, das den Arbeitsmarkt wie auch die Alterssicherung entlasten könnte. Stattdessen hat sie es aber vermocht, das ohnehin durch die demographische Entwicklung angeschlagene Rentensystem dadurch weiter zu destabilisieren, dass den gut gestellten aktuellen Rentnern noch einige Geschenke gemacht werden; die Rente wird immer mehr zum Teil der Steuerpolitik. Dabei ist unser Steuersystem bereits eines der unübersichtlichsten auf dem Globus. Das hätte sich kein Ökonom so ausdenken können.
• Blicken wir ein wenig nach Westen, dann sehen wir eine Regierung, die verzweifelt versucht, das Ergebnis eines auf Lügen und Vorurteilen basierenden Referendums so in die Realität umzusetzen, dass das Vereinigte Königreich nicht im Chaos versinkt. Gut stehen die Chancen nicht. Der im Juli unterbreitete Vorschlag einer Zollunion für Güter ist ein verzweifelter Versuch zu retten, was wohl nur mit einer radikalen Kehrtwende oder einer deutlichen Verlängerung des Verhandlungsmandates zu retten ist. Die Europäische Kommission hat wenig Entgegenkommen signalisiert; es könnte sogar ein Brexit ohne Vertrag drohen.
• Das sind noch die harmlosen Fälle. Präsident Trump reibt sich gerade an bilateralen Handelsbilanzsalden der Vereinigten Staaten (USA) mit China, Deutschland und anderen auf und versucht, diese mit Protektion und der Abkehr von regelgebundener Politik zu reduzieren, wenn nicht umzukehren. Dies kann nach theoretischen Überlegungen und empirischen Erfahrungen nicht gelingen. Man muss vielmehr befürchten, dass der Präsident nicht nur Wertschöpfungsketten zerschneidet, sondern auch für globalen Unfrieden sorgt. Schon einmal haben die USA mit einseitiger Isolationspolitik zu einer Verschärfung der ohnehin schlechten weltwirtschaftlichen Lage mit verheerenden Konsequenzen beigetragen. Der Merkantilismus ist trotz aller empirischer Evidenz nicht totzukriegen.
• Gleiches gilt für die Idee, Wirtschaftswachstum und Wohlstand mit der Notenpresse zu ermöglichen. Sowohl in der Türkei als auch in Venezuela versuchen die Regierungen, die schlechte Wirtschaftslage mit der Notenpresse zu bekämpfen. Dabei ist die Lage in Venezuela noch dramatischer, weil eine völlig inkompetente und dabei noch gewalttätige Regierung mit ihrem Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der sich hinsichtlich der Auswirkungen übrigens nur gering von dem des 20. Jahrhunderts unterscheidet, die Bevölkerung seit fast zwanzig Jahren systematisch in die Armut und zunehmend in die Emigration treibt. In ihrer Not versucht die Regierung nun, mit dem Drucken von Geld die Funktionsfähigkeit des Staates aufrechtzuerhalten. Das kann nicht klappen. Sämtliche Hyperinflationen in der Geschichte der Menschheit sind durch die Unfähigkeit der Regierungen, ihre Budgets zu finanzieren, verursacht worden. Gerade Lateinamerika bietet sehr lebendigen und abschreckenden Anschauungsunterricht.
• In der Türkei hat die Regierung unter Präsident Erdogan, die vor knapp zwanzig Jahren eine unter chronischer Strukturschwäche und Inflation leidende Wirtschaft reformierte und in ein Musteraufholland umwandelte, leider ebenfalls Maß und Mitte verloren. Der von Erdogan betriebene Demokratieabbau in Verbindung mit makroökonomischer Unvernunft hat ausländische Investoren verschreckt und zu einer Abwertung der türkischen Lira beigetragen. Die jüngste Eskalation durch die USA ist nicht die Ursache der türkischen Probleme. Oberste Priorität hätte im Moment deshalb die Inflationsbekämpfung und die Verhinderung einer weiteren Abwertung der Lira, die vor allem die im Ausland (und in Fremdwährung) hochverschuldete Wirtschaft trifft. Stattdessen wird die Zentralbank kujoniert und über ausländische Mächte als Schuldige schwadroniert.
Die Probleme der fünf Beispiele sind nicht neu. Wer in guten Zeiten die Wähler beschenkt und die nötigen strukturellen Veränderungen nicht vornimmt, muss das zukünftig regelmäßig teuer bezahlen. Prozesse ökonomischer Desintegration haben wirtschaftlich wie auch politisch hohe Kosten zur Folge. Und mit Inflation vernichtet man die Ersparnisse einer ganzen Generation.
Das alles ist bekannt. Es ist tragisch, dass Regierende diese Lehren nicht zur Kenntnis nehmen oder sich bewusst darüber hinwegsetzen. Während man der Bundesregierung sicherlich keine böse Absicht, aber vielleicht die fehlende Bereitschaft zur klaren theoretisch fundierten und historischen Analyse vorwerfen kann, sieht das bei den Herren Johnson, Trump, Erdogan und Maduro wohl anders aus. Sie interessieren sich vermutlich nicht für die Schäden, die sie anrichten. Ihr Machtbewusstsein steht über allen Sachfragen.
Wie konnte es passieren, dass solche Ideen das Schicksal ganzer Nationen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts so leichtfertig bestimmen? Wieso können die Gegenargumente die Mehrheiten nicht mehr überzeugen? Wieso erzeugen autokratisch veranlagte Populisten mit primitiven Vorstellungen soviel Begeisterung? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach. Vielleicht ist die Bereitschaft zur Reflexion bei vielen doch geringer als gedacht. Oder es funktionieren die Kontrollsysteme der Politik, die „Checks and Balances“ nicht richtig. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ökonomen etwas mehr oder weniger Keynes in ihren Analysen platzieren. Was zurzeit in vielen Ländern passiert, kann Ökonomen fast aller Schulen nur in die Verzweiflung treiben. Von den betroffenen Menschen gar nicht zu sprechen!
Hinweis: Der Beitrag ist am 24. August 2018 auf Wirtschaftswoche-Online erschienen.
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