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Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in den Wirtschaftsnachrichten die wohl wichtigste volkswirtschaftliche Kennzahl. Sie wird immer dann zitiert, wenn über die wirtschaftliche Dynamik oder den Wohlstand eines Landes berichtet wird. Dabei werden Wohlstand und BIP unterschwellig oft gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ruft Kritik hervor. Teile der Gesellschaft fordern, dass die Art, wie der Wohlstand bisher gemessen wird, auf den Prüfstand kommt. So schreiben etwa die Grünen nach ihrem jüngsten Parteitag: „Wohlstand soll künftig von Wachstum … entkoppelt werden. Anstelle des Bruttoinlandsproduktes schlägt der Beschluss ‚Zukunftsfähig wirtschaften für nachhaltigen Wohlstand – Auf dem Weg in die sozial-ökologische Marktwirtschaft‘ ein neues Wohlstandsmaß vor und eine neue Form der Wirtschaftsberichterstattung, um neben den ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen zu messen.“[1]
Kritik am BIP
Wohlstand und BIP gleichzusetzen, wird schon lange kritisiert. Bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts diskutierten renommierte Ökonomen kontrovers, ob eine einzelne verdichtete Kennzahl das Wohlbefinden der Menschen korrekt abbilden kann. Tatsächlich gibt es gute Gründe, die Höhe des Bruttoinlandsproduktes nicht einfach als treffsicheren Indikator für das Wohlbefinden der Menschen zu interpretieren. Drei Beispiele mögen dies illustrieren:
1. Das BIP enthält Größen, die lediglich Wohlstandseinbußen ausgleichen. So werden nach Naturkatastrophen wie verheerenden Stürmen oder Fluten die Wiederaufbauarbeiten als BIP-Zuwachs und damit als Wohlstandsgewinn verbucht, obwohl eigentlich nur beschädigte oder verloren gegangene Bestandswerte – etwa Schäden an Häusern – wieder hergestellt wurden.
2. Das BIP erfasst eine Reihe von Effekten nicht, die aber den Wohlstand verändern. Ein klassisches Beispiel ist die unentgeltliche Hausarbeit. Do-it-yourself-Arbeit erhöht zweifellos den Wohlstand, sie wird allerdings in der BIP-Rechnung nicht erfasst (lediglich das dafür gekaufte Material, nicht aber die Arbeitsleistung).
3. Die Bedingungen, unter denen das BIP entsteht, werden nicht berücksichtigt. Ob jemand seine Arbeit entspannt und mit viel Freude erledigt oder ob dies unter großem physischem bzw. psychischem Druck und ohne jede Freude geschieht, spielt für das Wohlbefinden des Betroffenen eine große Rolle – selbst wenn am Ende in beiden Fällen das gleiche Einkommen herausspringt. Für die Berechnung des BIP sind beide Fälle hingegen vollkommen gleichwertig.
Ergänzende Wohlstandsindikatoren bereits vorhanden
Die Beispiele zeigen: Das BIP ist offensichtlich kein idealer Maßstab für den Wohlstand, sondern nur ein guter Indikator für die wirtschaftliche Dynamik eines Landes. Unter Ökonomen herrscht weitgehender Konsens, dass das BIP lediglich eine Kennzahl ist, mit der die Marktproduktion und die Markteinkommen gemessen werden. Es gibt deshalb von politischer Seite und von internationalen Organisationen seit langer Zeit Bestrebungen, die Lebensqualität mit weiteren, oft sozialen Indikatoren quantitativ zu erfassen. Dem BIP als alleinigem Indikator wird offensichtlich nicht mehr getraut. Die OECD hat den „Better Life Index“ entwickelt, um das gesellschaftliche Wohlergehen anhand von elf Themenfeldern – u.a. Bildung, Sicherheit und Work-Life-Balance – zu ermitteln und international zu vergleichen. Damit versucht die OECD den Blick zu weiten und von den rein wirtschaftsbezogenen BIP-Daten wegzukommen. In Deutschland hat die Bundesregierung im Jahr 2013 beschlossen, einen Dialog mit den Bürgern über deren Verständnis von Lebensqualität zu führen. Daraus entstanden der Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ und der „Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland“. Zuvor hatte der Deutsche Bundestag bereits im Jahr 2010 beschlossen, die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ einzusetzen. In ihrem Abschlussbericht hat die Kommission zehn Einzelindikatoren aus den drei Bereichen „Materieller Wohlstand“, „Soziales/Teilhabe“ sowie „Ökologie“ vorgeschlagen. In die gleiche Richtung zielt die „Beyond GDP“-Initiative der Europäischen Kommission. Es mangelt also nicht an Kennzahlen, mit denen Wohlstand und gesellschaftlicher Fortschritt über die BIP-Zahlen hinaus abgebildet werden können. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass solche weichen Indikatoren anfällig für politische Einflussnahme sein können.
Das BIP ist oft das richtige Maß
Das BIP wird auch weiterhin eine sehr wichtige Kennzahl bleiben, weil die materiellen Möglichkeiten maßgeblich zum Wohlbefinden der Menschen beitragen – auch wenn der aktuelle Zeitgeist manchmal das Gegenteil suggeriert. Als Kennzahl der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung darf das BIP nicht verwässert werden. Vielmehr sind die bereits verfügbaren Indikatoren an der jeweils richtigen Stelle einzusetzen. Mit den weicheren Wohlstandsindikatoren kann die Politik wertvolle Erkenntnisse darüber gewinnen, was den Bürgern neben den wirtschaftlichen Belangen noch wichtig ist. Wenn es aber etwa um die Frage geht, wie tragfähig die öffentliche Verschuldung eines Landes ist, muss auch in Zukunft auf einen harten Indikator wie das BIP geschaut werden. Denn ob ein Land in der Lage ist, seine Schulden zurückzuzahlen, hängt maßgeblich von dessen Wirtschaftskraft, also von der Höhe des BIP ab. Wohlfühlindikatoren wären hier das falsche Maß, denn Schulden können nur aus den erwirtschafteten Einnahmen eines Staates zurückgezahlt werden – der Hinweis auf saubere Luft oder glückliche Menschen wird keinen Gläubiger von seinen Forderungen abrücken lassen.
[1] Grüne (2019), Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht maximale Gewinne, 18. November 2019, abgerufen am 20.11.2019.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 24. November 2029 in Capital.
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3 Antworten auf „Gastbeitrag
Ist das BIP als Wohlstandsindikator noch zeitgemäß?“