Schulden gut – Schuldenbremse schlecht?

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Beflügelt durch einen Vortrag des ehemaligen Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds IWF Olivier Blanchard vor der American Economic Association hat sich auch in der Schweiz eine rege Debatte zur Schuldenbremse entwickelt. Blanchard argumentiert, dass die gegenwärtige Lage mit rekordtiefen Zinsen eher der Normalfall als eine Ausnahmesituation darstelle. Das sei bedeutsam für die Finanzpolitik, denn damit verursachten Schulden keine Finanzierungskosten durch spätere Steuererhöhungen. Ist unter diesen Konstellationen der mittelfristige Haushaltsausgleich wirklich noch zwingend? Und ist es überhaupt erstrebenswert, die Schulden zu stabilisieren? Oder gibt es gute Gründe anzunehmen, dass wir uns langfristig ein dauerndes Primärdefizit erlaubten könnten? Blanchard und andere vertreten die Ansicht, dass wir in einer Zeit der säkularen Stagnation lebten, bei der aufgrund der demografischen Alterung und der Einkommenskonzentration der Ersparnisüberschuss die Zinsen dauerhaft unter das Wirtschaftswachstum drücke. Diese fundamentale Konstellation erlaube nicht nur einen langfristigen Schuldenaufbau, sondern sei auch zur Stärkung der allgemeinen volkswirtschaftlichen Nachfrage von zentraler Bedeutung.

Die Argumente sind eigentlich nicht neu. Die grundsätzlichen Auswirkungen von Staatsschulden auf die Handlungsfähigkeit des Staates hat bereits Evsey Domar in den 1940er Jahren gezeigt. Er kommt zum Schluss, dass die Staatsschuld langfristig nicht schneller wachsen kann als das Sozialprodukt. Domar stellt das Wirtschaftswachstum, nicht ganz ohne Ironie, gar in den Vordergrund. Er zeigte sich überzeugt, dass wenn alle Menschen, die aus Angst vor Schulden Artikel schrieben und Reden hielten, ihre Bemühungen darauf konzentrieren würden, Wege zu finden, um ein wachsendes Einkommen zu erzielen, dann wäre ihr Beitrag zum Wohle der Menschheit – und zur Lösung des Schuldenproblems – unermesslich. Die Feststellung mag überspitzt sein, aber in ihrem Kern trifft sie zu: Die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen hängt von der Kreditsumme in Relation zum zukünftigen Einkommen sowie den Zinsbelastungen ab.

Allerdings sind Staatschulden nicht nur eine makroökonomische Grösse, sondern haben auch eine politökonomische Dimension. Abhängig vom jeweiligen politisch-institutionellen Rahmen können systemimmanente Anreize entstehen, persistent Staatsdefizite anzuhäufen. In der Literatur werden verschiedene Argumente für diese inhärente Neigung zur Verschuldung, dem so genannten «Deficit Bias», angeführt. Zwei sind für die Schweiz besonders relevant:

  • Erstens: die Fiskalische Allmende. Eine begrenzte Ressource in kollektivem Besitz schafft den individuellen Anreiz, die Allmende zu übernutzen, wenn diese frei zugänglich ist. Denn nur ein Teil der mit der eigenen Nutzung verbundenen Kosten fällt auf einen selbst. Der Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin fasste es in seinem vielbeachteten Aufsatz treffend wie folgt zusammen: «Freedom in a commons brings ruin to all». Ähnlich verhält es sich mit den Staatfinanzen: Während eine bestimmte Interessengemeinschaft von einem bestimmten staatlichen Ausgabenprogramm profitiert, verteilen sich die Kosten auf alle Steuerzahler. Politische Akteure setzen in diesem Fall allgemeine öffentliche Ressourcen zum Vorteil einzelner, partikularer Interessen ein. Das Ergebnis ist eine systematische Übernutzung der öffentlichen Ressourcen.
  • Zweitens: Zeitinkonsistenz oder warum gute Vorsätze so selten halten. Die in vielen Ländern konstitutionell verankerte Aufforderung, langfristig für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen, ist zwar im Allgemeinen politisch meist unbestritten. Wenn es allerdings im Rahmen der jährlichen Budgetdebatte um konkrete Massnahmen zur Einhaltung des Budgetgleichgewichts geht, dann dominieren die unmittelbaren Interessen zur Abweichung von den Stabilitätsgrundsätzen. Einer den kurzfristigen und jährlich wiederkehrenden politischen Einflüssen ausgesetzten Finanzpolitik droht ohne institutionell verankerte Selbstbindung der politischen Akteure die Zeitinkonsistenz. Die unmittelbaren Anreize der am Budgetprozess Beteiligten, vom Ziel eines ausgeglichenen Haushalts zugunsten der eigenen Klientel und auf Kosten einer nachhaltigen Finanzpolitik abzuweichen, sind zu gross.

In beiden Fällen resultiert ein Hang zu Defiziten und steigender Staatsverschuldung durch die Asymmetrie zwischen Einnahmen- und Ausgabenverantwortung. Diese Neigung ist im politischen Prozess ein grundsätzliches Problem – die negativen Auswirkungen davon können sich während Jahren aufstauen. Trotz der weltweit über Jahrzehnte steigenden Schuldenstände wurde die Solvenz staatlicher Schuldner aus Industrieländern vor 2010 zwar kaum je als gefährdet betrachtet. Staatlicher Zahlungsausfall betraf nur Entwicklungs- und Schwellenländer mit schwacher wirtschaftlicher Basis und unsicheren politischen Institutionen. Dies änderte sich dann aber unvermittelt, als im Zuge der grossen Rezession nach 2010 einige für den Euroraum wichtige Volkswirtschaften in finanzielle Notlage gerieten. Wenn Staatsschulden ungebremst wachsen, wird irgendwann die Toleranzgrenze der Gläubiger erreicht. Zinsdifferenzen in den gehandelten Staatsschulden spreizen sich dann jäh und drohen zu überschiessen. Man erinnere sich dabei an den Ausbruch der Krise in Griechenland – die Folgen waren gravierend.

Die allzu lange Weigerung zum Budgetausgleich bedroht eine nachhaltige und langfristig tragfähige Finanzpolitik: Das Konzept der antizyklischen Finanzpolitik sieht vor, die Verschuldung im Aufschwung wieder abzubauen. «The boom, not the slump, is the right time for austerity at the Treasury» erklärte sogar Keynes 1937 während der Grossen Depression. Was in der Theorie schlüssig ist, scheint in der politischen Realität allerdings nicht leicht zu realisieren. Der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger James M. Buchanan meinte, dass selbst wenn man die Ansicht Keynes’ für richtig halte, so wäre es wahrscheinlich, dass politischer Druck zu einer asymmetrischen Anwendung führe: In schlechten Zeiten werden die Staatsausgaben zwar erhöht, doch in guten Zeiten werden sie nicht wieder zurückgenommen. Darunter leidet die Idee, den Staatskonsum über gute und schlechte Zeiten hinweg zu glätten.

Schulden sind dabei nicht das Problem, sondern nur Ausdruck des «Deficit Bias». Schulden sind weder gut, noch schlecht. Sie sind die Grundlage für eine moderne Staatsfinanzierung. Doch Probleme tauchen dann auf, wenn die Märkte nicht mehr an die Zahlungsfähigkeit oder Zahlungswilligkeit der Steuerbasis für das gegebene Ausgabenniveau glauben. Die ökonomischen und politischen Nebenwirkungen sind dann beträchtlich.

Um dies präventiv zu verhindern, sind kluge Rahmenbedingungen wichtig. Der Fall Schweiz zeigt den Vorteil von Regeln: Gerade die Schuldenbremse leistet einen wichtigen Beitrag, dass die Staatsverschuldung im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten der Volkswirtschaft gehalten wird. Ein nachhaltiger Staatshaushalt ist nur auf Basis von Institutionen aber nicht umzusetzen. Sie sind der notwendige Rahmen, innerhalb derer sich die politische und gesellschaftliche Tätigkeit entfalten kann. Gute Politik wird deswegen nicht unnötig. Die rechtliche «de jure»-Verankerung muss «de facto» auch gelebt werden. Die stabilitätsorientierte Tradition verschafft der Regel politische Nachachtung. Finanzpolitische Disziplin braucht Fürsprecher und Selbstverantwortung, denn im tagespolitischen Hickhack werden die ordnungspolitischen Grundsätze soliden Haushaltens nur allzu leichtfertig bei Seite geschoben.

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