Weniger Demokratie wagen!
Oder wie die Repräsentanten des demokratischen Rechtsstaates diesen zugrunde reden werden, wenn wir sie lassen

Die notorische Verwechslung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den öffentlichen Verlautbarungen gerade auch der rechtsstaatstragenden Parteien gehört zu den für den demokratischen Rechtsstaat gefährlicheren Erscheinungen. Wenn rechtsstaatstragende Parteien sich von der Linken und der AFD wirksam abgrenzen wollten, müssten sie sich mit dem Thema des Verhältnisses von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ernsthaft auseinandersetzen. Das geschieht jedoch nicht. Was man hört sind populistische formelhafte Zurückweisungen des Populismus.

Das Hinterzimmer ist besser, als sein Ruf

Gedankenlos redet unsere “politische Klasse” auf dem Medienstrich über Demokratie, wenn sie doch eigentlich den demokratischen Rechtsstaat meint oder doch meinen müsste. Es sind nicht die demokratischen Abstimmungsverfahren als solche, die die Rechtsstaatlichkeit und die Bindung aller Gewalten an rechtliche Regeln ausmachen. Die Abstimmungen sind nur ein Element in dem komplexen Erfolgsmodell des westlichen demokratischen Rechtsstaates. Allgemeine und freie Wahlen sind unverzichtbar, um den demokratischen Rechtsstaat zu erhalten und eine “feindliche Übernahme” durch Partikularinteressen zu erschweren. Sie garantieren die Repräsentation pluraler Auffassungen und Interessen durch den Zwang, nicht nur temporäre, problemgebundene Mehrheiten zu spezifischen Einzelfragen zu bilden, sondern Gesamtpakete von Maßnahmen zu schnüren, die konkurrierende Maßnahmen mindestens implizit als Opportunitätskosten berücksichtigen.

Über die inner- und zwischenparteiliche Koalitionsbildung hinaus ist es notwendig, dass die gewählten Vertreter und andere von diesen indirekt bestimmte Funktionsträger Interessenausgleiche im Verhandlungswege erreichen können. Diese Verhandlungen sind darauf angewiesen, der öffentlichen Beobachtung teilweise entzogen zu sein. Eine wirklich schlechte Idee wäre es, wenn man nicht nur die Plenums-, sondern auch Ausschussdebatten der Parlamente in den Medien übertrüge. Dass heutige Politiker es vermeiden, in der Öffentlichkeit gegen das vorgebliche Recht der Medien auf umfassende Berichterstattung aufzutreten, ist bedenklich.

Es gibt viele Ergebnisse, die im Interesse der Bürger sind, doch nur im “Hinterzimmer” erzielt werden können. Die Repräsentanten sind in der repräsentativen Demokratie dazu beauftragt, solche Ergebnisse zu suchen. Sie sind im Vorhinein gerade nicht verpflichtet, bestimmte Ergebnisse zu verwirklichen. Im Gegensatz zur Auftragsdemokratie wird in der repräsentativen Demokratie im Nachhinein durch Wieder- bzw. Abwahl im Lichte der Resultate darüber entschieden, ob die Repräsentanten das Vertrauen hinreichend vieler Bürger aus deren je spezifischer Sicht verdienten.

Wer das Vertrauenselement der repräsentativ-demokratischen Rechtsstaatlichkeit verkennt oder sich wider bessere Erkenntnis öffentlich bei denen, die die Auftragsdemokratie bevorzugen, anbiedert, lädt dazu ein von Populisten beim Wort genommen zu werden. Die Gegner der Rechtsstaatlichkeit säen nicht von ungefähr Misstrauen gegen die demokratischen Institutionen und die Repräsentanten in den Parlamenten. Selbstverständlich ist es notwendig, immer Rechenschaftslegung von den Repräsentanten zu verlangen; aber nicht über die Erledigung von Aufträgen.

Wenn die Aufträge unspezifisch sind, dann werden diese, wie das Brexit-Votum enden. Es ist unverzeihlich, dass David Cameron aus innerparteilicher Zwangslage heraus mit einer an sich unverbindlichen Volksabstimmung kräftig an dem legitimatorischen Ast sägte, auf dem die britische Demokratie zuvor recht sicher saß. Das war ein Systembruch. Das Ergebnis des Referendums war zudem so unspezifisch, dass es von den intensiven Minderheiten, die im Besitz der öffentlichen Deutungsmacht waren, dazu herangezogen werden konnte, ihren je eigenen Vorstellungen die Aura eines imperativen Mandats zu verleihen.

Eine direkte Abstimmung über Kandidaten ist etwas anderes. Die Identität der Kandidaten ist wenigstens klar. Man weiß letztlich nicht, wie die Kandidaten, die man als Repräsentanten wählt, vorgehen werden, aber man bleibt wenigstens dem Prinzip der Repräsentation treu. Wobei im Beispielsfalle vermerkt sei, dass die Mehrheiten in der Konservativen Partei Großbritanniens durch eine Beitrittswelle von Personen, denen es nur um den Brexit geht, mitbestimmt werden. (Innerparteiliche Demokratie ist ohnehin nicht repräsentativ für die Gesellschaft als ganze und im vorliegenden Fall nicht einmal repräsentativ für die Ansichten langfristiger Mitglieder der Konservativen.)

Die Auftragsdemokratie, bei der im Vorhinein über konkrete Aufträge an Politiker abgestimmt wird, ist in jedem Falle etwas anderes als die repräsentative Demokratie. Was kann der Auftragsdemokrat gegen den Vorschlag sagen, mit der Demokratie wirklich ernstzumachen? Warum sollen die Bürger nicht selbst — etwa über ihre Mobilfunkgeräte bzw. über ihnen staatlich zur Verfügung gestellte spezialisierte Apparate — über jeden Gesetzesvorschlag abstimmen und direkt die Exekutive beauftragen?

Das wäre zwar eine konsequente Vermeidung aller Hinterzimmer-Verhandlungen; doch es wäre auch das Ende der Rechtsstaatlichkeit, die wir kennen und die uns so gute Dienste geleistet hat. Der Flirt mit der Auftragsdemokratie bei gleichzeitiger Aufgabe des Repräsentationsprinzip bereitet den Gegnern der Rechtsstaatlichkeit den Weg und schaufelt dabei der rechtlichen Gebundenheit aller Gewalten — einschließlich der des Volkes selbst — an selbstauferlegte Regeln das Grab.

Die direkte Demokratie ist schlechter, als ihr Ruf

Es mag zwar sein, dass die direkte Demokratie unter schweizerischen Bedingungen aufgrund langer stabiler Traditionen und eines vorbildlich starken Föderalismus vernünftig funktioniert, man sollte aber nicht übersehen, dass etwa die jüngeren amerikanischen, insbesondere kalifornischen Experimente mit direkt-demokratischen Vorgehensweisen alles andere als ermutigend sind. Dass sich die amerikanische Politik in den letzten drei Jahrzehnten in Richtung fundamentalistischer Konfrontation verändert hat, liegt auch daran, dass die Vorwahlen mittlerweile durchgängig auf eine Weise demokratisiert wurden, die intensiven Interessengruppen und eher radikalen Minderheiten verstärkten Einfluss auf die Kandidatenkür ermöglicht.

Diese Änderungen wurden unter dem Banner eingeführt, die Politik müsse aus den Hinterzimmern heraus. Ohne das Lob des Hinterzimmers unkritisch singen zu wollen, muss man dazu feststellen, dass das, was an seine Stelle trat, keineswegs von Vorteil für die US Politik gewesen zu sein scheint. Wenn die Bürger die EU weiterentwickeln und dabei verhindern wollen, dass die EU ähnlich wie die USA zu einem verkappten Einheitsstaat wird, sollten wir die amerikanischen ebenso wie die britischen Erfahrungen mit der Ausweitung der direkt-demokratischen Mitbestimmung beherzigen. Denen, die sich etwas mehr mit der Sache befassen würden, würde dann sicherlich auch auffallen, dass der Trumpeter letztlich durch die Stärke des Restföderalismus wirksamer kontrolliert wird als im engeren Sinne demokratisch. Worum es geht, kann man konkret mit Beispielen aus der jüngeren EU Tagespolitik illustrieren.

Kein imperatives Mandat

Nachdem Herr Weber es nicht auf den erhofften Posten bei der EU geschafft hat, spricht Herr Söder von Hinterzimmerpolitik. Ausgerechnet einen Vertreter der CSU verächtlich über Hinterzimmerpolitik sprechen zu hören, ist eine Überraschung – und so, wie dies geschah keine positive. Angesichts der komplexen föderalen Regeln der EU wäre es richtig und wichtig gewesen, die Rechtlichkeit des Vorgehens anzuerkennen. Die Strukturen der EU sind Ausdruck vielfältiger und vielschichtiger rechtsstaatlicher Prozesse. Soweit in diesen Prozessen demokratische Wahlen eine Rolle spielen, handelt es sich nahezu durchgängig nicht um direkt-demokratische Abstimmungen. Dennoch wäre es völlig verfehlt, sie deshalb zu diskreditieren. Söder mag das nicht beabsichtigen, aber er trägt zur Diskreditierung der rechtsstaatlichen repräsentativen Demokratie bei.

Es gehört zum Wesen der repräsentativen Demokratie, dass sie ein imperatives Mandat nicht und deshalb viele Hinterzimmer kennt. Die repräsentative Form der Regierung bedient sich demokratischer Abstimmungen vor allem, um die Bürger mit Veto-Macht auszustatten und nicht dazu, den Politikern spezifische Aufträge zu geben. Die Veto-Macht wird indirekt durch die Wahl von Parteien und für diese Parteien einstehender Personen ausgeübt.

Wie die erhöhte Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl gezeigt zu haben scheint, war die mit dem Spitzenkandidaten-Prinzip einhergehende Personalisierung der Konkurrenz um Wählerstimmen offenkundig ein Mittel, um Wähler zu mobilisieren und das Interesse an der Europapolitik zu stärken. Soweit das gelungen ist, ist dies grundsätzlich positiv zu vermerken; jedoch darf man die damit verbundenen Risiken nicht übersehen.

Der Kern des Problems liegt zudem im vorliegenden Fall nicht darin, dass im Nachhinein vom Spitzenkandidatenprinzip Abstand genommen wurde. Die im Vorhinein vorgenommene Täuschung des Wählers ist der vielmehr dieses Pudels Kern.

Wenn man wie im Falle der Implementierung des Spitzenkandidaten-Prinzips so tat, als hätten die Bürger bzw. das Parlament das Recht, ohne Rücksichtnahme auf andere Veto-Spieler über den Posten des Kommissionspräsidenten zu befinden, dann war das eine einfache Irreführung der Wähler, denen populistisch Entscheidungsmacht vorgegaukelt wurde, wo diese de facto nicht existierte. Solche politischen Täuschungen führen zu Enttäuschungen und Entfremdungen von der Politik.

Die richtige Reaktion auf den Fehler wäre es gewesen, öffentlich über den guten Sinn der repräsentativen Demokratie zu diskutieren. Dafür, die vorangehende Fehlinformation der Wähler mit dem verantwortungslosen Gerede von der Hinterzimmerpolitik zu überdecken, gibt es keine Entschuldigung.

Internationale Krise der demokratischen Rechtsstaaten auch in Deutschland?

Die Anzeichen einer weltweiten Rechtsstaatskrise wie in den 1930 Jahren des letzten Jahrhunderts scheinen sich zu mehren. Damals war in Deutschland die SPD verlässlicher als die sogenannten bürgerlichen Parteien auf Seiten des Rechtsstaates, ohne letztlich dessen Niedergang verhindern zu können. Die Grünen, die heute in die Rolle der Sozialdemokratie zu schlüpfen suchen, haben, noch einige innere Überzeugungsarbeit in Sachen demokratischer Rechtsstaatlichkeit vor sich, wenn sie als Partei der Rechtsstaatlichkeit das Niveau der alten Tante SPD erreichen wollen. Sie verfolgen, um nur zwei Beispiele zu nennen, zum einen das Ziel, eine Umwandlung der EU in eine europäische Verteidigungsunion zu verhindern, zum anderen wollen sie mehr direkte Demokratie in der EU verwirklichen. Beides ist für dem stabilen Fortbestand der EU nicht förderlich.

Angesichts der internationalen Bedrohungen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit durch den Aufstieg mannigfacher Autokraten und Autokratien, wäre es nachdrücklich geboten, die EU als Verteidigungsunion zu verstehen und entsprechend unserer Wirtschaftskraft in Verteidigung zu investieren. Selbstverständlich hat die EU und vor allem auch Deutschland allen Grund, sich um kooperative Beziehungen insbesondere mit Russland zu bemühen. Solange die EU dabei nicht an Kernbeständen der eigenen Rechtsstaatlichkeit rütteln lässt, sollte insoweit viel zulässig sein. Es geht nicht um die alte prinzipiengetriebene Symbolpolitik im Umgang mit Russland, sondern um kompromissfähige Realpolitik. Zu dieser gehört aber auch, dass wir nach der Maxime handeln, alles zu tun, um nicht aufgrund eigener Wehrlosigkeit zu aggressiven Akten einzuladen. Erwartete Kosten und Risiken aggressiver Handlungen müssen für Autokraten wie Putin so stark erhöht werden, dass für sie auswärtige Abenteuer unattraktiv werden.

Auch wenn es in der Befürwortung wehrhafter demokratischer Rechtsstaatlichkeit nicht um symbolpolitisches geht, möchte man als Deutscher hinzufügen, dass die sogenannte Männerfreundschaft zwischen Schröder und Putin symbolpolitische Aspekte hat. Wenn man in Fernsehbildern Schröder auf SPD-Parteiveranstaltungen herumgrinsen sieht, sagt das auch etwas über den Zustand der Partei. Dass die SPD “so einen” — bei allen früheren Verdiensten — nicht versteckt, sondern vorzeigt, ist verdächtig. Es scheint allerdings angesichts der breiten Anbiederung deutscher Politiker aller Lager an den russischen Autokraten, fast entschuldbar.

Die Gefährdung der EU von innen durch eine Ausdehnung der direkten Demokratie und ohne die hinreichende Etablierung von Gegengewalten ist gegenwärtig womöglich noch höher als die Bedrohung von außen. Das gewachsene System von Gewalten und Gegengewalten verdient unseren Respekt. Es hat sich, auch wenn wir alle andauernd unzufrieden scheinen, überraschend gut bewährt. Mehr direkte Demokratie erscheint als sehr gefährlich für dieses immer labile Gleichgewicht.

Was, muss man sich fragen, sollte eine organisierte direkt-demokratische allgemeine Gewalt ernsthaft im Zuge der Gewaltenteilung aufhalten können? Den Grünen, deren mittlerweile beeindruckend erwachsener politischer Kultur man einiges abgewinnen kann, muss man zurufen, dass sie eine ernsthafte interne Diskussion über die Aufgaben und Grenzen direkt demokratischer Verfahren aufnehmen und ihr Verhältnis zur Funktion der politischen Repräsentation klären sollten. Die SPD, in deren Rolle die Grünen ja im Wesentlichen einzutreten scheinen, hat diese Klärung einst für sich einschließlich ihrer Einstellung zur Verteidigungsfähigkeit herbeigeführt. Man fragt sich, wieviel dieser bewundernswürdigen Tradition der SPD in der Partei selbst noch vorhanden ist. Grün ist sprichwörtlich die Hoffnung, aber es wäre schön, wenn diese Hoffnung sich als berechtigt erweisen würde.

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