Wenn die wirtschaftliche Entwicklung weiter stagniert, wird 2020 der Ruf nach konjunktureller Stimulierung lauter werden. Nötig ist eine Zinswende. Denn die Verwerfungen der Nullzinspolitik zeigen sich längst.
In diesem Jahr wird die Geldpolitik wieder stärker in den Mittelpunkt rücken. Das kann man ohne hellseherische Kräfte vorhersagen. Wenn – wie allgemein erwartet wird – die wirtschaftliche Entwicklung stagniert, wird der Ruf nach konjunktureller Stimulierung lauter werden. Dann dürfte auch die Geldpolitik in den Fokus rücken. Außerdem zeigen sich die Probleme des geldpolitischen Kurses der letzten Jahre immer deutlicher. Dadurch wird der Zwiespalt, in dem sich die Europäische Zentralbank (EZB) im Verlauf der nächsten zwölf Monate befinden wird, stärker werden.
Es ist fraglich, ob die EZB in einem Umfeld mit Nullzinsen und der bereits sehr umfänglichen Finanzierung der Staatsschulden noch viel Spielraum für konjunkturelle Spritzen hat. Stattdessen werden bereits jetzt Rufe laut, die Schuldenbremse und andere – auch europäische – Vereinbarungen zur fiskalischen Stabilität zu ignorieren.
Leicht ist das nicht, denn weitere Rechtsbrüche in der Eurozone oder eine Änderung des deutschen Grundgesetzes bergen politischen Sprengstoff. Da ist es doch wohl einfacher, sich wieder an die EZB zu wenden. Allerdings ist eher eine Zinswende notwendig als weitere Senkungen oder steigende Staatsanleihenkäufe. Denn schon jetzt zeigen sich immer deutlicher die Verwerfungen der Nullzins-Politik und der Anleihenkäufe in großem Stil:
- Die Banken können sich immer weniger auf Zinserträge verlassen. In Zeiten höherer Nominalzinsen leben Banken vom Zinsdifferential, und zwar unabhängig von der Inflationsrate. Ihre Gewinn- und Verlustrechnung wird somit immer kritischer. Sie werden in Zukunft entweder flächendeckend Strafzinsen erheben oder Gebühren für Bankdienstleistungen verlangen müssen. Beides wird bei den Kunden erheblichen Ärger hervorrufen.
- Auch können sich die Banken Kredite an junge und riskante Unternehmen immer weniger leisten. Es droht auch in Deutschland – wie bereits in anderen OECD-Ländern sichtbar – eine Zombifizierung der Wirtschaft. Das bedeutet, dass alte Unternehmen nicht aus dem Markt ausscheiden, weil die Banken ihnen in ihrer Not selbst notleidende Kredite verlängern (und die Unternehmen somit zu Zombies werden). Schlimmer noch ist, dass dadurch der Strukturwandel behindert und das Produktivitätswachstum eingeschränkt wird. Damit sinkt der Spielraum für die Entstehung von Arbeitsplätzen sowie private und staatliche Investitionen weiter.
- Man bekommt den Eindruck, dass viele Regierungen dieses Vakuum nutzen, um aktiv in die Wirtschaft einzugreifen. Man denke nur an die Industriestrategie 2030 des Bundeswirtschaftsministers. Der Staat tritt immer häufiger als Unternehmer auf oder subventioniert Unternehmen – zumeist die Zombies – in großem Stil. Auch das ist ungesund, denn entweder maßt sich die Regierung Wissen an, oder sie unterdrückt den Strukturwandel – oder beides.
- Die Alterssicherung wird immer prekärer, wenn sowohl Individuen als auch Kapitalsammelstellen wie Pensionskassen und Lebensversicherungen immer geringere Erträge erzielen. Letztere dürfen eben keine hohen Risiken eingehen, Kleinsparer können es strenggenommen nicht.
- Nicht zuletzt auf dem Wohnungsmarkt sind die Kosten der niedrigen Zinsen zu spüren. Die Deutsche Bundesbank hat gezeigt, dass etwa 20 Prozent der Mietsteigerungen auf dem deutschen Wohnungsmarkt von der Geldpolitik verantwortet werden. Höhere Mieten treffen vor allem die Bezieher niedriger Einkommen, die gleichzeitig wenig sparen können. Sie werden gleich doppelt von der Geldpolitik getroffen.
Das alles spricht für eine geldpolitische Wende. Sie müsste erst einmal nicht sehr ausgeprägt sein; kleine Zinsschritte würden genügen. Dann würde es sich wieder lohnen zu sparen; zwischen Investitionsprojekten könnte wieder besser unterschieden werden, die Zombifizierung könnte effektiver bekämpft werden und Staaten könnten sich nicht mehr beliebig verschulden.
Manche europäischen Regierungen sind allerdings schon jetzt so abhängig von der geldpolitischen Dauerversorgung, dass sie vermutlich sehr starken Druck auf die EZB ausüben werden. Es herrscht hoher Druck auf die Zentralbank. Das zeigen schon die Erklärungen der niedrigen Zinsen durch den Chefökonomen der EZB sowie einige andere Volkswirte, die beharrlich die demographische Entwicklung dafür verantwortlich machen und von einer Sparschwemme sprechen. Diese Sparschwemme mag es geben; gleichzeitig gibt es auch eine Investitionslücke in Deutschland und anderen Ländern in der Eurozone. Diese spiegelt die schlechten Angebotsbedingungen wider, die nicht zuletzt durch die Geldpolitik erzeugt werden; Stichwort Zombifizierung!
Einfacher wäre es, die Investitionsbedingungen so zu fassen, dass die Ersparnisse hier investiert würden. Und selbst wenn es eine solche Sparschwemme gibt, wäre die EZB nicht gezwungen, ihr Geld zum Nulltarif zur Verfügung zu stellen. Sie rechtfertigt die permissive Geldpolitik nicht. Ganz im Gegenteil könnte die Geldpolitik dafür sorgen, dass die Sparer attraktive Bedingungen vorfinden, die es dann auch erlauben, nachhaltige Investitionsprojekte zu finanzieren.
Somit gilt, was schon in den letzten Jahren galt: Es ist höchste Zeit für die Zinswende. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass sie schnell eintritt. Wer für 2020 darauf wettet, dürfte den Einsatz verlieren. Es müssen wohl noch größere Probleme auftreten, bevor die Geldpolitik wieder gesamtwirtschaftlich rational handelt. Es wäre schade, wenn erst die Pleite einer größeren Sparkasse in Deutschland oder Italien oder steigende Altersarmut zu einem Umdenken führen müsste; es ist aber nicht auszuschließen.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 3. Januar 2020 in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche.
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Paul Schmelzing (2020), Harvard University; Yale School of Management,
https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3485734