Die Schuldenbremse in der Zange
Am besten erst einmal gar nichts tun

Die Vorschläge aus Politik und Wissenschaft zur Lockerung der Schuldenbremse werden immer zahlreicher. Überzeugen können sie aber alle nicht.

Der Wunsch nach zusätzlichen Ausgabenspielräumen

Im November hatte ich an dieser Stelle schon einmal vermutet, dass das Urteil des BVerfG zur Schuldenbremse am Ende zu einem unerwarteten Ergebnis führen würde: einem Aufweichen der Schuldenbremse durch die Politik. Dass die Diskussion so schnell Fahrt aufnehmen würde, wie es im Moment der Fall ist, hätte ich damals allerdings nicht erwartet. Die überraschende Verengung ihres Ausgabenspielraums scheint zwei der drei Ampel-Parteien und Landesregierungen aus allen politischen Lagern ins Mark getroffen zu haben.

Auch von Ökonominnen und Ökonomen kam inzwischen der eine oder andere Reformvorschlag. Einige davon sind wenig überraschend. Die üblichen Verdächtigen aus dem linken Spektrum möchten die Schuldenbremse gleich ganz schleifen. Solche Forderungen dürften aber eher an die eigene Fankurve gerichtet sein. Denn eine Zweidrittelmehrheit für eine vollständige Abschaffung der Schuldenbremse ist nicht in Sicht.

Wenn etwas passieren wird, dann wohl als kleinere, schrittweise Veränderungen. Eine Änderung des Verfahrens zur Konjunkturbereinigung wäre eine Möglichkeit, die auch mit einfacher Mehrheit durchzusetzen ist. Das Bundesfinanzministerium hatte eine Überprüfung des aktuellen Verfahrens und ein mögliches Update bereits vor dem Urteil des BVerfG auf die Agenda gesetzt.

Änderungen mit einfacher Mehrheit

Je nach Ergebnis dieser Diskussion könnten sich bei schlechter Konjunktur einige zusätzliche Spielräume für Schulden ergeben. Diese müssten dann allerdings mehr oder weniger symmetrisch in Zeiten guter Konjunktur auch wieder verschwinden. Aber trotz der Neutralität über den Konjunkturzyklus hinweg könnte dieses Vorgehen politisch kurzfristig attraktiv sein. Man möchte schließlich jetzt höhere Defizite erlauben, und mit den geringeren Ausgabenspielräumen im nächsten Aufschwung müsste sich vielleicht schon eine ganz andere Regierung herumschlagen.

Auch eine weitere Notlagenerklärung wäre möglich, aber man muss den Akteuren hier Illusionen nehmen, die viele in Berlin wohl immer noch haben. Nach dem Urteil des BVerfG ist eine Notlagenerklärung absolut kein Generalschlüssel zu höheren Ausgabenspielräumen mehr. Wird beispielsweise eine Notlage erklärt, weil die Ukraine in größerem Umfang unterstützt werden soll, dann darf die zusätzliche Verschuldung auch nur für diesen Zweck genutzt werden. Einzelne Landesregierungen versuchen zwar immer noch, mit großzügig definierten Notlagenbegründungen zu arbeiten, aber das Risiko einer späteren juristischen Blutgrätsche ist dabei nicht zu unterschätzen.

Andere Änderungen und Umgehungen der Schuldenbremse würden eine Zweidrittelmehrheit erfordern. Da Union (abgesehen von einzelnen fahnenflüchtigen Landesvätern) und FDP bisher jedenfalls stark auf eine Einhaltung der Schuldenbremse festgelegt sind, könnten wohl allenfalls kleine Änderungen durchgesetzt werden.

Die dicke Sondervermögen-Bertha

Die Variante des Zweidrittel-Sondervermögens wird in vielen Wortmeldungen ins Spiel gebracht, auch in einem gemeinsamen FAZ-Beitrag von Clemens Fuest, Michael Hüther und Jens Südekum. Die Autoren argumentieren, dass angesichts drohender Lücken in der Finanzierung der kommenden Haushalte die staatlichen Investitionen und die Förderung privater Investitionen mit hoher Wahrscheinlichkeit gekürzt würden. Um die Wachstumsaussichten Deutschlands nicht zu gefährden, sei es daher nötig, nach Auswegen zu suchen. Ein neues Sondervermögen sei ein solcher Ausweg.

Vielleicht wäre das für die Union sogar zustimmungsfähig. Sie könnte nach außen behaupten, die Logik der Schuldenbremse unangetastet zu lassen und nur wegen einer dringenden Sondersituation einmalig einem Sondervermögen zuzustimmen. Welche Sondersituation das wäre? Der Bundeswirtschaftsminister hat die große, staatlich gelenkte Transformation im Angebot, vielleicht kann man auch noch einmal etwas über Resilienz und strategische Autonomie erzählen.

Es ist ohnehin Wurscht: Bekommt man die Zweidrittelmehrheit zusammen, muss die Begründung nur politisch gut klingen, aber nicht unbedingt ökonomisch stichhaltig sein. Und da absehbar ist, dass die SPD so bald keinen Kanzler mehr stellen wird, hat natürlich auch die Union ein gewisses Interesse, schon einmal Spielräume für die nächste Regierungszeit zu schaffen.

Der Umfang eines solchen Sondervermögens wäre flexibel. Von 400 Mrd. Euro bis 1.000 Mrd. Euro ist alles im Angebot, und wer weiß, ob da im Ernstfall wirklich das Ende der Fahnenstange erreicht wäre. Denn ist die Einigung auf diesen Weg im Grundsatz einmal da, dann wird man sich nicht auf zwingend notwendige zusätzliche Ausgaben beschränken, sondern einen nahrhaften Reptilienfonds anlegen, von dem sich zwei, drei Legislaturperioden lang viele Sonderwünsche finanzieren lassen, die heute noch gar nicht absehbar sind.

Käme es so, müssten der Bundesfinanzminister oder sein Nachfolger sofort mindestens 10 bis 30 Mrd. Euro zusätzlicher Zinszahlungen in jedem Jahr schultern. Das ist so lange nicht so schlimm, wie man sich aus dem Sondervermögen noch ausreichend bedienen kann. Danach gibt es eine schmerzhafte Verringerung des Ausgabenspielraums, und so trägt das eine Sondervermögen den Wunsch nach der nächsten Lockerung oder Umgehung der Schuldenbremse schon in sich. Was vermutlich auch durchaus beabsichtigt ist.

Die Vorschläge des Sachverständigenrates

Vergangene Woche trat nun auch noch der Sachverständigenrat auf die Bühne, mit einem Potpourri aus kleinen Änderungsvorschlägen. Dazu gehört die schon erwähnte Reform der Konjunkturbereinigung. Eine Zweidrittelmehrheit ist dagegen für den zweiten Vorschlag nötig, nämlich für einen neuen Übergangszeitraum zwischen Notlage und Normalfall. Der SVR wünscht sich hier nach dem Auslaufen einer Notlage eine langsame Anpassung an die normale Durchsetzung der Schuldenbremse. Die Ausgaben sollen nicht abrupt angepasst werden müssen.

Wirklich überzeugend ist dies nicht. Angenommen, die Notlage sei eine Naturkatastrophe, sagen wir der Einfachheit halber: ein überraschender Vulkanausbruch in der Eifel. Solange die Beseitigung von Lava und der Neuaufbau von Infrastruktur erhebliche Kosten verursachen, die den Bundeshaushalt außergewöhnlich belasten, kann die Notlage jedes Jahr wieder gezogen werden. Wenn diese Lasten nicht mehr vorhanden sind, haben wir den Normalfall. Aber wieso sollte der Bund dann überhaupt noch mehr ausgeben als es für den Normalfall vorgesehen ist?

Der Punkt ist doch: Schon heute ist kein fiskalischer Strömungsabriss von Notlage zu Normalfall nötig, sondern man kann jährlich abschmelzende Notlagen erklären, bis man wieder im Normalregime ist. Damit ist aber auch das Argument des Sachverständigenrates obsolet, dass ein neuer, sanfter Übergang zur makroökonomischen Erwartungsstabilisierung nötig sei. Und wenn man die Argumentation des Rates genau liest, dann sieht man auch, worum es eigentlich geht: um neue fiskalische Spielräume, auch wenn diese mit der Notlage materiell nichts mehr zu tun haben.

Ein dritter Reformvorschlag des SVR sind jährliche Verschuldungsspielräume, die variabel von der aktuellen Schuldenstandsquote abhängen. Heute sind in Normalphasen immer strukturelle 0,35% des BIP zulässig. Nach dem SVR-Vorschlag wären 1% des BIP zulässig, wenn die Schuldenstandsquote unter 60% liegt, 0,5%, wenn sie darüber liegt und 0,35%, wenn sie sogar über 90% des BIP liegt. Das ist keine symmetrische Reform, sondern eine eindeutige und bedeutsame Lockerung gegenüber der aktuellen Situation.

60% Schuldenstandsquote: Vom Deckel zum Punktziel?

Nun ist es aber eigentlich so, dass die 60% als Obergrenze gelten, nicht als Ziel, das auch von unten kommend zu erreichen wäre. Diese Diskussion erinnert an das Inflationsziel der EZB. Das lag auch einmal bei 2% oder darunter, wurde dann aber irgendwann so interpretiert, dass 2% das Ziel und geringere Inflationsraten schon fast Deflation seien. Demnächst wird es also heißen, dass ein Staat, der mit weniger als 60% des BIP verschuldet ist, einfach nicht genug für die Zukunft investiere. Aber das stimmt natürlich sicher nicht, wie europäische Länder mit weit geringerer Schuldenstandsquote und weit besserer Infrastruktur zeigen.

In der Nähe der Schwellenwerte ergeben sich außerdem unerwünschte polit-ökonomische Anreize. Natürlich habe ich einen Anreiz, meiner Nachfolgeregierung, in der ich nicht mehr vertreten sein werde, einen geringeren Verschuldungsspielraum zu hinterlassen und die Schuldenstandsquote vor der Wahl möglichst noch über den Schwellenwert zu treiben. Es ergibt sich ein zusätzlicher, institutioneller Anreiz, politische Konjunkturzyklen zu verursachen.

Auch der breitere Begründungszusammenhang des Sachverständigen-Vorschlags überzeugt nicht. Dass die regelkonforme Anwendung der aktuellen Schuldenbremse zu finanzpolitischer Unsicherheit führe, die wiederum private Investitionen ins Ausland treibe, scheint sehr weit hergeholt. Auch ist nicht nachvollziehbar, wieso es ein Problem sein soll, wenn die deutsche Schuldenbremse etwas restriktiver ist als die europäischen Fiskalregeln. Diese stellen einen Mindeststandard dar, und natürlich kann jeder Mitgliedstaat für sich selbst strengere Regeln wählen. Wenn man sieht, welche Probleme in Form impliziter Staatsverschuldung auf uns zukommen (und auf manche anderen EU-Staaten weniger), dann ist es auch nicht unklug, dies zu tun.

Fazit: der Reformbedarf fehlt

Im Bundeshaushalt 2024 steigt die Investitionsquote auf 12,3% und liegt damit gut zwei Prozentpunkte über dem Vorkrisenjahr 2019. Es fehlen außerdem weiterhin Belege für die immer wiederkehrende Behauptung, die Schuldenbremse führe in Deutschland zu einer besonderen Investitionsschwäche. Wieso werden also Debatten um die Schuldenbremse geführt, als benötige der Staat dringend neue Verschuldungsspielräume?

Die Medizin, die in Deutschland gerade nötig wäre, ist eine ganz andere. Nicht immer mehr Subventionen, die mit öffentlichen Schulden finanziert werden, sondern eine Verbesserung der allgemeinen Standortbedingungen. Nicht immer mehr interventionistische Industriepolitik und politischer Zustimmungskauf durch wildwuchernde Förderprogramme sind nötig, sondern mehr Freiheit für unternehmerisches Handeln.

Dafür sind Maßnahmen nötig, die oft gar nicht mit großen Ausgabenbedarfen verbunden sind, sondern im Gegenteil den Staat schlanker machen. Wir alle wissen, worum es geht: Bürokratieabbau, weniger Regulierung, weniger diskretionären Interventionismus in die Märkte. Den politischen Druck, die Aufmerksamkeit hierauf zu legen, bekommen wir nicht, wenn wir die Schuldenbremse aufweichen.

Wenn man die Schuldenbremse wirklich reformieren will, hätte ich allerdings einen Vorschlag, um allzu opportunistische und kurzsichtige Lösungen zu vermeiden und einen neutralen Blick zu fördern: Wir diskutieren über Reformen, aber vereinbaren, dass diese frühestens in der übernächsten Legislaturperiode in Kraft treten.

2 Antworten auf „Die Schuldenbremse in der Zange
Am besten erst einmal gar nichts tun

  1. Guter Beitrag! Ich würde nur das Kalkül zumindest des wirtschaftsliberalen Teils der Union nicht darauf reduzieren, sich Spielräume für eine künftige Koalition zu schaffen. Diese Spielräume machen Strukturreformen, wie sie (hoffentlich) Merz vorschweben, unwahrscheinlicher. Und sie erschweren es, den eigenen Sozialflügel und den linkeren Koalitionspartner zu zügeln.

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