Zwischen Rezession und neuer Wohlstandsmessung

„IWF senkt den Daumen über Deutschland“, titelte die Börsen Zeitung diese Woche Mittwoch (26. Juli 2023). Tags zuvor hatte der Internationale Währungsfonds im Update seines „World Economic Outlook“ Deutschland für das laufende Jahr ein Wachstum von -0,3 % prognostiziert. Während alle anderen größeren Volkswirtschaften mit Wachstum rechnen dürfen, droht die deutsche Volkswirtschaft dieses Jahr also zu schrumpfen. Doch das war in dieser Woche nicht die einzige Hiobsbotschaft für die deutsche Konjunktur. Montag wurde bekannt, dass der Einkaufsmanagerindex im Juli von 50,6 auf 48,3 Punkte gefallen ist und damit in den Bereich, der auf wirtschaftliche Kontraktion hinweist. Am Dienstag folgte der ifo Geschäftsklimaindex. Er ist im Juli zum dritten Mal in Folge gefallen. Die schlechte Stimmung zieht sich laut ifo Institut durch alle vier Wirtschaftsbereiche: Verarbeitendes Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und das Baugewerbe. Angesichts dieser schlechten Nachrichten haben der Bundeswirtschaftsminister und sein Ministerium ein feines Gespür für gutes Timing bewiesen: Denn an demselben Tag, an dem der IWF und das ifo Institut schlechte Nachrichten für die deutsche Wirtschaft bereithielten, lenkte das Wirtschaftsministerium die Aufmerksamkeit weg vom Bruttoinlandsprodukt hin zu einer alternativen Wohlfahrtsmessung: „BMWK startet Konsultation zur Wohlfahrtsmessung im Jahreswirtschaftsbericht“, lautete der Titel der Pressemitteilung vom 25.07.2023.

Der Staatssekretär Sven Giegold wird mit folgenden Worten zitiert: „Das Bruttoinlandsprodukt zeigt nur die ökonomische Leistung. Diese Leistung bestimmt zwar den materiellen Wohlstand. Aber Wohlstand hat noch weitere Dimensionen. Nicht alle davon werden im Bruttoinlandsprodukt abgebildet, darunter unsere Erfolge im Klimaschutz. Auch Gerechtigkeitsfortschritte sind im Bruttoinlandsprodukt bislang nicht zu erkennen. Wir wollen daher jetzt weitere Daten zur Lebensqualität erheben, die das Bruttoinlandsprodukt ergänzen. Zusammen ergibt sich ein treffenderes Bild unseres Wohlstandes.“

Fairerweise sei erwähnt, dass es sich hierbei nicht um ein gezieltes Ablenkungsmanöver des Wirtschaftsministeriums in konjunkturell schwierigen Zeiten handelt. Es scheint eher ein Herzensprojekt des Bundesministers für Wirtschaft zu sein, den Stellenwert der harten Wirtschaftsdaten (BIP) zu begrenzen. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt und noch vor dem Russland-Ukraine-Krieg und den damit verbundenen wirtschaftlichen Rückschlägen hatte der Minister Anfang 2022 eiligst ein Sonderkapitel „Nachhaltiges und inklusives Wachstum – Dimensionen der Wohlfahrt messbar machen“ in den Jahreswirtschaftsbericht 2022 aufnehmen lassen. Darin geht es um mehr als 30 Einzelindikatoren aus sehr unterschiedlichen Bereichen, mit denen der Stand der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt in ausgewählten Teilen abgebildet werden soll. Nun sollen „interessierte Personen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft“ bis zum 6. September 2023 einen Fragebogen ausfüllen, um ein möglichst breites Meinungsspektrum zu erhalten. Die Ergebnisse der Konsultation sollen bei der Weiterentwicklung der Wohlfahrtsmessung im Jahreswirtschaftsbericht 2024ff. berücksichtigt werden.

Was ist davon zu halten? Grundsätzlich ist es richtig, dass Wohlstand und Wohlfahrt mehr sind als das, was mit der nackten Zahl des Bruttoinlandsproduktes abgebildet wird. Geld allein macht nicht glücklich. Geld ist ein sehr wichtiger, aber sicher nicht der einzige Faktor für die Lebenszufriedenheit. Genauso wenig, wie allein das Gehalt und das Vermögen eines Menschen dessen Glückszustand bestimmt, kann das BIP allein nicht Auskunft darüber geben, wie hoch die Wohlfahrt in einem Land ist. Diese Zusammenhänge sind hinlänglich bekannt. Sie werden seit Jahrzehnten unter Ökonomen diskutiert. Und es ist ehrenwert, nach alternativen Wohlfahrtsindikatoren zu suchen. Doch man muss realistisch bleiben: Die meisten alternativen Wohlfahrtsindikatoren sind mindestens genauso interpretationsbedürftig wie das BIP. Und sie sind anfällig für politische Manipulation. Deshalb sei hier die Prognose gewagt, dass es wohl niemals gelingen wird, mit einer einzigen Kennzahl oder mit einem Indikatoren-Set den wahren Wohlstand oder die Wohlfahrt eines Landes objektiv treffend darzustellen. Jeder Indikator und jede Kennzahl werden am Ende immer noch zu interpretieren sein.

Der nun eingeleitete „Konsultationsprozess“ dürfte übrigens kaum weiterhelfen. Der Fragebogen ist so konzipiert, dass ihn kaum ein „Normalbürger“ ausfüllen wird. Erstens dürften nur wenige Bürger überhaupt Kenntnis von der Umfrage nehmen. Zweitens erfordern viele Fragen erhebliche Vorkenntnisse, sodass wohl überwiegend diejenigen teilnehmen werden, denen dieses Thema schon länger am Herzen liegt.

Die Kritik am BIP-Konzept geht oft zu weit. Es wird gern übersehen, dass das BIP in marktwirtschaftlich organisierten Ländern die Präferenzen und Wünsche der Bürger zum Ausdruck bringt. In Marktwirtschaften werden diejenigen Waren und Dienstleistungen produziert, die von den Verbrauchern gewünscht werden. Somit ist die weitverbreitete Vorstellung, Wirtschaft und Gesellschaft fänden in unterschiedlichen Räumen statt, nicht immer sachgerecht. Regierungen, die den Wohlstand und das Wohlbefinden der Bevölkerung maximieren wollen, sollten deshalb in erster Linie darauf achten, dass sich die Bürger frei entfalten und ihre Bedürfnisse mit freiwilligem Tausch auf Märkten decken können. Wenn die Wirtschaft wächst und das BIP steigt, dann kommt damit – im Regelfall – zum Ausdruck, dass die Bedürfnisse der Menschen besser als im Vorjahr gedeckt werden konnten. Folglich sind die Menschen im Sinne ihrer eigenen Präferenzen glücklicher beziehungsweise zufriedener.

Wer die Debatten unserer Zeit aufmerksam verfolgt, kann den Eindruck bekommen, dass es manchen Zeitgenossen gerade nicht mehr darum geht, die individuellen Präferenzen der Bürger zum Maßstab zu machen, um den gesellschaftlichen Wohlstand richtig zu ermitteln. Vielmehr werden übergeordnete Ziele formuliert, denen sich die Bürger unterzuordnen haben. Manche NGOs, Denkfabriken und andere Institutionen massieren mit einem medialen Dauerfeuer ihre Vorstellungen von einem guten Leben ins Bewusstsein der Öffentlichkeit ein. Solche Vorstellungen lassen sich mit „Wohlfühlindikatoren“ trefflich unterfüttern.

Bemühungen, die darauf abzielen, den Wohlstand eines Landes noch präziser darzustellen, als es das BIP bisher kann, sind immer willkommen. Problematisch ist es aber dann, wenn es nicht mehr darum geht, die Wohlstandsmessung zu verbessern, sondern der Gesellschaft eine neue Vorstellung von Wohlstand und einem guten Leben aufzudrücken. Die heutigen Debatten entwickeln sich zuweilen in eine Richtung, in der sich Wortführer als Gesellschaftsarchitekten verstehen und so tun, als wüssten die Menschen nicht, was für sie selbst gut ist. Nach Ansicht dieser Wortführer entscheiden sich die Normalbürger für das falsche, weil zu materiell ausgerichtete Leben. Schnell ist man dann bei Degrowth-Ideen, bei der Konsumentensouveränität und Selbstbestimmung keine große Bedeutung mehr haben. Mit der Freiheit, für sich selbst herauszufinden, was sie glücklich macht, gehen die Menschen aus Sicht solcher Kritiker nicht richtig um. Doch wer soll entscheiden, was Glück und Wohlstand bedeutet, wenn nicht jeder Bürger für sich selbst? Das könnte die kritische Frage werden, die einige grundlegende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Debatten der Zukunft prägen wird.

Weitere Aspekte zu diesem Thema finden sich in „Gesellschaft im (Werte-)Wandel: Hat die Wirtschaftsleistung als Wohlfahrtsmaß ausgedient?“ in: Norbert Berthold und Jörn Quitzau (Hrsg.), „Die Wirtschafts-Welt steht Kopf“.

Blog-Beiträge zum Thema:

Jörn Quitzau (2022): Jetzt auch im Jahreswirtschaftsbericht auf dem Prüfstand
Was taugt das BIP als Wohlfahrtsindikator?

Leonhard Knoll (2022): Jahreswirtschaftsbericht, ESG & Co. Der Siegeszug der Beliebigkeit und seine Gefahren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert