Es wird von Seiten der Politik immer wieder betont, dass das Recht, sich nicht gegen das Covid-19 Virus impfen zu lassen, außer Frage stehe. Die ebenso wichtige Frage danach, wie es mit dem Recht bestellt ist, schnellstmöglichen Zugang zu Impfstoffen zu erlangen, wird hingegen kaum gestellt. Aber staatliche Zulassungskontrolle sowie ein staatliches Monopol auf Zuteilung von Impfstoff, die den Zugang verzögern, sind keineswegs selbstverständlich mit den Prinzipien freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit und dem Rechtsgüterschutz der Bürger vereinbar.
1. Folgenfreie Impfentscheidung
Es heißt, dass der Verzicht auf Impfung nicht mit Nachteilen und geimpft zu sein, nicht mit Vorteilen verbunden sein dürfe. Während der Verzicht auf eine Impfpflicht außerhalb extremer Notlagen angemessen scheint, sollte es aber ebenso klar sein, dass die Bürger zurechenbare Vor- und Nachteile ihrer Impfentscheidungen möglichst selbst zu tragen haben. Wenn Geimpfte nicht nur selbst gegen die Krankheit immun sein sollten, sondern das Virus auch nicht weiterverbreiten (was wir noch nicht wissen), darf der Fahrgast eines Taxis dann nicht Auskunft über das Vorliegen einer Impfung beim Fahrer verlangen und umgekehrt der Fahrer vom Fahrgast? Der Vorschlag einen Immunitätsausweis einzuführen, der ja schon zu Beginn der Covid-19 Welle gemacht wurde, liegt auf der Hand. Selbst wenn es Personen geben sollte, für die aus medizinischen Gründen ausschlaggebende Kontraindikationen gegen eine Impfung bestehen, ist es schwer einzusehen, warum andere Bürger nicht in die Lage versetzt werden sollten, den Kontakt mit denen zu vermeiden, die sie einem Infektionsrisiko aussetzen. Sobald die Impfung flächendeckend verfügbar sein wird, werden insbesondere die Impfgegner ein solches Interesse haben (und bis zur Impfung alle noch nicht geimpften Personen).
Dass man die Folgen der eigenen Impfentscheidungen zu tragen hat, hat mit Impfpflicht durch die Hintertür nichts zu tun, sondern eigentlich nur mit Normen des zivilen Umgangs in einer Gesellschaft selbstverantwortlicher Bürger. Die gegenwärtige covid-19 Krise führt uns erneut vor Augen, wie sehr die Bereiche privater Ermächtigung zu und Verantwortung für Entscheidungen mit dem Bereich öffentlicher Fürsorge vermischt werden. Lore Lorentz‘ Diagnose, dass die erste große Koalition von SPD und CDU (1966-1969) die Synthese von sozialdemokratischer Verwaltungsfreude und den Relikten christdemokratischen Obrigkeitsdenkens sei, gilt immer noch. Bei nüchterner Betrachtung kann man dennoch mit den Ergebnissen des Zusammenwirkens von SPD und CDU in Deutschland vergleichsweise zufrieden sein, zumal die Republik insgesamt Fortschritte in Richtung größerer Liberalität gemacht hat. Angesichts des erschreckenden Niedergangs der Qualität des Führungspersonals der SPD und abnehmenden ordnungspolitischen Verständnisses in Reihen der Christdemokraten muss man mittlerweile allerdings einige Befürchtungen hegen, dass in Folge der covid-19 Krise zusätzlicher ordnungspolitischer Schaden eintritt.
2. Das Recht der Abwägung von Impfchancen und -risiken
Angesichts der zweifellos überwiegend gerechtfertigten Zumutungen der Kontaktbeschränkungen ist es die erste politische Pflicht der Regierung alles zu tun, um den Impfstoff nun zügig „unter das Volk zu bringen“. Dabei liegt es in ihrer Kompetenz Rationen des Impfstoffes, die sie mit öffentlichen Mitteln erwirbt, nach öffentlich definierten Priorisierungsmaßstäben zuzuteilen. Es ist aber keineswegs selbstverständliches Vorrecht der Regierung, den Bürgern ohne Not Güterabwägungen aufzuzwingen oder beispielsweise einen selbstfinanzierten und -organisierten Zugang zu Impfstoffen zu behindern.
Wenn erklärt wird, der Schutz von Menschenleben sei allen anderen Gesichtspunkten vorangestellt, wie will man dann lebensgefährdende Verzögerungen im Zugang zu Impfmaßnahmen rechtfertigen? Solche Verzögerungen werden gegenwärtig mit großer Selbstverständlichkeit aus Gründen politischer Opportunität in Kauf genommen. Zu beklagen ist dabei nicht, dass der Schutz von (statistischen) Leben nicht allen anderen Gesichtspunkten vorangestellt wird. Keine Regierung gibt gern zu, dass sie statistische Leben gegeneinander und gegen andere Gesichtspunkte politischer Opportunität abwägt, obwohl genau dies unvermeidlich mit ihrem Handeln verknüpft ist. Zu beklagen ist vielmehr die Willkür, mit der dies vollzogen werden kann, ohne dass es zu einer transparenten öffentlichen Debatte über die zugrunde liegenden Wertkonflikte käme.
Wie immer im Falle der Zulassung von wirksamen Arzneimitteln, gibt es – aufgrund der Wirksamkeit als solcher – Wirkungen und Nebenwirkungen, Chancen und Risiken. Den durch Zulassung eines Arzneimittels bewirkten möglichen Schäden stehen immer durch Nichtzulassung bewirkte Schädigungen oder der durch Nichtzulassung bzw. Zulassungsverzögerung entgangene Nutzen gegenüber. Bürgern den selbst verantworteten Zugang zu einem an sich möglichen Impfschutz zu verwehren, kann lebensgefährdend für diese Bürger sein. Es ist zwar eine noch Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügende Staatsaufgabe, Risiken auszuschließen, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu Chancen stehen. Darüber hinaus ist es aber grundsätzlich schwer nachzuvollziehen, warum man Bürger nicht selbst entscheiden lässt, wie sie Risiken und Chancen auch vor endgültiger Zulassung von Heilmitteln für sich bewerten. (Nach keineswegs völlig absurden Schätzungen haben Arzneimittelzulassungsbehörden möglicherweise mehr Todesfälle durch verspätete als durch zu frühe Zulassung von Heilmitteln zu verantworten, weil sie die sichtbaren Schäden gegenüber dem seiner Natur nach wenig sichtbaren entgangenen Nutzen unverhältnismäßig hoch bewerten). Was kann in einem freiheitlichen Rechtsstaat staatliche Maßnahmen rechtfertigen, die den Zugang zu vorhandenen, erfolgversprechenden und zugleich voraussichtlich risikoarmen Impfmaßnahmen verzögern?
Wer Schäden durch Nicht-Impfung in die Verantwortung des einzelnen Bürgers stellen will, sollte grundsätzlich auch bereit sein, den Bürgern anheim zu stellen, mögliche Schädigungen durch Impfung eigenverantwortlich in Kauf zu nehmen. Es ist keineswegs so, dass Arzneimittelbehörden und Staat ein natürliches Kompetenzmonopol auf die angemessene Abwägung von Risiken und Chancen von Impfungen und anderen Arzneimitteln besäßen. Die Risiko- und anderen Einstellungen von Bürgern sind im Gegenteil so heterogen, dass viele Maßnahmen insoweit auf letztlich obrigkeitsstaatlichen Annahmen über die Inkompetenz „schutzbefohlener“ Bürger beruhen.
3. Eine europäische, bedingte ist „besser“ als eine einzelstaatliche Notfall-Zulassung
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat diese These sinngemäß vertreten, um die Verzögerung durch Zulassung im europäischen Verbund zu rechtfertigen. Dafür hat er andeutungsweise zum einen auf den Gesichtspunkt der Qualitätssicherung des Zulassungsverfahrens verwiesen und zum anderen auf das ganz anders geartete Ziel, den europäischen Zusammenhalt zu wahren.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Medizin als evidenzbasierte wissenschaftliche Disziplin überhaupt nichts dazu sagen kann, wie sicher ein Zulassungsverfahren sein muss, um für praktische Zwecke akzeptabel zu sein. Wissenschaft kann allein etwas dazu sagen, wie groß die Wahrscheinlichkeiten etwa von Fehlern erster und zweiter Art sind, die im Zuge der Anwendung eines Verfahrens auftreten können. Die Güterabwägung von Chancen und Risiken der Impfung liegt außerhalb der Fachkompetenz der Wissenschaft (und erst recht der sogenannten Fachethik). Da viele Wissenschaftler und insbesondere viele Mediziner dies nicht wahrhaben möchten, findet jeder Politiker einen passenden Mediziner (oder Ethiker), der sich anmaßt, sein persönliches Werturteil als „Urteil der Wissenschaft“ auszugeben und es dem Politiker damit erlaubt, seiner politischen Verantwortung scheinbar auszuweichen. Das ist auf Dauer schädlich für beides, die angemessene Rolle der Wissenschaft und die Transparenz der Politik.
Konkret, die These, dass auf europäischer Ebene die für die Zulassung vorgelegten Daten gründlicher und besser geprüft werden könnten, als in Einzelstaaten entbehrt der Plausibilität — zumindest solange es nur um die Prüfung bereits vorhandener und nicht die Erhebung zusätzlicher Daten geht. Nichts spricht beispielsweise dafür, dass die in Großbritannien vollzogene „Notfallzulassung“ qualitativ mangelhaft wäre. Zwar hat Großbritannien keineswegs ein Gesundheitssystem, dass wir insgesamt als nachahmenswert einschätzen sollten, doch haben die Briten eine ausgesprochen solide Tradition der evidenz-basierten Evaluation von Gesundheitsleistungen. Selbst wenn es jedoch so sein sollte, dass das gesamteuropäische Zulassungsverfahren der EMA zuverlässiger die Risiken und Chancen beschreiben könnte, wäre das kein hinreichender Grund für eine Rechtfertigung des Zeitverzuges. Für diese Rechtfertigung käme es allein darauf an, die von der früheren Zulassung ausgehenden Chancen mit den Risiken des Zulassungsverfahrens abzuwägen. Diese Abwägung ist aber gerade keine wissenschaftliche Frage, sondern eine politische (und soweit möglich eine private).
Der Bundesgesundheitsminister hat zudem anklingen lassen, dass es aus Gründen des europäischen Zusammenhaltes wichtig sei, dass in allen europäischen Staaten, den reicheren wie den relativ weniger gut gestellten die Impfkampagnen im Großen und Ganzen zeitlich gleich getaktet anlaufen und durchgeführt werden sollten. Das ist zunächst ein nachvollziehbares Argument, da der Zusammenhalt der EU jedenfalls für viele Bürger ein wichtiges Gut darstellt. Dabei sollte aber klar sein, dass es sich bei diesem Argument gerade nicht um eines handelt, das sich auf die medizinische Qualitätssicherung und den Schutz von Leben berufen kann.
Angesichts der unterschiedlichen Fähigkeiten der Gesundheitssysteme, die Impfkampagnen effektiv durchzuführen, scheint überdies absehbar, dass die Geschwindigkeit, mit der eine Immunisierung eines hinreichenden Anteils der Bevölkerung erreicht werden kann, variieren wird. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich die Schwarzer-Peter-Spiele auszumalen, zu denen die politischen Bürokratien der weniger effektiven gegenüber den effektiveren Systemen zur Rechtfertigung ihrer eigenen Unfähigkeit greifen werden. (Da einiges dafür spricht, dass die deutsche Impfkampagne schon aufgrund des Einflusses der niedergelassenen Ärzte nicht so zügig wie möglich stattfinden wird, ist die Bundesrepublik insoweit voraussichtlich auf der sicheren Seite.)
4. Die Bürger sollten nach allgemeinen Priorisierungsmaßstäben im Zugang zu Impfstoffen gleich behandelt werden
Soweit sich Impfstoffe in staatlichem Besitz befinden, ist eine priorisierungsgeleitete Verteilung nach Maßstäben des im weiteren Sinne medizinischen Nutzens gewiss angemessen. Was wird aber geschehen, wenn Impfstoffe international verfügbar werden und von deutschen Bürgern privat im In- oder im Ausland erworben werden könnten? Wenn man darauf beharrt, dass Gesundheit wichtig ist, kann man kaum kohärent behaupten, dass die Gesundheitsinteressen eines wohlhabenden Bürgers, selbst dann Gleichheitsvorstellungen geopfert werden sollen, wenn er durch eine selbstfinanzierte Impfung keinen Bürger in der öffentlichen Impfschlange schlechter stellt: Jeder deutsche Bürger, der sich etwa im Ausland impfen ließe, würde dadurch aus der Impfschlange ausscheiden. Alle zu ihm nachrangig priorisierten Bürger würden aufrücken. Das gleiche gilt, wenn im deutschen Impfsystem Engpässe bei der Verimpfung aufträten und durch private Eigeninitiative behoben werden könnten. Dadurch würden nach allem, was wir wissen, mehr Leben gerettet als gefährdet, eine größere Zahl von Menschen vor schwerer Krankheit bewahrt und mit Bezug auf die Impfgeschwindigkeit sogar eine Pareto-Verbesserung eintreten.
5. Wo geimpft wird fliegt ein Spahn?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erfreut sich nicht zu Unrecht großer Wertschätzung. Es ist nicht seine Aufgabe, die vorangehenden und ähnliche Fragen öffentlich zu diskutieren. Es ist aber die Aufgabe oppositioneller Politiker, der kritischen Öffentlichkeit und letztlich einzelner Bürger, solche Fragen aufzuwerfen. Der ordnungspolitisch eher minderbemittelte Ethikrat ist als offizielle Stimme wenig geeignet, die versteckten Kosten vieler zunächst plausibler staatlicher Politiken aufzuzeigen. Spielräume für eigenverantwortliche Bürgerentscheidungen einzufordern, wo diese ohne Risiken für das große Ganze eröffnet werden können, hat leider wenig Anwälte. Dabei geht es keineswegs um Querdenker- und AfD-Quark, sondern darum, die einzelnen Bürger zu ermächtigen, soweit möglich ihre eigenen Güterabwägungen vorzunehmen. Die Wissenschaft sagt ihnen ebenso wie Politikern etwas über die Fakten und nichts darüber, wie sie diese je für sich gegeneinander abwägen sollten.
Es wäre gut, wenn die Politik sich erneut klarmachte oder ihr klargemacht würde, dass sie in einer pluralen Gesellschaft Zurückhaltung walten lassen sollte. Hier wären FDP und vielleicht auch die Körner-FDP als starke Gruppierung der Grünen gefordert. Der von beiden Parteien vorgebrachte Wunsch nach einer gesetzlichen Grundlage für das staatliche Handeln läuft allerdings auf ein Maßnahmegesetz hinaus, das den staatlichen Durchgriff eher stärken wird, als die Bürger zu eigenen Entscheidungen zu ermächtigen und deren Folgen selbst zu verantworten. Dass die Covid-19 Maßnahmen eine Gefahr für die freiheitliche Rechtsstaatlichkeit darstellen, ist wenig einleuchtend, da sie rechtsstaatlich genügend eingehegt sind. Die Gefährdungen liegen eher auf der Ebene eines abnehmenden grundsätzlichen Bewusstseins für die Notwendigkeit, die Maxime leben und leben lassen immer wieder zu verteidigen. Im vorliegenden Falle „impfen und impfen lassen!“.
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