Bis zum letzten Dezember bestand unter Fachleuten Einigkeit, dass die EU ihren Haushalt nicht mit Schulden finanzieren darf. So befindet sich in Kapitel 3 der EU-Haushaltsordnung unter der Überschrift “Grundsatz des Haushaltsausgleichs” der folgende Artikel 17: (1) “Einnahmen und Mittel für Zahlungen sind auszugleichen”. (2) “Die Union und die in den Artikeln 70 und 71 genannten Einrichtungen der Union sind nicht befugt, im Rahmen des Haushalts Kredite aufzunehmen”. Dem entspricht im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Artikel 311 Absatz 2: “Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert”. Eigenmittel sind die Zolleinnahmen und die Finanzierungsbeiträge der Mitgliedstaaten[1]. “Sonstige Einnahmen” im Sinne von Absatz 2 sind Einnahmen außerhalb des Haushalts[2]. Entsprechend kommen auch die einschlägigen rechtswissenschaftlichen Kommentare einhellig zu dem Schluss, dass eine Schuldenfinanzierung des EU-Haushalts nicht erlaubt ist.
Nach Artikel 5 Ziffer 1 Satz 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) bedürfte es dafür einer “begrenzten Einzelermächtigung”[3]. Ziffer 2 desselben Artikels legt fest, dass die Ermächtigung “in den Verträgen” erteilt worden sein muss[4]. Der Europäische Rat sieht die erforderliche vertragliche Ermächtigung in Artikel 311 Absatz 3 AEUV. Die ersten beiden Sätze des Absatzes lauten: “Der Rat erlässt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einen Beschluss, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden. Darin können neue Kategorien von Eigenmitteln eingeführt und bestehende abgeschafft werden”. Damit stellt sich die Frage, ob die Mittel, die die EU am Kapitalmarkt aufnehmen will, als eine neue Kategorie von Eigenmitteln betrachtet werden können. Hält man sich einfach an die Bedeutung des Wortes “Eigenmittel”, so ist klar, dass geborgte Mittel keine Eigenmittel sind. Geborgte Mittel sind das genaue Gegenteil von Eigenmitteln.
Tatsächlich behauptet der Rat in seinem “Eigenmittelbeschluss” vom 14.12.20[5] auch nicht, dass die am Kapitalmarkt aufzunehmenden Mittel “Eigenmittel” sind. Die Eigenmittel werden in Absatz 2 des Beschlusses unter der Überschrift “Eigenmittelkategorien und konkrete Methoden für ihre Berechnung” aufgelistet; die am Kapitalmarkt aufzunehmenden Mittel sind nicht darunter. Sie erscheinen gesondert in Artikel 5 des Beschlusses unter der Überschrift “Außerordentliche und zeitlich befristete Mittel zur Bewältigung der Folgen der Covid-19-Krise”.
Wenn die geborgten Mittel also keine Eigenmittel sind, wieso wird über sie in einem “Eigenmittelbeschluss” nach Artikel 311 Absatz 3 entschieden? Das liegt daran, dass in Artikel 311 Absatz 3 nicht einfach von “Eigenmitteln”, sondern vom “System der Eigenmittel” die Rede ist: er ermächtigt den Rat zu Beschlüssen, mit denen “die Bestimmungen über das System (!) der Eigenmittel” festgelegt werden. Gehören die geborgten Mittel vielleicht zum “System der Eigenmittel”, obwohl sie selbst keine Eigenmittel sind? Das behauptet der Rat mit der Begründung, dass die geborgten Mittel, wie gleichzeitig beschlossen wurde, aus neuen zukünftigen Eigenmitteln zurückgezahlt werden sollen. Es ist jedoch nicht so, dass die zukünftigen Eigenmittel heute eine Verschuldung notwendig machen. Es ist umgekehrt die Verschuldung heute, die in der Zukunft höhere Eigenmittel erfordert. Da der Begriff “System der Eigenmittel” also nicht eine Schuldenfinanzierung beinhaltet, kann Artikel 311 Absatz 3 nicht als begrenzte Einzelermächtigung für die Schuldenfinanzierung des EU-Haushalts herhalten. Die beschlossene Schuldenfinanzierung ist rechtswidrig, nämlich eine Kompetenzüberschreitung (“ultra vires”). Für die vom Rat gewünschte Schuldenfinanzierung des EU-Haushalts wäre eine Änderung der europäischen Verträge notwendig gewesen.
Man hat den Eindruck, dass sich die im Europäischen Rat versammelten Politiker gar nicht mit der Frage beschäftigt haben, ob das, was sie in Anbetracht der Krise beschließen zu müssen glaubten, überhaupt legal ist, sondern dass sie einfach den Juristischen Dienst des Rates (und der Kommission?) beauftragt haben, nach einer möglichst intransparenten und möglichst wenig unplausiblen juristischen Konstruktion zu suchen, um ihre “alternativlosen” Maßnahmen rechtlich zu legitimieren. Die legale Alternative wäre gewesen, den Mitgliedstaaten höhere Beiträge abzuverlangen.
Die Verfassungsbeschwerde, die am 22.03.21 von einer Gruppe von mehr als drei dutzend Professoren und mehreren tausend weiteren Klägern gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum europäischen “Eigenmittelbeschluss” eingereicht wurde, hat zum Ziel, eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zu erwirken, die den Bundespräsidenten daran hindert, das Zustimmungsgesetz vor dem endgültigen Urteil zu unterzeichnen.
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[1] Vgl. Artikel 2 des Beschlusses 2020/2053 des Rates über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom.
[2] Wenn gemeint wäre, dass auch der Haushalt aus sonstigen Einnahmen finanziert werden darf, wäre Absatz 2 inhaltsleer so wie der Satz „Der Haushalt wird aus Mitteln vom Typ E und aus Mitteln vom Typ Nicht-E finanziert“. Inhaltsleere Bestimmungen darf man den Vertragspartnern bei der Interpretation des Vereinbarten nicht unterstellen.
[3] Satz 1 von Ziffer 1 lautet: „Für die Abgenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung“.
[4] Satz 1 von Ziffer 2 lautet: „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen (!) zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“.
[5] Zur Fundstelle vgl. Endnote 1.