Der Bundeswirtschaftsminister präsentiert alten Wein in neuen Schläuchen: Der alte Wein ist die Frage, ob das Bruttoinlandsprodukt (BIP) den Wohlstand eines Landes richtig abbildet oder ob es durch weitere Indikatoren ergänzt werden muss. Der neue Schlauch ist der Jahreswirtschaftsbericht 2022. Die aktuelle Ausgabe enthält nämlich das Sonderkapitel „Nachhaltiges und inklusives Wachstum – Dimensionen der Wohlfahrt messbar machen“. Darin werden mehr als 30 Einzelindikatoren vorgestellt, um mit ihnen „den Stand der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt in ausgewählten Teilen abzubilden“.
Berechtigtes Anliegen
Unstrittig ist, dass das BIP kein perfektes Maß ist, um den Wohlstand eines Landes – ob materiell und immateriell – exakt darzustellen. Es gibt eine Reihe konzeptioneller Probleme, die von Ökonomen immer wieder diskutiert wurden (ein kurzer Überblick findet sich hier: Ist das BIP als Wohlstandsindikator noch zeitgemäß?). Neben den komplexen Abgrenzungs- und Erfassungsproblemen ist ein einfacher Sachverhalt offenkundig: Für das Wohlbefinden der Menschen sorgen nicht allein Dinge, die sich in Euro und Cent messen lassen. Wohlbefinden, Glück oder Zufriedenheit hängen von vielen Facetten ab. Der materielle Wohlstand ist dabei nur ein Faktor – allerdings ein gewichtiger (Podcast zur Glücksforschung: Messen wir den Wohlstand falsch?). Für die Gesellschaft ist das BIP wohl ungefähr genauso aussagekräftig wie für den Einzelnen das persönliche Gehalt. Denn: Neben dem Einkommen spielen für die individuelle Zufriedenheit jede Menge andere Lebensumstände eine Rolle. Aber wenn es darum geht, die allgemeine Lebensführung zu finanzieren, dann ist für die Menschen im Regelfall eben das Gehalt der entscheidende Faktor.
Mehrere Initiativen versuchen, den Blick zu weiten und von den rein wirtschaftsbezogenen BIP-Daten wegzukommen. Da wären auf internationaler Ebene der „Better Life Index“ von der OECD, der „World Happiness Report“ des „Sustainable Development Solutions Network“ der Vereinten Nationen oder die „Beyond GDP“-Initiative der EU-Kommission. In Deutschland wurde 2010 die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ eingesetzt. Im Jahr 2013 folgte ein Dialog mit den Bürgern über deren Verständnis von Lebensqualität. Daraus resultierte der Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ und der „Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland“, in dem die Lebensqualität durch 46 Indikatoren in zwölf Dimensionen abgebildet wurde.
Indikatoren-Auswahl wirkt nicht schlüssig
Im Vergleich zum „Lebensqualitätsbericht“ der Bundesregierung beinhaltet der Jahreswirtschaftsbericht insgesamt weniger Indikatoren, die sich zudem auf nur fünf Bereiche verteilen. Folglich ist das Bild weniger umfassend. Das ist insofern nachvollziehbar, als dass sich das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz auf Themen fokussiert, die eine gewisse inhaltliche Nähe zum Ressort haben. Allerdings wirkt die Auswahl der Themen etwas willkürlich und nicht sonderlich konsistent. Zudem werden für einige Indikatoren Zielwerte genannt, andere Indikatoren stehen hingegen ohne Zielvorgabe einfach so im Raum.
Das Ministerium ist sich dieser Probleme offenbar bewusst, denn es weist an verschiedenen Stellen selbst auf Unzulänglichkeiten hin: „Ein Anspruch auf eine umfassende Wohlfahrtsmessung ist damit nicht verbunden.“ Oder: „Aufgrund der komplexen Herausforderungen, vor denen Wirtschaft und Gesellschaft stehen, wie der Bewältigung der ökologischen Transformation, ist die gewählte Indikatorik nicht abschließend.“ Und schließlich: „Insofern versteht die Bundesregierung das nun erstmalig aufgeführte Indikatorenset zum Jahreswirtschaftsbericht 2022 als Ausgangspunkt eines Prozesses, in dem die Messung von Wohlfahrt sowie die Bereitstellung und Aktualität der zugrundeliegenden Daten, die Methodik, Auswahl und Systematisierung der Indikatoren kontinuierlich überprüft und verbessert werden sollen.“ Es bleibt der Eindruck, dass der neue Minister auf die Schnelle einen Pflock einschlagen wollte, obwohl der Pflock selbst noch gar nicht fertig war.
Viele Einzelindikatoren sind ähnlich interpretationsbedürftig wie das BIP
Ein grundlegendes Problem ist, dass viele der Einzelindikatoren ähnlich interpretationsbedürftig sind wie das BIP. Ohne weitere Einordnung und ohne differenzierte Analyse sind manche Indikatoren nichtssagend, andere sogar irreführend. Sinnvoll erscheint zunächst der Indikator „Treibhausgasintensität des BIP“ (Abb. 1). Er passt zum neuen Zuschnitt des Ministeriums, bei dem Wirtschaft und Klimaschutz unter einem Dach sind. Dieser Indikator zeigt, dass es in der vergangenen Dekade bereits spürbare Fortschritte gab. Die Treibhausgasintensität je BIP-Einheit ist gesunken.
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Es gibt aber auch eine Reihe von Beispielen für interpretationsbedürftige Indikatoren:
So wird im Abschnitt „Wachstum, Einkommen und Beschäftigung“ der „Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern“ thematisiert (Abb. 2). Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst der Frauen lag im Jahr 2020 um 18 % unter dem der Männer. Dieser sogenannte „Gender Pay Gap“, die eine Ungerechtigkeit gegenüber Frauen suggeriert, wird auch in der Öffentlichkeit oft beklagt. Laut Jahreswirtschaftsbericht soll diese Verdienstlücke bis zum Jahr 2030 auf 10 % gesenkt werden.
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Bei den Daten handelt es sich um den unbereinigten Verdienstabstand (worauf der Jahreswirtschaftsbericht auch hinweist). Dieser ist aber relativ ungeeignet für die Frage, ob eine geschlechtsspezifische Ungerechtigkeit bei der Entlohnung vorliegt. Der unbereinigte Verdienstabstand resultiert nämlich zu einem guten Teil daraus, dass Männer und Frauen im Durchschnitt unterschiedliche Qualifikationen haben und dass sie unterschiedliche Berufe wählen. Es ist also nicht so, dass Frauen in den gleichen Berufen für identische Arbeit 18 % weniger Lohn bzw. Gehalt ausgezahlt bekommen als Männer. Vielmehr ergibt sich die Differenz u.a. daraus, dass Männer häufiger in gut bezahlten Berufen tätig sind als Frauen.
Aussagekräftiger ist der bereinigte Verdienstunterschied. Damit wird der Verdienstabstand von Frauen und Männern mit vergleichbaren Eigenschaften (Qualifikation, Tätigkeiten, Erwerbsbiographien) ermittelt. Der bereinigte Verdienstabstand liegt um rund zwei Drittel niedriger.[1] Daran zeigt sich, dass die Verwendung des unbereinigten „Gender Pay Gap“ als Indikator missverständlich oder gar irreführend ist.
Politisch relevant ist in diesem Zusammenhang besonders die Frage: Sind die Verdienstunterschiede in erster Linie auf Strukturen zurückzuführen, die Frauen diskriminieren? Oder resultieren sie aus unterschiedlichen beruflichen Präferenzen und Qualifikationen zwischen Männern und Frauen? Diskriminierende Strukturen wären abzubauen. Wenn aber Männer und Frauen unter Berücksichtigung ihrer Qualifikation jeweils in ihren Wunschberufen arbeiten (Beispiel: Notar vs. Krankenschwester), sind Verdienstunterschiede als Folge freier Entscheidungen unproblematisch. Es ist nicht die Aufgabe der Politik, Menschen in Berufe zu drängen, die ihren Neigungen nicht entsprechen, nur damit sich eine statistische Messgröße – hier der Verdienstabstand zwischen Mann und Frau – im Sinne der jeweils regierenden Parteien entwickelt.
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Im Abschnitt „Bildung, Forschung und Innovation“ wird die berufliche Qualifikation der 30- bis 34-jährigen beleuchtet. Der Anteil der akademisch Qualifizierten oder beruflich Höherqualifizierten (Meister) soll in dieser Altersgruppe laut Jahreswirtschaftsbericht bis 2030 auf 55 % steigen. Mit Blick auf die Erfolge der letzten Dekade sollte dieses Ziel leicht erreichbar sein (Abb. 3).
Doch wie aussagekräftig ist eine solch grobe Zahl? Dass sich der Anteil der Akademiker und Höherqualifizierten schon durch ein Absenken der Zugangsvoraussetzungen erhöhen lässt, soll hier nur am Rande erwähnt sein. Viel wichtiger ist: Die Zahl allein sagt nichts darüber aus, ob diese Höherqualifizierten überhaupt den Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprechen. Ist es für die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft egal, ob ein Land eine Heerschar Philosophen oder eine Heerschar Ingenieure ausbildet? Und ist es besser, mehr junge Menschen mit Abschlüssen in Volkswirtschaftslehre zu haben, die sich später daran abarbeiten, die verklausulierte Sprache der Zentralbanken zu entschlüsseln, wenn dafür im Gegenzug aber keine jungen Handwerker mehr zu finden sind? Sicher ist: Die Kennzahl an sich ist wenig aussagekräftig.
Im Abschnitt „Öffentliche Finanzen und gleichwertige Lebensverhältnisse“ wird die öffentliche Schuldenquote als ein Indikator für die finanzielle Belastung zukünftiger Generationen gezeigt (Abb. 4). Tatsächlich ist die Schuldenquote ein wichtiger Indikator. Wenn aber ein umfassendes Bild über die Nachhaltigkeit der Öffentlichen Finanzen entstehen soll, dann müssten auch die in den Sozialversicherungen schlummernden impliziten Schulden miterfasst werden. Eine solche Generationenbilanz, wie sie vom Forschungszentrum Generationenverträge und der Stiftung Marktwirtschaft regelmäßig vorgelegt wird, fehlt aber in dem Indikatorenset des Jahreswirtschaftsberichts. Das ist bedauerlich, denn im Sinne der fiskalischen Nachhaltigkeit wäre es sinnvoll, auch die langfristigen finanziellen Auswirkungen wirtschaftspolitischer Entscheidungen mit zu erfassen. So würde beispielsweise eine Senkung des Renteneintrittsalters die öffentliche Schuldenquote (Abb. 4) kurzfristig kaum beeinflussen, obwohl eine solche Entscheidung neue Löcher in die Rentenkasse reißt, die später durch den Bundeshaushalt mitgefüllt werden müssten. Ein Indikator, der die impliziten Schulden berücksichtigt, würde die langfristigen finanziellen Belastungen direkt ausweisen.
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Fazit
Wie ist das Indikatorenset zu bewerten? Die Antwort hängt davon ab, welches Ziel mit ihm verfolgt wird. Wenn das Indikatorenset rein informative Zwecke im Sinne eines Datenpools verfolgt, ist das neue Kapitel im Jahreswirtschaftsbericht zu begrüßen. Die Monatsberichte des Bundesfinanzministeriums oder der Bundesbank enthalten in den statistischen Teilen auch jede Menge Kennzahlen, die nicht näher erläutert, problematisiert oder eingeordnet werden. Die Berichte sind eine Fundgrube für Analysten und interessierte Bürger. Sie haben somit eine wichtige Service-Funktion.
Problematisch wäre es hingegen, wenn das Indikatorenset perspektivisch das BIP ablösen oder zumindest ergänzen soll. Auch bestände die Gefahr, dass der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu erkennen ist. Als gesamtgesellschaftliches Wohlfahrtsmaß wird ein Indikatorenset mindestens genauso interpretationsbedürftig sein, wie es das BIP heute ist. Zudem ist ein Indikatorenset anfällig für Manipulation. Und schließlich ist ein unverfälschtes BIP die benötigte Bezugsgröße für viele wirtschaftliche Sachverhalte und Kennzahlen (wie z.B. verfügbare Einkommen, Schuldentragfähigkeit, Steueraufkommen).
Letztlich könnte es sich für den neuen Minister für Wirtschaft und Klimaschutz sogar als Eigentor erweisen, das BIP als Wohlfahrtsindikator allzu genau zu hinterfragen. Viele Klimaschutzmaßnahmen – zum Beispiel vom Gesetzgeber erzwungene Ausgaben für energetische Gebäudesanierungen – werden in den kommenden Jahren dazu führen, dass das BIP zunimmt. Diese Maßnahmen werden aber keinen unmittelbaren Einfluss auf die klimatischen Bedingungen in Deutschland haben, denn das Klima ist ein globales öffentliches Gut. Deutschland allein hat keinen Einfluss auf den Klimawandel, schon gar nicht kurzfristig. Somit entsteht hierzulande kein direkter Nutzen (abgesehen von dem Gefühl bei einigen, etwas Gutes getan zu haben). Viele Bürger werden aber den Eindruck bekommen, Geld für etwas ausgeben zu müssen, was auf ihrer Prioritätenliste nicht oben steht. Sie werden deshalb manchen BIP-Zuwachs auch nicht als wohlfahrtssteigernd empfinden. Für den Minister wäre es vielleicht besser, nicht zu viel Transparenz in diese Zusammenhänge zu bringen. Wenn er das Klima schon nicht ändern kann, könnte er sich zumindest noch für BIP-Zuwächse feiern lassen.
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[1] Für Details vgl. Mischler, Frauke (2021), Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen. Eine Ursachenanalyse auf Grundlage der Verdienststrukturerhebung 2018. Für das Jahr 2018 wird hier ein unbereinigter Gender Pay Gap von 20,1 % ermittelt. Der bereinigte Gender Pay Gap liegt deutlich niedriger, nämlich bei 5,9 %. Vgl. auch Boll, Christina und Andreas Lagemann (2018), Gender Pay Gap im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft und Coban, Mustafa (2019), Kampf der Geschlechter – Warum und wieviel verdienen Frauen weniger als Männer?
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„Unstrittig ist, dass das BIP kein perfektes Maß ist, um den Wohlstand eines Landes – ob materiell und immateriell – exakt darzustellen.“
Wer hat denn überhaupt gesagt, dass das BIP die Wohlfahrt eines Landes misst? Das BIP misst das im Inland produzierte Einkommen. Dass eine mögliche Korrelation zwischen BIP und Wohlfahrt der Menschen eines Landes besteht, ist zwar wahrscheinlich, aber wie stark diese genau ist, lässt sich nicht sagen. Dazu müsste man die Wohlfahrt jedes einzelnen Menschen messen können. Wie soll das gehen? Das kann auch Habeck nicht, egal wie viele Indikatoren er auflistet. Die Aggregationsprobleme der Wohlfahrtsökonomik sind bekannt.
Trotzdem schauen alle immer wieder auf die aktuellen BIP-Zahlen. Sie tun das freiwillig, weil das BIP einer der wichtigsten Konjunkturindikatoren ist, dessen Entwicklung sich mit zeitlicher Verzögerung auch auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt. Daran wird weder Habeck noch die Heinrich-Böll-Stiftung jemals etwas ändern.