Die Finanzkrise scheint vorüber zu sein. Die Staatsschulden, die sie uns hinterlassen hat, sind beträchtlich. Die bedeutendste Langzeitfolge wir allerdings möglicherweise nicht finanzieller, sondern institutioneller Natur sein. Die Überzeugung einer größeren Allgemeinheit, dass die unsichtbare Hand des Eigeninteresses, die auf Märkten wirksam wird, sich der sichtbaren Hand des Regierungshandelns als überlegen erweisen kann, ist stark erschüttert. Deregulierung als Politikempfehlung ist unpopulär und Regulierung wieder populär geworden. Obwohl klarerweise Reformen notwendig sind, wäre es äußerst bedenklich, wenn sie die Form von politischen Einzelfallinterventionen annehmen würden. Sollten wir der allgemeinen Neigung der Politik zu Einzelfallinterventionen mit Bezug auf Finanzmärkte nachgeben, so könnte das auf lange Sicht gravierendere Folgen als die Steigerung der Staatsschulden mit sich bringen. Angesichts dieser Gefahr scheint es angemessen, an die Vorteile regelbasierter Politik und Ethik zu erinnern.
In ihrem grundlegenden Buch gleichen Titels haben Geoffrey Brennan und James Buchanan “die Vernunft von Regeln“ eindrücklich betont. Die Unterscheidung einer Wahl von Regeln und einer Wahl unter Regeln entspricht im rechtlichen Bereich der zwischen den Perspektiven des Rechtserlasses (de lege ferenda) und der Rechtsanwendung (de lege lata). Mit allen klassischen Liberalen (vor allem auch mit Friedrich August v. Hayek) ist zu betonen, dass die sichtbare Hand der Politik vor allem auf der Ebene des Regelerlasses wirksam werden sollte. Dem fügen Brennan und Buchanan die klassische Überzeugung vor allem der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts hinzu, dass gute Institutionen zur Wahrung des Gemeinwohls unabhängig von den Handlungsmotiven der Regelunterworfenen beitragen sollen. Ganz im Sinne der ordoliberalen Freiburger Schule Ordnungspolitik, so wie sie heute insbesondere von Viktor Vanberg vertreten wird, lässt sich feststellen, dass die sichtbare Hand der Politik und die unsichtbare des Eigeninteresses unter vernünftigen Regeln tatsächlich Hand in Hand arbeiten werden. Dazu dürfen wir die unsichtbare Hand des einzelfallorientierten Eigeninteresses allerdings nicht zu sehr durch Politik In ihrem Wirken behindern.
Die Auffassung, dass für das ordnungsgemäße Wirken wohlkonstruierter Institutionen individuelle Tugend so weit wie möglich unnötig sein sollte, ist für viele moralisch engagierte Individuen schwer akzeptabel. Sie neigen dazu, bei der Beurteilung dessen, was moralisch gut oder weniger gut ist, vor allem auf die moralischen Motive abzustellen. Es überrascht insofern auch nicht, dass für sie vor allem individuelle Laster wie die “Gier“ und nicht schlechte Regeln zur Finanzkrise geführt haben. Dementsprechend geht es nach der vorherrschenden Denkweise vor allem darum, die individuelle Moral beziehungsweise Tugend der auf den Finanzmärkten tätigen Akteure zu verbessern. Wenn man jedoch im Ernst einen solchen Rückfall in das Stammesdenken im Falle komplexer Finanzmärkte zuließe, würde das gewiss katastrophale Folgen haben.
Die Wahl von vernünftigen Regeln ist auf Finanzmärkten der allein angemessene Ort für moralische Erwägungen. Es gibt gute Gründe dafür, eine Verbesserung der impliziten Risiko-Ausgleichsfunktionen von Finanzmärkten nicht von der besseren Moral der Finanzakteure zu erwarten, sondern von einer Verbesserung der Regeln, unter denen sie operieren. Alle jene, die auf Finanzmärkten arbeiten, sollten in diesem Falle darauf verzichten, sich bei der Öffentlichkeit lieb Kind zu machen. Sie sollten deren Fehlurteile nicht dadurch bestärken, dass sie ihre eigene individuelle moralische Integrität zur Schau stellen. Insoweit sollten sie als Finanzexperten ein gewisses uneigennütziges Engagement in der Mitwirkung bei der Suche nach Regeln für freie und zugleich übertreibungsresistentere Finanzmärkte zeigen. Hier sollten sie ihre Bürgerverantwortung wahrnehmen und sich zur Wahl von Regeln äußern, ohne allein von den partikularen Interessen ihrer Mutterhäuser geleitet zu werden. Das gemeinsame Interesse der direkt am Finanzsektor Beteiligten an stabilen Finanzmärkten deckt sich weit gehend mit dem der Allgemeinheit. Es muss nur kompetente und glaubwürdige Fürsprecher finden. Dazu müssen die Finanzunternehmen koordiniert ihre Mitarbeiter ermuntern, in ihren öffentlichen Aussagen von den partikularen Unternehmensinteressen abzusehen.
Natürlich könnte man argumentieren, dass in dem vorangehenden Appell sichtbar wird, dass eine ausschließliche Orientierung am partikularen Interesse nicht ausreicht, um zu Institutionen gelangen zu können, die dem allgemeinen Interesse im Großen und Ganzen dienlich sind. Das ist auch tatsächlich zutreffend. Doch es bildet insoweit keine Inkohärenz, als es um den Erlass von Regeln geht. Es geht um die Erzeugung von und nicht um das Verhalten unter bestehenden Regeln. Ein Gemeinwesen kann nicht existieren ohne ein gewisses Maß an Gemeinsinn und in der Diskussion der Regeln sollte sich dieser zum Ausdruck bringen. Wählt man jedoch für die Ausübung des Gemeinsinns den falschen Ort und überfordert ihn, dann wird das nur Scheinheiligkeit oder aber schlechte Ergebnisse zeitigen.
Das Verhalten unter bestehenden Regeln auf Finanzmärkten sollte keinesfalls moralisch auf die Verfolgung des Gemeinwohls verpflichtet werden. Auf Finanzmärkten wollen wir gerade, dass die Akteure ihr je eigenes Wissen im Sinne ihrer je eigenen Interessen verwenden. Wir wollen, dass sie verschiedenste Perspektiven vermittelt vom Freien Preismechanismus Berücksichtigung finden lassen. Das ist die beste uns mögliche Weise Informationen öffentlich auszuwerten. Natürlich gibt es keine Garantie, dass diese Form der Informationsauswertung jeweils die Wahrheit ans Licht brächte. Das kann schon deswegen nicht zutreffen, weil es in den Fragen, auf die sich die Wetten der Finanzmärkte beziehen, „die“ von den Märkten unabhängige Wahrheit nicht gibt. Was wahr ist, hängt zum großen Teil davon ab, was die Akteure selber für wahr halten. Viele Wetten sind auch Wetten auf die Wetten der anderen. Trotzdem handelt es sich bei unter den Regeln freien Finanzmärkten nicht um Spielhöllen, sondern imperfekte, aber nach allem, was wir wissen, immer noch relativ beste institutionelle Verfahren mit den Unsicherheiten einer komplexen, sich dynamisch entwickelnden Welt umzugehen.
Der Glaube, Finanzmärkte seien in dem extremen Sinne effizient, dass jede Kritik an ihnen irrational wäre, erscheint als nahezu ebenso naiv wie der Glaube, dass man sie in ihren Ergebnissen durch eine Verbesserung der Moral der Akteure im Sinne des Gemeinwohls lenken könne. Jeder von uns kann rational versuchen, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Bei einer von den Märkten abweichenden Meinung muss er keinen rationalen Grund für die Revision der eigenen Auffassung haben. Dabei muss sich jedoch jeder bewusst sein, dass es viele voneinander abweichende Meinungen und Varianten rationaler Auffassungen geben kann. Da man nicht definitiv wissen kann, welche dieser Auffassungen die richtige ist, wird die Aggregation aller dieser Auffassung durch Märkte besonderes Gewicht für praktische Zwecke behalten. Das Urteil der Märkte kann man rational für falsch halten, nicht rational ignorieren. Auf der anderen Seite wissen wir auch, dass es Herdenverhalten und andere dynamische Prozesse auf Märkten geben kann, die insbesondere auf hochsensiblen Finanzmärkten zu katastrophalen Ergebnissen führen können. Gehen wir kritisch rational an diese Möglichkeiten heran, so haben wir guten Grund, uns durch Verbesserung der Regeln um Katastrophenschutz zu bemühen und dabei zugleich anzuerkennen, dass es niemals einen perfekten Schutz geben wird. Da wird davon auszugehen haben, dass immer etwas schief gehen wird, immer wieder Krisen auftreten müssen, muss es uns darum gehen, die Regeln so festzulegen, dass Schadensbegrenzung möglich und die Erholung nach der Krise jeweils erleichtert wird. Wir können Abstürze nicht vermeiden, aber dafür sorgen, dass der Sturz nichts zerbricht, sondern die Dinge elastisch reagieren (resilience).
Auch die Vermeidung von Krisen hat ihren Preis. Von einem umfassenderen Standpunkt aus kann es vernünftigerweise weder darum gehen, Krisen gänzlich zu vermeiden noch deren Ausmaß zu minimieren. Es gilt nicht nur „no risk no fun“, sondern auch, dass wir nur dann Innovation und Fortschritt haben können, wenn wir neben Versuchen positiver Art auch den Irrtum negativer Art zulassen. Kurz: Angesichts der Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft geht es bei der Festlegung von vernünftigen Regeln für Finanzmärkte darum, Anzahl und Ausmaß von Krisen zu optimieren, nicht darum Krisen unmöglich zu machen. Dafür wäre der Preis zu hoch.
Literatur:
Brennan, H. Geoffrey und Buchanan, James M. (1993): Die Begründung von Regeln. Tübingen: Mohr.
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Lieber Herr Kliemt,
gerade eben habe ich an Sie über die Frankfurt School eine Mail geschrieben mit der Frage, ob das Wetten gegen den Euro Sünde sei?
Sollte dieses Tun, dies Absicht der vergangenen Tage und Wochen nicht staatlicherseits eingeschränkt bzw. verboten werden? Und darf, ja soll und muß nicht gar die Kirche an der Diskussion der Reglen teilnehmen? Sie schreiben: „Ein Gemeinwesen kann nicht existieren ohne ein gewisses Maß an Gemeinsinn und in der Diskussion der Regeln sollte sich dieser zum Ausdruck bringen“.
Was ich vemisse, sind nach und in der Finanzkrise Worte der Nachdenklichkeit, des Bedauerns, der Mäßigung seitens der Vorstände von Fonds- und Bankgesellschaften; Ihc vermisse eine eine breite, offene und öffentliche Diskussion hinsichtlich der Balance von Eigennutz und Gemeinwohl. (Gibt es konstruktive Beiträge aus der Finanzwelt?)
Das erweckt bei mir den Eindruck: Es geht „ihnen“ zuallererst und und fast ausschließlich um den Eigennutz? Warum kommen von Bankmanagern keine öffentlichen Vorschläge zur Regulierung des Markttreibens? Es scheint, dass bei „ihnen“ immer noch die neoliberale Deregulierungforderung das Denken beherrscht nach dem Motto: „Laßt uns alle Feiheit, der Markt wird’s schon richten“; ja, zu Grunde richten, möchte ich besorgt hinzufügen.
Viele Grüße
Jürgen Stauffert
Pfarrer in Erlenbach