Wie frei ist die EZB heute noch in ihren geldpolitischen Entscheidungen angesichts der Interessen hoch verschuldeter Euro-Staaten? Die öffentlichen Schuldenstände haben in einigen Ländern für Friedenszeiten historische Höchstmarken erreicht. Gleichzeitig ist das Eurosystem über die Ankaufprogramme PSPP und PEPP zum mit Abstand wichtigsten Investor in Euro-Staatsanleihen geworden. Es wundert nicht, dass die Skepsis wächst, ob der EZB-Rat es sich wirklich noch leisten kann, in seinen Entscheidungen die Interessen der nationalen Finanzminister zu ignorieren.
Dass die EZB heute eine ganz erhebliche Rolle für die Finanzierbarkeit der nationalen Staatsverschuldung spielt, kann niemand ernsthaft bestreiten. Die EZB beeinflusst inzwischen mit ihren Anleihekäufen und ihrer Steuerung von langfristigen Kapitalmarktzinsen unmittelbar die staatlichen Finanzierungsbedingungen. Das Eurosystem kauft die Staatsanleihen zunehmend selektiv. Schon vor der Pandemie waren die Anteile immer stärker vom EZB-Kapitalschlüssel zu Gunsten der hoch verschuldeten Euro-Staaten abgewichen. Mit dem Krisenprogramm PEPP betreibt die EZB inzwischen sogar eine Steuerung der Spreads, der Zinsaufschläge hoch verschuldeter Eurostaaten. Der EZB-Rat argumentiert, dass all dies zur Sicherung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus in einem Krisenumfeld unverzichtbar sei. Diese Argumente mögen stimmen oder auch nicht. Unstrittig ist jedoch, dass eine reibungslose Refinanzierung für die hoch verschuldeten Euro-Staaten ohne die EZB-Hilfen immer weniger vorstellbar ist.
Risiko fiskalischer Dominanz
Aus dem Befund, dass geldpolitische Entscheidungen für die Finanzierbarkeit von Staatsschulden wichtiger denn je geworden sind, folgt nicht zwingend, dass die Mitglieder des EZB-Rats sich von dieser Interessenlage auch leiten lassen. Diesen Beweis unzweifelhaft zu erbringen, ist schwierig, weil es für den EZB-Rat leicht ist, rhetorisch irgendeine geldpolitische Rechtfertigung zu liefern. Hier können forensische Methoden helfen, die zumindest Indizien für einen Einfluss fiskalischer Interessen auf geldpolitische Entscheidungen liefern können. In einer aktuellen Analyse hat das ZEW nun eine solche Methode vorgestellt, die sich die beobachtbaren Konfliktlinien im EZB-Rat zunutze macht und fragt, ob sich diese Konfliktlinien durch unterschiedliche fiskalische Interessen erklären lassen.
In dieser Analyse werden die Mitglieder des EZB-Rats nach ihren Äußerungen zu PEPP im Frühjahr diesen Jahres in „Falken“, „Neutrale“ und „Tauben“ klassifiziert. Als „Falke“ wird dabei eingruppiert, wer zum Beispiel einen Ausstieg aus PEPP anmahnt oder Inflationsgefahren stark thematisiert. Als „Taube“ kategorisiert wird, wer sich für eine Fortdauer der sehr expansiven Geldpolitik und des Kaufprogramms auf absehbare Zeit einsetzt. „Neutral“ werden Ratsmitglieder bezeichnet, die sich keiner Seite eindeutig zuordnen lassen. Die Studie untersucht dann, ob es eine Korrelation zwischen dieser Einordnung und der Höhe der Staatsverschuldung zu Hause gibt. Tatsächlich existiert diese Korrelation und ist statistisch signifikant. Der durchschnittliche Schuldenstand in den Herkunftsländern der „Tauben“ ist fast doppelt so hoch wie im Land der „Falken“.
Die ZEW-Studie stellt dabei klar, dass eine solche Korrelation keinen kausalen Einfluss der Staatsverschuldung auf geldpolitische Positionen beweisen kann. So könnte das Ergebnis einfach Zufall sein. Es wäre auch denkbar, dass Zentralbankpräsident/innen aus den hoch verschuldeten Ländern einer anderen makroökonomischen Schule angehören als die der niedriger verschuldeten Eurostaaten. Auch könnte sich diese Korrelation durch die unterschiedliche Inflationsdynamik der Eurostaaten erklären lassen. All das ist nicht auszuschließen, so dass eine solche Korrelationsanalyse zwar ein Indiz für die fiskalische Dominanz liefert, aber eben keinen Beweis.
Genauso wenig, wie bis heute ein Beweis für die fiskalische Dominanz existiert, gibt es bislang eindeutige Gegenbeweise. Aus dem EZB-Direktorium wurden bislang empirische Befunde geliefert, die ebenfalls mit einfachen Korrelationen arbeiten. Beispielsweise wurde für die Zeit vor der Pandemie gezeigt, dass die monatlichen Anleihekäufe des Eurosystems nicht mit den monatlichen Emissionsvolumina der Staaten korrelieren. Dies wurde als Beleg gedeutet, dass es keine auf die Finanzierungserfordernisse der Euro-Staaten abgestellte Geldpolitik gäbe.
Aufschlussreich sind nun die Reaktionen auf derartige Resultate. EZB-Watcher reagieren auf die ZEW-Studie eher gelangweilt und fragen, wo eigentlich der Neuigkeitswert dieser Erkenntnisse liegt. Hingegen sind die Reaktionen von (ehemaligen) Angehörigen der EZB deutlich kritischer. Durchaus zutreffend wird betont, dass eine Korrelation noch keine kausalen Schlüsse erlaubt. Des Weiteren wird der Vorwurf der „tendenziösen“ Forschung erhoben. Interessanterweise schweigen dieselben Kritiker aber, wenn die EZB selber versucht, sich mit Korrelationsanalysen gegen den Vorwurf der fiskalischen Dominanz zu wehren. Hier entsteht der Eindruck, als ob methodisch mit zweierlei Maß gemessen wird, je nachdem, ob die Resultate für die EZB angenehm sind oder nicht.
Tendenziöse Studien
Diese Kontroverse um Studien zur fiskalischen Dominanz ist somit ein geeigneter Moment einmal zusammenzufassen, was wir empirisch heute über eine mögliche Tendenziösität in der geldpolitischen Forschung wissen. Dazu liefert eine Studie von Brian Fabo und Koautoren („Fifty Shades of QE: Conflicts of Interest in Economic Research“) über mögliche Interessenkonflikte in der geldpolitischen Forschung wichtige Einsichten. Diese Studie untersucht empirische Forschungsarbeiten, die QE-Programme und ihre Folgen analysieren. Dabei wird zwischen solchen Arbeiten unterschieden, deren Autoren für eine Zentralbank arbeiten, und solchen von unabhängigen Forschern ohne Zentralbankaffiliation. Dieser Vergleich zeigt, dass Zentralbanker zur Beschreibung von QE eine positivere Sprache verwenden und im Ergebnis zu höheren Effekten von QE auf Wachstum und Inflationsrate kommen als Forscher außerhalb der Zentralbanken. Zudem machen Zentralbank-Autor/innen, die positive QE-Befunde belegen, in den Zentralbanken überdurchschnittlich rasch Karriere. Damit existieren ernst zu nehmende Hinweise, dass es in der Zentralbankforschung gerade im Hinblick auf die Analyse unkonventioneller Geldpolitik tatsächlich eine gewisse Tendenziösität gibt. Und diese Verzerrung zeigt in Richtung des Zentralbankinteresses an einer möglichst positiven Darstellung der unkonventionellen Geldpolitik.
Mehr universitäre Forschung
Wie könnte vor diesem Hintergrund ein Weg zu einer wirklich neutralen und ergebnisoffenen wissenschaftlichen Analyse von Geldpolitik aussehen, um in Zukunft zuverlässig über Debatten wie die der fiskalischen Dominanz entscheiden zu können? Wichtig wäre es, die geldpolitische Forschung außerhalb der Zentralbanken zu stärken. Universitäre Forscher in Europa haben den Forschungs-Ressourcen der EZB derzeit kaum etwas entgegen zu setzen. Für den Peer-Review in wissenschaftlichen Fachzeitschriften sollte eine Nähe zur Zentralbank stärker als Befangenheit gewertet werden, wenn es um die Begutachtung von Papieren geht, die zu zentralbankkritischen Ergebnissen kommen. Selbstverständlich ist zudem die Forderung nach hoher Transparenz über mögliche Interessenskonflikte, die sich aus einer aktuellen oder früheren Zentralbankaffiliation oder der Zusammenarbeit von Forschenden mit Zentralbanken ergeben können.
Angesichts der deutlich steigenden Gefahren, dass Zentralbanken heute die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten, ist eine sorgfältige wissenschaftliche Evaluation dieses Handelns wichtiger denn je. Und diese Evaluation kann nur dann glaubwürdig sein, wenn sie nicht überwiegend durch Zentralbanker selber erfolgt.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 14. September 2021 als Gastbeitrag in der Börsen-Zeitung.
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Iuon Dinigis