Die Industriepolitik unter dem Inflation Reduction Act wird in Deutschland immer wieder als Vorbild dargestellt, zuletzt in einem Beitrag im Handelsblatt. Dabei gibt es gute Gründe, daran zu zweifeln.
Verschiedene Wege zum Klimaschutz
Das Handelsblatt berichtete kürzlich sehr positiv über den amerikanischen Inflation Reduction Act. „Das US-Förderprogramm wirkt“, wird schon zu Beginn des Artikels festgestellt, untermauert mit einer Graphik, die zeigt, wie die amerikanischen Investitionen in grüne Technologien seit 2015 von knapp über 150 Mrd. Euro im Jahr auf inzwischen rund 270 Mrd. Euro angestiegen sind. Das stimmt, in derselben Graphik sieht man aber auch, dass die korrespondierenden Investitionen der EU-27-Länder im Jahr 2023 immer noch um gut 100 Mrd. höher lagen.
Die USA holen auf, sie führen den Marathonlauf zur Klimaneutralität allerdings noch lange nicht an. Der Grund dafür ist ihre Politik. Zunächst deshalb, weil lange Zeit Klimaschutz keine hohe politische Priorität in den USA hatte. Das galt nicht nur zuletzt unter Trump; auch die Obama-Administration hatte in der Klimapolitik viel weniger getan als ihre Rhetorik signalisierte.
Dazu kommt aber, dass Regulierungen oder gar ein Emissionshandel im amerikanischen Kongress politisch schwerer durchzusetzen sind als es beim IRA der Fall war. Dieser konnte im Rahmen des Haushaltsverfahrens als sogenannter Budget Reconciliation Act beschlossen werden. Bei solchen Gesetzen reicht im Senat eine einfache Mehrheit, während man für andere neue Gesetze zum Klimaschutz dort eine qualifizierte Mehrheit von 60 Prozent bräuchte, um einen berüchtigten Filibuster zu überstimmen. In den USA ist Klimaschutz mittels Subventionen aufgrund dieses Details politisch durchsetzbar, mittels Ordnungsrecht und bundesweitem Emissionshandel aber absehbar nicht.
Insofern müssen wir uns den IRA seitens der USA als eine clevere politische Notlösung vorstellen, nicht als effizienten Königsweg zur Klimaneutralität. Und so stellt der tatsächlich bemerkenswerte Anstieg der grünen Investitionen von Unternehmen in den USA, den wir am aktuellen Rand sehen, auch erst einmal ein Aufholen gegenüber Europa dar. Hier haben wir einen Emissionshandel, der mit der Zeit immer mehr Sektoren abdeckt und wir haben nolens volens auch starke ordnungsrechtliche Eingriffe in die Entscheidungen von Unternehmen und Konsumenten.
Die USA und Europa befinden sich also auf unterschiedlichen Pfaden zum Klimaschutz. Bei von vornherein verschiedenen Maßnahmenmixen wäre es ein Kurzschluss, einfach auf die hohen Subventionen der USA zu verweisen und zu behaupten, dass wir es ihnen gleichtun müssten. Denn die meisten Ökonomen halten den Emissionshandel für das effizientere System. Und wenn man diesen nun schon hat und kontinuierlich schärft, dann gibt es weniger gute Argumente dafür, auch noch höhere Subventionen draufzusatteln. Wir müssen Klimaschutz nicht schwerpunktmäßig mit Subventionen erreichen, da uns die besseren Instrumente zur Verfügung stehen.
Subventionen in Europa
Wir sollten trotzdem nicht vergessen, dass in Europa ebenfalls bereits reichlich subventioniert wird. Nicht nur stellt die EU selbst im Rahmen ihres European Green Deal erhebliche Mittel für den Weg zur Klimaneutralität bereit. Darüber hinaus erlaubt sie es auch den Mitgliedstaaten durch gelockerte Beihilferegeln, ihre Unternehmen stärker zu subventionieren als bisher, sofern diese Subventionen mit einer grünen Begründung unterlegt werden können. Das stellt einen Bruch mit der bisherigen Politik im Binnenmarkt dar.
Die EU hat sich in ihrer Geschichte gerade in der Beihilfenkontrolle große Verdienste erworben. Das ineffiziente innereuropäische Subventionsrennen wurde eingehegt, der Binnenmarkt so vor politischen Verzerrungen geschützt. Von diesem Prinzip rückt Brüssel aber leider zunehmend ab. Infolgedessen haben in den Mitgliedländern die Wirtschaftsminister wieder häufiger Gelegenheit zu umjubelten Auftritten, bei denen sie den Belegschaften nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen Förderbescheide überreichen.
Das ist gut für die kurzfristige Popularität der Wirtschaftsminister, weniger gut für die langfristigen Wachstumsperspektiven ihrer Volkswirtschaften. Denn das Subventionieren beispielsweise von Stahlunternehmen, die zu deutschen Energiepreisen absehbar niemals wettbewerbsfähig grünen Stahl produzieren werden, führt vor allem dazu, dass Arbeit und Kapital dort gebunden sind und an anderer Stelle, an der sie effizienter und zukunftsweisender eingesetzt werden könnten, nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die Politik denkt zu oft noch in einem Modell mit hoher unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und großen ungenutzten Kapazitäten. In so einem Modell kann man immerhin noch argumentieren, dass die realen Opportunitätskosten des subventionierten Erhalts nicht wettbewerbsfähiger Produktion gering sind – die Produktionsfaktoren finden ja dort keine andere Verwendung. In der heutigen Welt ist das aber längst nicht mehr der Fall. Wer ineffiziente Strukturen künstlich erhält oder neue Produktion subventioniert, die absehbar nicht wettbewerbsfähig sein wird, der sorgt damit für einen wachstumshemmenden Einsatz von Arbeit und Kapital. Das können wir uns im trägen Europa nicht wirklich leisten, und im stagnierenden Deutschland schon gar nicht.
Man mag Europa dennoch vorwerfen, dass es zwar nicht zu wenig subventioniert, aber falsch. Für Unternehmen ist das Risiko, in den USA mit Subventionen aus dem IRA zu kalkulieren, überschaubar. Die Voraussetzungen sind im Gesetz definiert und wer sie erfüllt, bekommt seine Mittel automatisch in Form von Steuergutschriften. Das ist ein verlässliches und bürokratiearmes Verfahren.
Auf der europäischen Seite stehen dem aufwändige Einzelanträge gegenüber, deren Vorbereitung und Bearbeitung bis zum endgültigen Entscheid viel Zeit, manchmal Jahre, in Anspruch nimmt. Die Verfahren können so komplex sein, dass sich inzwischen eine ganze Dienstleistungsindustrie gebildet hat, die Fördermittelberatung für Unternehmen anbietet. Auch so kann man Arbeitsplätze schaffen, deren gesamtwirtschaftliche Produktivität allerdings zweifelhaft ist. Ist die Förderung dann zugesagt, schließen sich meist umfangreiche Berichtspflichten an.
Allerdings hat das amerikanische Modell auch einen entscheidenden Nachteil: Es ist nicht gedeckelt. Alle Zahlen über den Umfang des IRA sind erst einmal nur Schätzungen, da niemand genau weiß, in welchem Umfang die Unternehmen die Förderangebote schlussendlich in Anspruch nehmen werden. Die Kosten für die amerikanischen Steuerzahler können daher alle aktuellen Schätzungen auch noch drastisch überschreiten.
Und die Schulden?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die USA ihr IRA-Programm nur für einen eher eng als weit begrenzten Zeitraum durchhalten werden. Am besten interpretiert man den IRA als einen Versuch, vor den kommenden Präsidentschaftswahlen in einigen möglichen Swing States noch einmal ein Konjunkturfeuerwerk auszulösen. Vielleicht wäre Trump-Verhinderungsgesetz auch ein passender Name für den IRA gewesen. In der untenstehenden Graphik sieht man die Entwicklung der Zinszahlungen, die die amerikanische Bundesregierung ihren Gläubigern jedes Jahr überweisen muss (Quelle: St. Louis Fed).
Die Entwicklung am aktuellen Rand ist dramatisch. Hier kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass schnelleres Wachstum und höhere Steuereinnahmen das Wachstum der Zinsausgaben überkompensieren. Bei begrenztem politischem Spielraum für Steuererhöhungen laufen die USA auf eine Situation zu, in der Zinszahlungen den jeweils aktuellen Ausgabenspielraum spürbar begrenzen werden.
Es ist klar, dass hier von einer nachhaltigen Entwicklung nicht die Rede sein kann. Auch die USA können sich trotz aller Privilegien am Kapitalmarkt nicht beliebig weiter in dem Umfang jährlich neu verschulden, in dem sie es derzeit tun. Ob der IRA in der aktuellen Form Bestand haben wird, wenn es in den USA zu einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen kommt, ist aber zumindest sehr zweifelhaft. Es spricht eigentlich nicht viel für die Erwartung, dass der IRA als dauerhafte industriepolitische Strategie funktionieren kann.
Nachhaltiger Kapitalstock?
Zum Schluss stellt sich auch noch die Frage, wie wirksam die Subventionen für den Aufbau eines nachhaltigen Kapitalstocks in den Unternehmen eigentlich sind. Das Handelsblatt berichtet, dass ein großer Teil der Investitionen in der E-Mobilität anfällt. Die im Bericht genannten deutschen Unternehmen Mercedes-Benz, VW und BMW geben vor allem die Modernisierung und Erweiterung schon bestehender Werke in den USA als Projekte an. Das ist symptomatisch: Neben dem Aufbau neuer Kapazitäten dürfte es beim IRA generell auch große Mitnahmeeffekte geben: Ersatzinvestitionen, die ohnehin fällig gewesen wären, werden nun vom Steuerzahler mitfinanziert.
Man sollte sich schon deshalb auf europäischer Seite nicht so leicht verrückt machen lassen. Bei weitem nicht jede IRA-geförderte Investition eines europäischen Unternehmens in den USA bedeutet eine Abwanderung von Produktion aus Europa. Außerdem fördert der IRA in Branchen wie der E-Mobilität Investitionen in Bereichen, in denen derzeit ohnehin Überkapazitäten bestehen und deren Wachstumsaussichten trüber erscheinen als noch vor einigen Jahren.
Möglicherweise ließe sich mit einer viel geringeren Geldsumme viel mehr erreichen. Man könnte beispielsweise in Grundlagenforschung in der Batterietechnologie investieren anstatt in den Aufbau für Kapazitäten für die Produktion aktueller Technologie. Dann könnte man mit der nächsten Batteriegeneration Autos bauen, die noch bestehende Hemmnisse auf der Nachfrageseite beseitigen. Man würde also nicht für viel Geld weitere Überkapazitäten bei stagnierender Nachfrage nach E-Mobilität schaffen, sondern mit viel weniger Geld die Nachfragekurve nach rechts verschieben.
Wie erfolgreich der IRA wirklich ist, werden wir also erst beurteilen können, wenn wir in zehn Jahren sehen, welche Produktionsstätten noch arbeiten und gut ausgelastet sind. Und auch bei den Betrieben, die dann noch arbeiten, wird man die Frage der Zusätzlichkeit noch kritisch diskutieren müssen: Welche Investitionen hätte es auch ohne IRA gegeben? Hat sich der Aufwand gelohnt? Hätten diese enormen öffentlichen Mittel anders verwendet mehr Nutzen stiften können?
Fazit
Jubelberichte über den angeblich hoch wirksamen IRA sind Momentaufnahmen, die nur auf die Investitions- und Fördersummen fokussieren, die auf den ersten Blick beide hoch sind. Es wäre schön, wenn man bei der Beurteilung der Effizienz des IRA zukünftig eine etwas umfassendere Perspektive einnehmen würde. Das Programm ist fiskalisch teuer, seine langfristige Effektivität noch offen. Der Charakter des IRA als Zweitbestlösung bei politischer Blockade effizienterer Mechanismen der Klimapolitik ist leider in Diskussionen auf unserer Seite des Atlantiks unterbelichtet. Gerade weil man nur auf die Subventionssummen starrt, anstatt die Maßnahmenmixe insgesamt im Hinblick auf ihre klima- und industriepolitische Wirksamkeit zu vergleichen, läuft man Gefahr, einen ökonomisch schädlichen Subventionswettlauf politisch zu motivieren. Zukünftigen Generationen sowohl höhere Schulden als auch eine ineffiziente Klima- und Industriepolitik zu hinterlassen ist aber sicher nicht erstrebenswert.
- Auch Du, Brutus?
Die NZZ auf einem Irrweg zu höherer Staatsverschuldung - 21. Oktober 2024 - Wie steht es um den Bundeshaushalt 2025 – und darüber hinaus? - 19. September 2024
- Die Krise des Fiskalföderalismus
Dezentralisierung und Eigenverantwortung sind notwendiger denn je - 31. Juli 2024