Das milliardenschwere Coronahilfspaket ist beschlossen. Doch man muss daran zweifeln, dass es den Regierungen gelingt, das Geld überhaupt auszugeben. Und man muss sich sorgen, ob es dann in die richtigen Hände gelangt.
Der Europäische Gipfel zur Bewältigung der Coronakrise wurde mit einem Ergebnis beendet, das sicherlich noch lange für Diskussionen und Verwunderung sorgen wird. Nach Meinung der Staatschefs der Europäischen Union (EU) wurde mit dem Kompromiss ein Durchbruch erzielt. wie üblich sieht sich jede oder jeder als Gewinner. Um das wirklich beurteilen zu können, muss man die Details kennen. Solange diese noch nicht vorliegen, muss man sich mit den groben Fakten befassen; die sind kurz gesagt atemberaubend.
- Die europäische Kommission verschuldet sich mit 750 Milliarden Euro für einen Wiederaufbaufonds, die bis 2058 (also in anderthalb Generationen) zurückzuzahlen sind.
- Davon werden den Mitgliedstaaten in den kommenden drei Jahren 390 Milliarden Euro als Zuschuss und 360 Milliarden Euro als Kredit gewährt; die Zahlungen sind davon abhängig, wie stark das jeweilige Land von der Krise getroffen wurde.
- Reformen als Voraussetzung der Unterstützung sind nicht notwendig. Es soll zwar einen Kontrollmechanismus geben; dieser scheint jedoch nicht schärfer zu sein als der Stabilitäts- und Wachstumspakt der Eurozone. Damit ist er wirkungslos; er diente ja vermutlich auch nur dazu, dem niederländischen Ministerpräsidenten eine positive Schlagzeile zu Hause zu garantieren.
- Den Kritikern wurden großzügigere Rabatte versprochen; und der EU-Haushalt fällt geringer aus als von der Kommission gewünscht. Damit entfallen einige struktur- und industriepolitische Programme zur Gestaltung der klimaneutralen Zukunft.
- Rechtsstaatlichkeit ist ebenfalls nicht nötig, das Geld gibt es auf jeden Fall. Zu wichtig war es den Südeuropäischen Ländern, die Steuergelder der anderen geschenkt zu bekommen. Das ist die inzwischen übliche Interpretation des Begriffs „Europäische Werte“ – das Geld der anderen. Rechtsstaatlichkeit ist kein zwingender europäischer Wert mehr. Das war einmal anders.
- Die Kommission darf nun eigene Steuern erheben. Sie ist aufgefordert, Konzepte für eine Plastiksteuer, eine Finanztransaktionssteuer, einen CO2-Zoll und die Einbeziehung von Flug- und Schiffsreisen in die Bepreisung von CO2-Emissionen zu erstellen.
Die Bundeskanzlerin ist zufrieden, weil die EU-Schuldenaufnahme ihrer Ansicht nach einmalig ist. Anders sieht das Emmanuel Macron. Der französische Präsident ist zufrieden, weil der Einstieg in die gemeinsame Schuldenaufnahme gelungen ist. Offenbar sieht er die Chance, einen dauerhaften Mechanismus zu erzeugen. Und in der Tat muss man sich fragen, wie hoch der Druck auf die Deutschen und andere eher skeptische Mitglieder der EU sein wird, wenn die nächste Krise kommt. Es wird immer einen Grund zur Solidarität geben. Dies gilt vor allem dann, wenn die 750 Milliarden Euro ausgegeben, die Ursachen für die Probleme in den Mitgliedsländern aber nicht bekämpft worden sind. Dies ist angesichts des fehlenden Reformzwangs sehr wahrscheinlich; im Grunde ist jetzt schon abzusehen, dass es in wenigen Jahren den nächsten Anlass für eine gemeinsame Anleihe geben wird. Damit hätten wir die Coronabonds durch die Hintertür.
Die Diskussion darüber und das damit verbundene Potential weiterer Spaltung bis hin zum Austritt einiger Länder kann man jetzt schon herauslesen. Während die Einen den Kompromiss als Beleg für Solidarität feiern und gleichzeitig die Bremser aus den Niederlanden, Österreich und Skandinavien als geizige Nationalisten, die Europa als Projekt nicht anerkennen würden, kritisieren, gibt es Andere, die Reformunwilligkeit und Verschwendung sehen. Sie glauben nicht daran, dass die 750 Milliarden die Probleme tatsächlich lösen und einen Strukturwandel zur klimafreundlichen und gleichzeitig prosperierenden Wirtschaft auslösen. Man muss schon daran zweifeln, dass es den Regierungen gelingt, das Geld überhaupt auszugeben. Und man muss sich sorgen, ob es in die richtigen Hände gelangt. Das Potential für Nepotismus und Korruption ist hoch.
Das Europäische Parlament sieht insbesondere ein Problem in der mangelnden Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit. Es ist wirklich problematisch, dass jemand wie der ungarische Regierungschef Orban einerseits mit EU-Geldern den Aufschwung seines Landes unterstützt, andererseits lauthals auf die EU schimpft, sich als Freifahrer, etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen, erweist und schrittweise den Rechtsstaat aushöhlt. Dass er von europäischen Steuerzahlern alimentiert wird, ist absurd. Es wäre zu wünschen, dass sich das Parlament hier durchsetzt.
Weniger problematisch ist es aber, dass industriepolitische Programme der EU-Kommission zum Klimaschutz nicht wie gewünscht finanziert werden, was das Parlament ebenfalls beklagt. Viel besser als teure sektorspezifische oder gar auf bestimmte Technologien abgestellte Programme wäre eine klare Besinnung auf umfassende Bepreisung von klimaschädlichen Emissionen – aber das steht auf einem anderen Blatt.
Dann gibt es noch eine weitere Gruppe, die in allen Mitgliedstaaten laut ihre Stimme erheben wird – die Gruppe der Euroskeptiker. In den Geberländern werden sie viel zu hohe Zahlungen, in den Nehmerländern viel zu niedrige Zuschüsse beklagen. Auch eine Steuerhoheit für die Kommission wird auf nationaler Ebene in Zukunft sicher die Euroskeptiker stärken.
Insofern bleibt der Betrachter ratlos zurück. Ein Urteil über die langfristigen Folgen des Kompromisses kann noch nicht abschließend gefällt werden. Wenn es nur die beiden Optionen „Beginn einer glänzenden Zukunft“ oder „Anfang vom Ende der Union“ gäbe, spräche allerdings nicht viel für die erste Option.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 24. Juli 2020 in der Wirtschaftswoche-Online.
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