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Demografische Irrtümer

Obwohl die demografische Alterung in Deutschland bereits seit den 1970er Jahren bekannt ist, wird das Thema im politischen und gesellschaftlichen Diskurs höchstens am Rande behandelt. So entsteht auf unternehmerischer Seite die Sorge, dass sich der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren trotz zunehmender Digitalisierung noch verstärken könnte. Auf politischer Seite wird anerkannt, dass der Medianwähler mittlerweile knapp 53 Jahre alt und in Gedanken schon deutlich näher am Ruhestand ist als noch vor ein paar Jahren, wodurch sich populistische Vorschläge zur Klientelbedienung wie die „Respektrente“ erklären lassen. Dieser Beitrag soll dabei helfen über ein paar demografische Irrtümer, die in der öffentlichen Diskussion immer wieder auftauchen, aufzuklären.

Irrtum Nr. 1

Die gesellschaftliche Alterung ist in Deutschland hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Menschen immer älter werden.

Der demografische Alterungsprozess lässt sich in Deutschland zum einen an der Fertilitätsrate der Bevölkerung und zum anderen an einer steigenden Lebenserwartung erkennen, die auf die Abnahme der Sterbewahrscheinlichkeit in höherem Alter sowie auf einen Rückgang der Kindersterblichkeit zurückzuführen ist.    Obwohl es auf den ersten Blick logisch erscheinen mag, dass insb. die Abnahme der Mortalität im hohen Alter für die Alterung verantwortlich ist, unterliegt man hier einem Trugschluss. Oft wird in Medien oder Literatur der demografische Wandel als Thema der längeren Lebenszeit behandelt und die eigentliche Ursache – die konstant niedrige Fertilität – als weniger bedeutende Randnotiz oder maximal als gleichwertig dargestellt. Dabei spielt die Anzahl der Lebendgeborenen pro Frau eine deutlich größere Rolle: Selbst, wenn sich die Lebenserwartung in Deutschland von heute auf morgen von 80 auf 100 Jahre erhöhen würde, hätte dies nur eine geringe Aussagekraft über die Bevölkerungsgröße in 100 Jahren, da diese Menschen alle noch geboren werden müssen.

Zudem konnte Birg (2005) in einer Simulationsrechnung zeigen, dass sich der Altenquotient (das Verhältnis der Anzahl der über 64-Jährigen zu den 20 bis 64-Jährigen) in Deutschland zwischen 1990 und 2050 sogar bei einer konstanten Lebenserwartung und einer Nettoeinwanderung von 200.000 Menschen jährlich verdoppeln würde.

Irrtum Nr. 2

Die Geburtenrate steigt auf den höchsten Wert seit 1973 – ein Trend ist gebrochen.

In den letzten Jahren konnte man sich pünktlich zu den neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes auf die Schlagzeilen verlassen, dass in Deutschland wieder mehr Kinder geboren werden und dass die Geburtenrate (Fertilität) mittlerweile auf 1,6 Kinder pro Frau angestiegen ist. Um die langfristige bestandsanhaltende Reproduktion (Ersatzniveau) einer Bevölkerung zu gewährleisten, erweist sich allerdings eine Fertilitätsrate von 2,13 Kindern pro Frau als nötig. Der Grund, weshalb mehr als zwei Kinder pro Frau benötigt werden, um die Bevölkerung konstant zu halten, liegt darin, dass lediglich 98 Prozent Frauen im gebärfähigen Alter die Altersspanne zwischen 15 und 50 Jahren überleben.

Allerdings ist diese Betrachtung für die demografische Entwicklung nur bedingt aussagekräftig. Wenn man die durchschnittliche Anzahl an Kinder der Frauen zwischen 15 und 50 ermitteln möchte, kann die Anzahl nur dann als repräsentativ erachtet werden, wenn die Frauen, die noch nicht das Ende des gebärfähigen Alter erreicht haben, die gleiche Kinderzahl und den gleichen Zeitpunkt der Geburt haben wie die vorangegangene Frauengeneration.

Der verzerrende Einfluss unterschiedlicher Altersstrukturen kann umgangen werden, wenn man die Anzahl der Lebendgeborenen in jedem Altersjahrgang der Frauen zwischen 15 und 50 ins Verhältnis zu der Anzahl der Frauen des entsprechenden Alters setzt, wodurch man die altersspezifischen Geburtenziffern erlangt. Aufsummiert erhält man so die s.g. Total Fertility Rate. Diese hat die vorteilhafte Eigenschaft, dass sie unabhängig von der tatsächlichen Bevölkerung ist, da sie für eine standardisierte Altersstruktur definiert ist. Dadurch ist ein zeitlicher Vergleich verschiedener Jahre möglich, ohne dass es zu einer Verzerrung aufgrund der von der Bevölkerung unterschiedlichen Altersstruktur im Zeitverlauf kommt. Allerdings wird auch bei der Total Fertility Rate eine kritische Annahme getroffen, die so in der Realität nicht vorkommt: Die altersspezifischen Geburtenziffern sind bei denjenigen Frauen, die das gebärfähige Alter schon durchlaufen haben genauso groß wie bei denen, die sich gerade darin befinden. Somit wird in dieser Querschnittsbetrachtung nicht berücksichtigt, dass sich normalerweise das generative Verhalten in Bezug auf die Kinderzahl pro Frau in jedem Jahrgang und das mittlere Proliferationsalter (timing) von Generation zu Generation verändert, wodurch sich keine Aussagen über zeitliche Veränderungen treffen lassen (van Imhoff 2001). Daher ist die Total Fertility Rate nur eine Maßzahl für das Fortpflanzungsverhalten von 36 verschiedenen gleichzeitig lebenden Frauenjahrgängen in einem bestimmten Kalenderjahr.

Als Alternative für die Total Fertility Rate eignet sich eine Längsschnittanalyse, die nicht nur einen Zeitpunkt, sondern die altersspezifischen Geburtenziffern einer Kohorte (36 Kalenderjahre) berücksichtigt. Die s.g. Cohort Fertility Rate hat einen deutlich stetigeren Verlauf, da Ereignisse, die die Fertilität beeinflussen, über 36 Jahre zusammengefasst werden. Ob sich Fertilität geändert hat, kann allerdings erst beantwortet werde, wenn die verschiedenen Jahrgänge das Ende des gebärfähigen Alters erreicht haben, weshalb bei der Bezeichnung von demografischen Trendwenden Vorsicht geboten ist.

Zudem muss die Größe der Kohorte berücksichtigt werden. In Deutschland werden nicht nur wenige Kinder pro Frau geboren, es gibt zudem nur wenige Frauen, die sich überhaupt im gebärfähigen Alter befinden, da diese durch den frühen Geburtenrückgang gar nicht erst geboren wurden. So hat Südkorea zwar nur eine Fertilitätsrate von 1,2, allerdings die gleiche Anzahl an Geburten pro 1000 Einwohner wie Deutschland, was daran liegt, dass der Geburtenrückgang in Deutschland deutlich früher eingesetzt hat.

Irrtum Nr. 3

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist ein guter Indikator, welches Alter die Menschen erreichen.

Obwohl die mittlere Lebenserwartung ein geeignetes Maß für die Gesundheit einer Bevölkerung ist, können damit nur bedingt Aussagen getroffen werden wie alt die Menschen in einer Gesellschaft werden. Das kann man an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Jahr 1870 in Deutschland bei etwa 38 und heute bei knapp 80 Jahren. Das bedeutet aber nicht, dass vor 150 Jahren besonders viele Menschen mit Ende 30 gestorben sind. Der Grund dafür liegt in der Säuglingssterblichkeit, die 1870 knapp 63-mal höher war als heute, wodurch die durchschnittliche Lebenserwartung verringert wurde. Betrachtet man die fernere Lebenserwartung von 60-Jährigen 1870 und heute, so liegt die Differenz nicht bei 42 Jahren wie bei der mittleren Lebenserwartung, sondern nur bei etwa zehn Jahren. Im Jahr 1870 lag die fernere Lebenserwartung eines 60-Jährigen bei 12 Jahren, heute liegt sie bei 22 Jahren.

Irrtum Nr. 4

Migranten können die Babyboomer Lücke schließen.

Obwohl Migranten im Durchschnitt jünger sind als die in Deutschland lebende Bevölkerung (rund 75 Prozent sind zwischen 14 und 64 Jahre alt und nur 0,5 Prozent älter als 65 (Wech 2016), dämpft dieser Effekt – anders als oft behauptet wird – die Alterung nur sehr gering. Dies wird deutlich, wenn veranschaulicht wird, wie viele Einwanderer notwendig wären, um den Altenquotienten konstant zu halten. Laut Berechnungen der Vereinten Nationen benötigte Deutschland bis 2050 188,5 Millionen Zuwanderer, um den Altenquotienten des Jahres 1995 zu stabilisieren (United Nations 2000). Das liegt daran, dass Migranten, obwohl sie jünger sind, genauso altern. Dieser Altenquotient würde anhand einer beispielhaften Rechnung durch Einwanderung von 3,85 Millionen Menschen bis zum Jahr 2040 um 5 Prozentpunkte geringer ansteigen und das Problem lediglich um ein paar Jahre nach hinten verschieben (Ludwig 2016). Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Einwanderer alle in Deutschland bleiben und das Land nicht nach einer gewissen Zeit wieder verlassen. Diese Zahlen verdeutlichen, dass Einwanderung zwar dem Schrumpfungsprozess einer Bevölkerung entgegenwirkt, allerdings auf den Alterungsprozess nur einen sehr geringen Einfluss hat.

Irrtum Nr. 5

Alle Aussagen über zukünftige demografische Entwicklungen sind unsicher.

Demografische Zukunftsaussagen hängen vor allem von den ihr unterlegenen Annahmen zur Fertilität, Mortalität und Migration ab. Dabei lassen sich Bevölkerungsvorausberechnungen in verschiedene Unterkategorien einteilen. Die bekannteste ist wohl die Bevölkerungsprojektion wie sie auch das Statistische Bundesamt durchführt, die je nach Annahme ein Prognoseintervall angibt. Eine Bevölkerungsprognose hingegen versucht die Annahmen zu treffen, die Prognosefehler möglichst minimieren. Zudem lassen sich mithilfe von Monte-Carlo-Simulationen stochastische Bevölkerungsvorausberechnungen anfertigen, die eine Vielzahl von Vorausberechnungen mit entsprechender Wahrscheinlichkeitsverteilung liefern.

Mit der Gründung der Population Devision der UN in den 1950er Jahren wurden die ersten seriösen Weltbevölkerungsprognosen für die nächsten 50 Jahre erstellt. Vergleicht man die Prognose zu der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung hat sich lediglich eine Abweichung von 1,5 Prozent ergeben. Vor allem für kürzere Zeiträume ist es deshalb unseriös, demografische Vorausberechnungen als „Horrorprognosen“ zu bezeichnen. Die Tatsache, dass sich der Altenquotient und damit auch die Anzahl der Rentner in den nächsten 35 Jahren fast verdoppeln wird ist daher sehr wahrscheinlich, da die zukünftigen Rentner schon heute bereites existieren.

Fazit

Die demografische Alterung ist in den nächsten Jahrzenten irreversibel, woran auch die leicht gestiegene Geburtenrate und die höhere Nettoeinwanderung der letzten Jahren nichts ändert wird. Nur wenn diese aus der Wissenschaft schon lange bekannten Fakten anerkannt werden, kann ein lösungsorientierter gesellschaftlicher Diskurs über die Folgen fruchtbar verlaufen.

Literatur

Birg, H. (2005): Die demographische Zeitenwende: Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, C.H. Beck, München.

Ludwig, A. (2016): Demographischer Wandel: Kapitalrenditen, Löhne und Verteilungswirkungen, Sustainable Architecture of Finance in Europe, White Paper Nr. 38.

United Nations (2001): Population Devision, Replacement Migration, http://www.un.org/en/development/desa/population/publications/pdf/ageing/replacement-chap4-d.pdf.

Van Imhoff, E. (2001): On the impossibility of inferring cohort fertility measures from period fertility measure, Demographic Research, 5 (2): 23-64.

Wech, D. (2016): ifo Migrationsmonitor: Deutschland – Zahlen, demographische Angaben, Qualifikationsstrukturen und Arbeitsmarktpartizipation, ifo Schnelldienst, 69 (6): 51-58.

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