Tutti dei fratelli Marx

Papst Franziskus propagiert in seiner Enzyklika “fratelli tutti” das Ideal der Geschwisterlichkeit als Leitideal menschlichen Zusammenlebens. Er appelliert damit an evolutionär verwurzelte menschliche Gefühle in einer Weise, die quer steht zur kulturellen Evolution der WEIRDs — “western, educated, industrialized, rich and democratic” societies and individuals. WEIRD läßt sich dabei nicht nur wörtlich in das deutsche Prädikat “seltsam” (abwegig, merkwürdig) übersetzen, sodern auch als Akronym sinngemäß übertragen in die Worte “Wohlstand, Erziehung, Individualfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie”.

Der offenkundig gutwillige, liebenswürdige und durchaus gebildete Papst Franziskus sieht die Spannung zwischen dem Ideal der Geschwisterlichkeit und den Prinzipien, die WEIRD begünstigen, nicht. Als einer der “tutti dei fratelli Marx” verkennt er die geschichtliche Rolle der katholischen Kirche. Er erkennt nicht an, dass der freiheitliche Rechts- und Sozialstaat bis heute die einzige Lebensform ist, in der das christlich-marxistische Prinzip des “jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” (vgl. ideengeschichtlich Bovens 2019) zumindest für grundlegende Bedürfnisse näherungsweise in Freiheit realisiert werden konnte.

Die Rechtsstaatlichkeit ist jedoch nicht zu haben, ohne die “geschwisterliche Parteinahme” für den buchstäblich Nächsten durch allgemeine und gleiche Regeln zurückzudrängen. Rechtsregeln ohne Ansehung der Person durchzusetzen, setzt voraus, dass hinreichend viele hinreichend einflussreiche Menschen in hinreichend vielen Bereichen bereit sind, Bereichs-Regeln “ohne Ansehung der Person” und nicht nach persönlichen Loyalitäten anzuwenden.

Bürger freiheitlicher Rechtsstaaten, denen daran gelegen ist, über die priotäre Sicherung des Rechts- und Sozialstaates das mögliche Mass internationaler Rechtlichkeit zu realisieren, dürfen dem naiven Internationalismus, der in der UN Charta und den Ansichten des Papstes angelegt ist (R[andziffer Enzyklika], 257) nicht folgen. Dies zu tun, leistet nur denen Vorschub, deren Ansichten und Handlungen „Recht und Freiheit“ international unterminieren. Worum es geht, zeigt sich, wenn man Ordnungspolitik gleichsam “von Anfang an” betrachtet.

1. Von der Jäger-Sammler- zur allgemeinen Regel-Gemeinschaft 

In der ursprünglichen menschlichen Jäger-Sammler-Adaptation, die ganz vereinzelt bis auf den heutigen Tag überlebt hat, arbeiten Menschen nicht nur mit denen arbeitsteilig zusammen, mit denen sie zumindest weitläufig verwandt und/oder verschwägert sind. Die Ko-Evolution von “Genen, Geist und Gruppenkultur“ ermöglichte es Menschen — wie auch jüngere genetische Untersuchungen zu belegen scheinen — in Gruppen, mit einer maximalen Kopfzahl von ca. 300 — typischer Weise jedoch um 150 — Individuen wie Geschwister zu leben, ohne Geschwister zu sein. Dabei spielt ein Gerüst von Verwandtschaftsbeziehungen eine tragende Rolle, doch können genetisch fremde Individuen nicht nur durch “Einheirat”, sondern auch durch “Befreundung” zu so vertrauten Gliedern der Gemeinschaft werden, dass man von “quasi-geschwisterlichen” zwischenmenschlichen Beziehungen sprechen darf.

In einer Welt der Groß-Organisationen und -Interaktionen, die sich insbesondere seit der neolithischen Revolution und der Domestikation von Pflanzen und Tieren herausgebildet hat, gilt das “small is beautiful” jedoch nur noch für Sub-Interaktionen. Kleine können dem Konkurrenzdruck entsprechend organisierter Großgruppen nicht standhalten und werden verdrängt.

Nachdem die ersten Staaten entstanden, braucht es einen Staat, um Menschen nach außen gegen andere Staaten und einen nach allgemeinen Regeln operierenden Rechtsstaat, um sie nach innen gegen den eigenen Staat zu schützen. Sollen die zentralen zivilisatorischen Errungenschaften westlicher Rechtsstaatlichkeit bewahrt werden, muss jeder Bürger die Kosten von Anonymisierung und Generalisierung tragen, die mit Großorganisationen unweigerlich einhergehen. Der Gewinn an individueller Lebensqualität und Sicherheit gegen von Natur und Menschen gemachte Gefahren ist dabei — zumal in modernen Rechtsstaaten — unvergleichlich höher zu schätzen als die (im)materiellen Kosten.

Die Enzyklika fratelli tutti teilt diese Einsicht nicht. Sie versteht nicht, dass die Zurückdrängung der Rolle von “geschwisterlichen” Beziehungen in Organisationen und auf Märkten Voraussetzung der Überwindung von “Vetternwirtschaft” ist. Bei allen hartnäckigen Übeln beruht der “merkwürdige” (weird) Fortschritt der letzten dreihundert Jahre hin zum WEIRD darauf, dass immer größere Teile der Menschheit gelernt haben, sich nicht nur auf die zu verlassen, mit denen sie dauerhaft in kleinen Gruppen verbunden sind.

Durch Auflösung tradierter Klan-Organisation wurden die Menschen zur Assoziation mit frei gewählten Partnern und zu Transaktionen mit Fremden zunehmend in die Lage versetzt (Seabright 2010). Die zum wechselseitigen Vorteil der Beteiligten wirkende Ausweitung des Netzes kooperativer, unpersönlicher Beziehungen wird von denen, die dem Ideal der fratelli tutti huldigen, als “Entfremdung” wahrgenommen. Sie sehnen sich danach, aus der großen Welt anonymer Zusammenarbeit zur kleinen Welt personaler Beziehungen zurückzukehren. Der Papst appelliert durchaus populistisch an diese Sehnsucht.

2. O-Ton Franziskus (alle Zitationen mit Randziffern aus der Enzyklika fratelli tutti)

“Angesichts gewisser gegenwärtiger Praktiken, andere zu beseitigen oder zu übergehen, sind wir in der Lage, darauf mit einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu antworten, der sich nicht auf Worte beschränkt.” ([6])

Immerhin findet der Papst erfreulich klare Worte dafür, die Todesstrafe abzuschaffen (vgl. [258]). Ansonsten macht er wenig konkrete Vorschläge, sondern ergeht sich in Anspielungen, wonach “heute” die Verhältnisse besonders problematisch sind. Natürlich ist “heute” nicht alles zum besten gestellt, aber wenn man den globalen Trend zur Verbesserung unterstützen will, sollte man sich hüten, die Kräfte, die zum Besseren wirken, zu delegitimieren. Genau das vollzieht fratelli tutti, indem das Wort “heute” im Text durchgängig mit negativen Erscheinungen assoziiert wird.

“Es gibt heute in der Welt weiterhin zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit, genährt von verkürzten anthropologischen Sichtweisen sowie von einem Wirtschaftsmodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten.” ([22]) Zwar wird das Wort “weiterhin” benutzt, aber es wird kein weiteres Wort über die endemische Rechtlosigkeit früherer Zeiten und die damit verknüpfte Ausbeutung in offiziell nicht auf “Profit gründeten” Wirtschaftsmodellen hinzugefügt (vgl. für Anschauungsmaterial dazu, wie furchtbar diese Vergangenheit war, Pinker 2012).

“Was bedeuten heute einige dieser Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Einheit? Sie sind manipuliert und verzerrt worden, um sie als Herrschaftsinstrumente zu benutzen, als sinnentleerte Aufschriften, die zur Rechtfertigung jedweden Tuns dienen können.” ([14])

Wo das Wort “heute” vermieden und auf einen aus Sicht des Papstes positiven Trend verwiesen wird, wird der Text real-politisch wirklich bedenklich:

»Die ständig steigende Zahl der Verbindungen und Kontakte, die unseren Planeten überziehen, macht das Bewusstsein der Einheit und des Teilens eines gemeinsamen Geschicks unter den Nationen greifbarer. So sehen wir, dass in die Geschichtsabläufe trotz der Verschiedenheit der Ethnien, der Gesellschaften und der Kulturen die Berufung hineingelegt ist, eine Gemeinschaft zu bilden, die aus Geschwistern zusammengesetzt ist, die einander annehmen und füreinander sorgen«. ([96])

Der Papst macht keine Unterschiede zwischen Rechtsstaaten und solchen, die keine Rechtsstaaten sind, wenn es um internationale Beziehungen geht; “(d)enn »die internationale Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft, die auf der Souveränität jedes Mitgliedsstaates beruht, dessen Unabhängigkeit nicht durch Bande der Unterordnung negiert oder eingeschränkt wird«. ([173]) Überdies stellt er fest: “Es ist keine pure Utopie, jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert. Dazu braucht es Entschiedenheit und die Fähigkeit, wirksame Wege zu finden, die sie real möglich machen.” ([180]) — Ein Schelm, der hier an universelle Öffnung der Grenzen und der Zuwanderung von denen, die nicht weird sind, denkt? Das sogenannte Erbe Europas, das wesentlich auf das Wirken der katholischen Kirche zurückzugehen scheint, steht auf dem Spiel und damit auch das Erbe des Katholizismus selbst.

3. Die geschichtliche Leistung der Katholischen Kirche

Nachdem die katholische Kirche sich über viele Jahrzehnte als konservatives Bollwerk gegen den Marxismus verstand — wobei sie sich leider auch mit abscheulichen Autokraten verschiedenster Couleur einließ — haben wir es nun mit progressivem Marxismurx zu tun (vgl. http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?s=kliemt+seehofer). Darin liegt insofern eine tragische Ironie als — jedenfalls nach neueren empirischen Forschungsergebnissen — die katholische Kirche den geschichtlichen Aufstieg von WEIRD wesentlich mit-verursacht hat.

Jüngere, empirisch recht gut unterfütterte, im weiteren Sinne kulturanthropologische Studien legen nahe, dass das Wirken der katholische Kirche eine bedeutende Rolle gespielt hat im Prozess der Individualisierung, dem Trend zur Kleinfamilie und dem Abbau des Einflusses der Klanstrukturen (Schulz et. al 2019). Nach diesen Studien scheint der Einfluss der katholischen Kirche hauptverantwortlich für die Ausbreitung der Neigung zur unparteiischen Regelbefolgung im Umgang mit Personen außerhalb von Verwandtschaftsnetzwerken gewesen zu sein. Durch Durchsetzung der Monogamie, die Zurückdrängung der Vettern- und Basenehe, die Schaffung von innerkirchlichen Organisationsstrukturen, die unabhängig von Familien- und Freundschaftsbanden verlässlich wirken, und durch Zerschlagung der Klan- und Familienstrukturen, die ansonsten die Seuche der Vetternwirtschaft begünstigten, hat die katholische Kirche den Fortschritt zu WEIRD ermöglicht.

Schwierigkeiten mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit etwa in Sizilien oder im Bereich jener europäischen Staaten, deren Entwicklung sich überwiegend unter dem Dach der griechisch-orthodoxen Kirchen vollzog, scheinen eng mit der Länge und Intensität des Einflusses der katholischen Kirche korreliert. Die entwickelten Maßzahlen und Details der Studien nähren eine starke Anfangsvermutung, dass das Wirken der katholischen Kirche kausal für das Auftreten von “WEIRD-Phänomenen” gewesen ist und nicht nur damit korreliert (vgl. dazu ebenso grundlegend wie populär Henrich 2020).

Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet das Oberhaupt der katholischen Kirche in fratelli tutti den mit dem Aufstieg der modernen regelbasierten Rechtsstaatlichkeit und Moral verbundenen zunehmenden Niedergang der Brüderlichkeit beklagt und eine Rückkehr zu vormodernen Organisationsformen im Namen der Nächstenliebe propagiert. Das ist gut gemeint, aber der Versuch einer Umsetzung wäre kein Akt der Nächstenliebe, sondern würde die Fehler des realverblichenen Sozialismus wiederholen.

Referenzen

Bovens, Luc, and Adrien Lutz. forthcoming. “‘From Each According to Ability; To Each According to Needs’:  Origin, Meaning, and Development of Socialist Slogans.” History of Political Economy.

Pinker, Steven. 2012. The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined. Reprint. New York Toronto London: Penguin Books.

Schulz, Jonathan F., Duman Bahrami-Rad, Jonathan P. Beauchamp, and Joseph Henrich. 2019. “The Church, Intensive Kinship, and Global Psychological Variation.” Science 366 (6466). https://doi.org/10.1126/science.aau5141.

Seabright, Paul. 2010. The Company of Strangers: A Natural History of Economic Life. Princeton: Princeton University Press.

Zum Marxismurx zusätzlich http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?s=kliemt+seehofer.

Eine Antwort auf „Tutti dei fratelli Marx“

  1. „Jüngere, empirisch recht gut unterfütterte, im weiteren Sinne kulturanthropologische Studien legen nahe, dass das Wirken der katholische Kirche eine bedeutende Rolle gespielt hat im Prozess der Individualisierung, dem Trend zur Kleinfamilie und dem Abbau des Einflusses der Klanstrukturen (Schulz et. al 2019). Nach diesen Studien scheint der Einfluss der katholischen Kirche hauptverantwortlich für die Ausbreitung“

    Vielleicht ist die zeitliche Auflösung dieser Studien zu klein. Der tiefste zivilisatorische Strukturbruch war wohl der Übergang von der Spätantike zum „christlichen Abendland“. Bei diesem Strukturbruch wurde eine, sicherlich nicht perfekte, aber im historischen Vergleich doch schon sehr fortgeschrittene individualistische Rechtskultur mit weitreichenden, wenn auch abgestuften, Bürgerrechten, zerstört.

    Der Verfall der spätantiken Bildungsinfrastruktur, messbar an den enormen Buchverlusten beim Übergang zum „christlichen Abendland“ und der Reduzierung des Bildungsprivilegs auf eine kleine elitäre Kaste von Mönchen und Geistlichen, kennzeichnet einen Epochenbruch, der die zivilisatorische und technologische Entwicklung in einer Periode versinken lies, die zu Recht als „dunkles Mittelalter“ bezeichnet wird.

    Dass es der bürgerlichen Aufklärung dann gelungen ist, das dunkle Mittelalter zu überwinden, war sichlich nicht das Verdienst der katholischen Kirche.

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