Schuldenbremse respektieren oder umgehen?

Sofern es keine unvorhergesehenen Rückschläge mehr gibt, wird die Schuldenbremse ab 2023 die Finanzpolitik wieder binden. Schon dies ist großzügig. Denn angesichts optimistischer Wachstumsprognosen für 2022 erscheint es streng genommen zweifelhaft, im nächsten Jahr überhaupt noch die Ausnahmeregel für Notsituationen in Anspruch zu nehmen. Aber auch schon die spätere Rückkehr zur normalen Anwendung der Regel löst politischen Stress aus, der inzwischen auch in die Diskussion unter Ökonomen übergeschwappt ist.

Dass Politiker eine Schuldenregel, die ihre fiskalischen Spielräume beschränkt, oft nicht mögen, ist nicht weiter überraschend. Deshalb entspricht es auch den Vorhersagen polit-ökonomischer Modelle, wenn Notsituationen genutzt werden, um einen Schluck aus der Flasche zu nehmen, der weit über den aktuellen Durst hinausgeht.

Rechnungshöfe im Bund und in einigen Ländern haben das Ausmaß der Nettokreditaufnahme in den Pandemiejahren 2020 bis 2022 kritisiert. Allein im Bund wird über diesen Zeitraum mit etwa 450 Milliarden Euro gerechnet. Und es hätte noch mehr werden können, denn für 2020 hatte der Bund in seiner ursprünglichen Planung rund 87 Milliarden Euro Nettoneuverschuldung mehr veranschlagt als schließlich nötig wurden. Dies ist vor allem damit zu erklären, dass Hilfen für Unternehmen und Kurzarbeitergeld nicht im ursprünglich befürchteten Ausmaß in Anspruch genommen wurden. Das ist soweit unproblematisch.

Kritisiert wurde aber vor allem, dass die öffentlichen Haushalte bereits existierende Rücklagen in der Krisensituation nicht aufgelöst oder zumindest abgebaut haben. Das IW Köln stellt diese Entwicklung in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag dar. Interessant ist in unserem Zusammenhang vor allem die inzwischen als allgemeine Rücklage fungierende Rücklage für Asylbewerber und Flüchtlinge. Diese wurde nicht angetastet, und vor allem dies wird als Problem gesehen. Wenn eine solche allgemeine Rücklage in einer Krise nicht genutzt wird, sondern stattdessen neue Kredite aufgenommen werden, so spricht dies dafür, dass die Gelegenheit einer ausgesetzten Schuldenbremse genutzt wird, um sich neue Spielräume zu verschaffen.

Es ist naiv, wenn inzwischen in der Debatte wieder unterstellt wird, dass politischer Opportunismus als zentrales Motiv öffentlicher Verschuldung vernachlässigbar ist und Schuldenregeln daher überflüssig sind. Die politische Neigung ist so stark wie eh und je, lieber keine mühsamen Abwägungen durchzuführen und Prioritäten zu setzen, sondern defizitfinanziert alle Anspruchsgruppen zufriedenzustellen. Gerade ordnungspolitisch orientierte Ökonomen sollten deshalb keine Hilfsdienste bei Bemühungen leisten, die grundgesetzliche Schuldenbremse zu umgehen.

Genau dies passiert aber, wenn Überlegungen angestellt werden, die aktuelle Krisensituation zum Aufbau weiterer, massiver Rücklagen zu nutzen. Die Idee ist strikt formalistisch: Wenn die Schuldenbremse im Jahr 2022 aufgrund der Corona-Notsituation noch nicht bindet, dann kann man die Gelegenheit nutzen, 100, 200 oder 500 Milliarden zusätzlicher Nettokreditaufnahme in diesem Jahr zu beschließen, eine entsprechende Rücklage zu bilden, und in den kommenden Jahren zusätzliche Ausgaben aus dieser Rücklage zu finanzieren.

Es ist für jeden Laien offensichtlich, dass ein solches Vorgehen dem Sinn der Schuldenbremse widerspricht. Die Regel bindet einer Notsituation nicht, weil der Staat die Möglichkeit haben soll, auf genau diese konkrete Notsituation zu reagieren – aber nicht, um sich ein fiskalisches Fettpolster für die Zukunft anzufressen. Prominente Staatsrechtler haben schnell reagiert: Sie kritisieren derartige Pläne als verfassungswidrig. Damit sollten diese Vorschläge schnellstens wieder in der Schublade verschwinden. Denn man erreicht hier letztendlich nur eine Delegitimierung der Schuldenbremse, indem man ihren Kritikern fälschlicherweise so weit zustimmt, dass die fiskalischen Spielräume bei ihrer normalen Anwendung ab 2023 unerträglich gering seien. Aber auch dies trifft nicht zu.

Denn man sollte 500-Milliarden-Wunschlisten für neue öffentliche Investitionen auch nicht völlig unkritisch gegenüberstehen. Es ist die Aufgabe der Politik, im Rahmen des Grundgesetzes abzuwägen, welche zusätzlichen Ausgaben sie finanzieren kann und will, und wie sie dies tun möchte. Wenn die Positionen auf den derzeit diskutierten Listen von Investitionsprojekten tatsächlich alle unverzichtbar und unverhandelbar wären (was vermutlich nicht der Fall ist), dann müssten andere, weniger prioritäre Ausgaben weichen. Oder auch Steuern erhöht werden. Aber diese mühsamen Abwägungen muss man der Politik zumuten, ein einfacher Fluchtweg in neue Schulden ist grundgesetzlich verbaut.

Dies ist auch gut so. Denn die im politischen Berlin und seinem Think-Tank-Umfeld verbreiteten Begründungen für immer mehr Staatsausgaben, die dann natürlich auch über Defizite finanziert werden sollen, werden immer esoterischer. Dazu gehört etwa der Vorschlag, mitten in einer Situation mit hoher Inflation, Fachkräftemangel und gestörten Lieferketten noch viel mehr staatliche Nachfrage zu generieren – weil man damit Kapazitäten erweitern und Inflation bekämpfen könne. Planungsphasen, Bauphasen und damit fünf- oder fünfzehnjährige Zeitverzögerungen, bis solche Planungen tatsächlich kapazitätswirksam werden, gibt es in der schönen neuen Welt der Staatsgläubigkeit nicht. In der Realität aber schon.

Die Schuldenbremse ist vielleicht in manchen Kreisen auch so unbeliebt, weil sie als Utopie- und Ideologiebremse funktioniert. Das ist aber nüchtern betrachtet ein willkommener Nebeneffekt. Aus ordnungsökonomischer Sicht spricht viel dafür, die Schuldenbremse in der aktuellen Debatte zu stützen, nicht zu untergraben.

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