Im August 2021 ist die jährliche Teuerung in der Eurozone (gemessen am HVPI) auf 3,0% angestiegen, nach 2,2% im Juli und 1,9 % im Juni 2021. Diese Nachricht hat es bereits in die Schlagzeilen großer deutscher Boulevardzeitungen geschafft, und viele Beobachter fordern eine angemessene Reaktion der Geldpolitik. Das Eurosystem beabsichtigt jedoch, durch den aktuellen Anstieg der Inflationsrate „hindurchzuschauen“ und geldpolitisch nicht zu reagieren. Zudem hat es angekündigt, den derzeit eingeschlagenen Kurs auf längere Zeit fortzusetzen und die Leitzinsen vorerst nicht anzuheben. Dies geht aus dem Zinsausblick hervor, den die EZB in Folge ihrer strategischen Neuausrichtung Ende Juli abgegeben hat und der im EZB-Rat mehrheitlich (aber wohl nicht einstimmig) beschlossen wurde.
Warum ein „Durchschauen“ durch die Inflation?
Aus Sicht des Eurosystems ist der derzeitige Anstieg der Teuerung ein temporäres Phänomen, das vor allem drei Ursachen hat: Ein starkes Anziehen des Ölpreises (der im Vorjahr pandemiebedingt gefallen war), das Auslaufen der vorübergehenden Mehrwertsteuer-Senkung in Deutschland und Angebotsverknappungen infolge von Lieferengpässen bei Materialien und Ausrüstungen, ebenfalls infolge der Pandemie.
Das Eurosystem unterlässt es, auf solche vorübergehenden Entwicklungen zu reagieren, um nicht destabilisierend zu wirken. Wenn die Time-lags der geldpolitischen Transmission lang und vor allem variabel sind, wirkt ein geldpolitisches Gegensteuern erst nach Auslaufen der Schocks auf die Wirtschaftsaktivität und lässt die Inflationsrate wieder stark unter den Zielwert von mittelfristig 2 % p.a. absinken. Die EZB ist dann gezwungen, die Spätfolgen ihrer eigenen zuvor ergriffenen Maßnahmen zu korrigieren, was zu einer unerwünschten „Instrumenteninstabilität“ in der Geldpolitik führt.
Ein „Hindurchschauen“ durch den aktuellen Inflations-Peak steht im Einklang mit der geldpolitischen Strategie des Eurosystems, die mittelfristig ausgerichtet ist und nicht auf die „Headline-Inflation“, sondern auf die Trendinflation schaut. Für 2021 rechnet das Eurosystem mit einer gemessenen Inflationsrate oberhalb von 2%, erwartet danach aber einen erneuten Rückgang der Inflationsrate auf 1,7% p.a. 2022 bzw. auf 1,5% in 2023. Dies deckt sich mit den Prognosen anderer Beobachter, die für die Eurozone eine ähnliche Inflationsentwicklung wie das Eurosystem erwarten. Damit ist der baldige Ausstieg aus dem Niedrigzinsumfeld unwahrscheinlich.
Der Ausstiegsfahrplan aus den Sondermaßnahmen
Inzwischen hat die EZB zudem angekündigt, dass sie selbst bei einem Anstieg der Inflationsprognose auf Werte über 2% nicht sofort reagieren, sondern höhere Inflationsraten eine Zeitlang tolerieren wird. Dies geht aus der Neuausrichtung seiner Forward Guidance hervor, mit der das Eurosystem Einfluss auf die Zinserwartungen der Marktteilnehmer zu nehmen versucht. Ursprünglich hatte der EZB-Rat im Sommer 2013 angekündigt, die Leitzinsen „über einen längeren Zeitraum“ nicht anzuheben, ohne einen spezifischen Zeithorizont vorzugeben oder das Ende der Niedrigzinspolitik an das Erreichen eines numerischen Schwellenwerts zu knüpfen. Dies hat der EZB-Rat per Beschluss vom Juli 2021 verändert, denn er hat konkretisiert, wann er Zinserhöhungen vornehmen und endgültig aus den geldpolitischen Sondermaßnahmen aussteigen will. Er folgt damit dem Vorgehen der Federal Reserve in den USA, sodass die Geldpolitik in der Eurozone „amerikanischer“ geworden ist.
Der Beschluss sieht vor, dass die Leitzinsen so lange auf ihren aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden, bis folgende drei Bedingungen zugleich erfüllt sind (Europäische Zentralbank, 2021): Die prognostizierte Inflationsrate erreicht deutlich vor Ende des Projektionszeitraums den Schwellenwert von 2 %; sie verbleibt auf diesem Wert im weiteren Verlauf des Projektionszeitraums, und die Trendinflation („underlying inflation“) ist hoch genug, um sicherstellen, dass auch die am HVPI gemessene Inflation nicht unter 2% absinkt.
Diese Dreifachabsicherung ist aus Sicht der EZB angezeigt, weil sie die zukünftige Inflationsentwicklung in der Vergangenheit systematisch überschätzt hat. Deshalb will man sichergehen und das Ergebnis mehrere Prognoserunden durch den EZB Stab abwarten, um belastbare Hinweise auf einen Anstieg der Inflation zu erhalten. Der EZB-Stab erstellt die Inflationsprognose quartalsmäßig über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren; erst wenn die Prognose in einer Runde ab Mitte des Prognosezeitraums auf oder oberhalb von 2% liegt und dies auch anschließend bestätigt wird, kommt eine Zinserhöhung in Betracht.
Beschlossen wurde auch, dass die Ankäufe von Wertpapieren im Rahmen des APP-Programms erst enden, kurz bevor das Eurosystem mit der Erhöhung der Leitzinsen beginnt. Allerdings sollen die Tilgungsbeträge der im Rahmen des APP erworbenen Wertpapiere weiterhin bei Fälligkeit für längere Zeit über den Zeitpunkt hinaus, zu dem er mit der Erhöhung der Leitzinsen beginnt, vollumfänglich wieder angelegt werden.
Durch die angekündigte Sequenz nutzt das Eurosystem die Wertpapierankäufe als Selbstbindungsmechanismus, um die Glaubwürdigkeit des angekündigten Zeitpunkts der Leitzinserhöhung zu fördern. Dahinter steckt die Vermutung, dass die Anleger in der Regel nicht erwarten, dass eine Zentralbank die Leitzinsen abrupt anhebt, wenn sie noch Nettokäufe von Vermögenswerten durchführt. In diesem Fall würde die Zentralbank erhebliche Verluste in ihren Bilanzen erleiden (Schnabel, 2021).
Godot kommt – frühestens in drei Jahren
Berücksichtigt man, dass der Projektionszeitraum des Eurosystems zwei bis drei Jahre beträgt und die aktuelle Projektionsperiode im September 2021 begonnen hat, liegt meiner Meinung nach der Startzeitpunkt für einen Wiederanstieg der Leitzinsen frühestens im Spätsommer 2024, sofern man die Vorgabe „deutlich vor Ende“ als Mitte des Projektionszeitraums interpretiert. Darüber hinaus muss die Inflationsrate für mehrere Quartale über dem Zielwert von 2% liegen, bevor Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Damit rückt das Ende der Nullzinsphase in der Eurozone in eher weite Ferne und folgt erst auf eine Phase mit höheren Inflationsraten. Beides sind für Sparer keine guten Nachrichten.
Literatur
Europäische Zentralbank (2021), Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank am Mittwoch und Donnerstag, 21.-22. Juli 2021, in Frankfurt am Main, https://www.bundesbank.de/resource/blob/874246/88a5c2e58926782c472e6dbcc75328bf/mL/2021-08-26-account-data.pdf
Schnabel, I. (2021), Asset Purchases: From Crisis to Recovery. Speech at the Annual Conference of Latvijas Banka on „Sustainable Economy in Times of Change“, Frankfurt/Main, https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2021/html/ecb.sp210920~ae2c7412dc.de.html
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