Gastbeitrag
Wirtschaftliche Freiheit: Die Industrielle Revolution

Industrialisierung und Massenwohlstand gehören zusammen. Die Bezeichnung „Industrielle Revolution“ weist auf die weltgeschichtliche Bedeutung der Veränderungen hin, die allerdings weder gezielt noch über Nacht geschahen, sondern sich über Jahrzehnte entwickelten. Industrialisierung und das neu entstehende Wirtschaftssystem des Kapitalismus beendeten die bis dahin vorherrschende Subsistenzwirtschaft und ein durch Geburt determiniertes Leben in einem Stand. Zu neuen Königen stiegen die Anbieter von Gütern auf, die ihren Mitmenschen massenhaft eine Verbesserung des Lebens boten.

Begriffsklärung und Überblick: Industrialisierung und Kapitalismus

Unter Industrialisierung wird historisch der soziale, technische und wirtschaftliche Wandel verstanden, der sich in Europa von der Mitte der 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstreckte. Aus der Agrar- wurde die Industriegesellschaft. Ein Kennzeichen war das Fabriksystem, in dem maschinell statt handwerklich Güter in Lohnarbeit produziert wurden. Arbeitsteilung und Spezialisierung, Rationalisierung und Massenproduktion, fortwährender technischer Fortschritt und das Entstehen von anonymen Märkten weit über den lokalen Raum hinaus sind weitere Kennzeichen der Industrialisierung.

Mit der Industriegesellschaft entstand die Arbeiterklasse. Lohnarbeit wurde zum Massenphänomen. Die vielfach prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse für Männer, Frauen und Kinder warfen die soziale Frage auf. Die unqualifizierten Heerscharen von Arbeitskräften, darunter Frauen, Kinder und Jugendliche, übten selbst Druck auf die Löhne aus. Ideologien entstanden und wurden als Lebenshilfe verstanden. Umweltverschmutzung und Wohnungselend gehörten zu den negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung.

Die Industrialisierung wird nicht nur als industrielle Revolution, sondern auch als institutionelle Revolution (Clemens Wischermann) verstanden. Das Regelwerk des Zusammenlebens, von Wirtschaft und Gesellschaft und auch der Politik änderte sich grundlegend – nicht zuletzt im Vergleich zum feudalen, bäuerlichen Alteuropa, dem Jahrtausend von 800 bis 1800.

Kapitalismus ist die Bezeichnung für das neue Wirtschaftssystem, zu dessen Merkmalen individuelle Eigentumsrechte und dezentrale Entscheidungsstrukturen gehören. Kapital, vor allem in Sachgütern wie Maschinen, Anlagen und Waren gebunden, und Kredite stachen als Eigenheiten der neuen Zeit hervor. Nicht allein die Verfügbarkeit über den Produktionsfaktor Boden bestimmte fortan die Struktur und den Entwicklungspfad der Gesellschaft, sondern zunehmend Kapital. Koordination und Produktion der Wirtschaftsaktivitäten erfolgen seitdem über Märkte und Preise in einer von der Politik teilautonomen Wirtschaft – anders als in der Jahrtausende währenden Naturalwirtschaft sowie seit dem Mittelalter zum Nutzen der Obrigkeit im Feudalismus und Merkantilismus.

Frühkapitalistische Praktiken reichen bis in die römische Antike und die chinesische Han-Dynastie sowie das arabische Großreich unter den Omajjaden und Abbasiden zurück. Europa war ab dem 12. Jahrhundert ein dynamischer Nachzügler (Jürgen Kocka). In dieser Sicht veränderte die Industrialisierung den Kapitalismus verstanden als Kaufmanns- und Handelskapitalismus.

Die allmähliche Expansion kapitalistischer Praktiken vom 16. bis 18. Jahrhundert und die europäische Kolonialisierung, begleitet von der Aufklärung, lässt allmählich ein kapitalistisches Welthandelssystem entstehen. Die Produktion tritt als Neuerung zu Agrarwirtschaft und Handel hinzu.

Als Kampfbegriff ist Kapitalismus früh negativ belegt. Das führt noch im 19. Jahrhundert zu absurden Verdrehungen wie die Schmähung des Manchester-Kapitalismus, der den Hunger besiegte und dessen Wortführer Richard Cobden mit ungezählten Statuen als „Champion of the Poor“ in England verehrt wurde (Detmar Doering).

Mit Ludwig von Mises lassen sich die revolutionären Veränderungen politikökonomisch wie folgt auf den Punkt bringen: „Tatsache ist, dass es in einem kapitalistischen System letzten Endes die Verbraucher sind, die Befehle geben. Der Souverän ist nicht der Staat, sondern das Volk.“ (Vom Wert der besseren Ideen)

Umwälzungen: eine neue Welt

Die revolutionäre Veränderung der Lebensverhältnisse wird im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung deutlich, etwa im Jahr 1750. Damals lebten 80-90% der Menschen auf dem Land als Bauern in Dörfern. Die Natur beeinflusste ihr Leben und ihr Sterben erheblich, insbesondere durch die Auswirkung auf die Ernte und über Infektionskrankheiten. Hungersnöte traten immer wieder auf, in industrialisierten Staaten zu Friedenszeiten nicht mehr. Die Landbevölkerung betrieb eine Subsistenzwirtschaft. 90% des Handels fand in Städten und deren unmittelbarer Umgebung statt. Fernhandel war eine städtische Ausnahme, wie schon zuvor durch die Hanse. Um 1750 setzte ein Verarmungstrend ein, bedingt durch eine wachsende Bevölkerung bei stagnierender Produktivität der Landwirtschaft. Die Zahl der pauperisierenden Bauern und Besitzlosen nahm weithin sichtbar zu.

Die weltgeschichtliche Bedeutung der Industrialisierung wird auf Grafiken sichtbar. Die geschätzte Entwicklung der Weltbevölkerung begann erst mit der Industrialisierung um 1750 exponentiell zu steigen. In Deutschland wuchs die Bevölkerung, abgesehen von den beiden großen Einbrüchen Pest und Dreißigjähriger Krieg, sukzessive bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, um dann ebenfalls exponentiell zu wachsen. Bemerkenswerterweise nahm der Waldbestand in der Industrialisierung nicht mehr nennenswert ab. Zuvor war das Bevölkerungswachstum noch mit zunehmenden Rodungen verbunden gewesen (siehe Abbildung 1).

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– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Die Entwicklung des Pro Kopf Einkommens ist ebenfalls seit der Industriellen Revolution durch einen exponentiellen Anstieg gekennzeichnet – bei gleichzeitig exponentiellem Bevölkerungswachstum. Zuvor fielen und stiegen die Reallöhne mit steigender und sinkender Bevölkerung. Die malthusianische Wirtschaft mit der Diskrepanz zwischen wachsender Bevölkerung und stagnierender Nahrungsproduktion führte zu sinkenden Reallöhnen sobald die Bevölkerung wuchs und vice versa. In Deutschland bestand dieser Zusammenhang bis im frühen 19. Jahrhundert ein Strukturbruch erfolgte. Erst in der postmalthusianischen Wirtschaft vollzog sich die Reallohnentwicklung unabhängig vom Bevölkerungswachstum. Die Verdoppelung der Bevölkerung ging mit allmählich steigenden Reallöhnen einher. Wesentlich war der unter neuen institutionellen Bedingungen wirksam werdende technische Fortschritt, der eine steigende Arbeitsproduktivität bewirkte.

Diese Wohlstandsentwicklung ist universell. Alle Länder auf der Welt haben mit der Industrialisierung eine exponentielle Entwicklung des Wohlstands erlebt.

Entwicklung und Merkmale

Der komplexe Wandel technisch-wirtschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlich-sozialer Veränderungen begann in England um 1750 und breitete sich von West- nach Osteuropa aus – mit starken Aufholeffekten bei ökonomischer Rückständigkeit (Alexander Gerschenkron).

Für einen Überblick lassen sich technische Neuerungen respektive Leittechnologien und wesentliche Wirtschaftszweige der Industrialisierung(en) z.B. in Abschnitten von 50 Jahren gliedern.

1800: mechanischer Webstuhl – Dampfschiffe, Kohle und Eisentechnologie

1850: Eisenbahn – Telegrafie, Zement, Fotografie

1900: Elektrifizierung – Chemie, Auto, Aluminium

1950: Elektronik – Fernsehen, Nukleartechnologie, Kunststoffe, Computer

Zu den Merkmalen der Industrialisierung zählt neben dem technischen Fortschritt ein Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität, der die Prognose von Malthus zu einem Fehlschlag machte, ferner die Kapitalbildung und der Anstieg der Kapitalrentabilität nicht zuletzt bedingt durch Wettbewerb. Der Einfluss des Staates wirkte durch einen Abbau von Restriktionen und einen Aufbau von Infrastruktur.

Der Industrialisierung voraus ging die Proto-Industrialisierung, auch Pre-, Vor- oder Frühindustrialisierung genannt. Knut Borchardt bezeichnet das Aufkommen neuer Handelstechniken, moderner Betriebs- und Unternehmensformen sowie Methoden der betrieblichen Planung und Kontrolle seit dem Mittelalter als „kommerzielle Revolution“. Diese regional geprägte Entwicklung begann ab dem Spätmittelalter und bestand in einer teilweise massenhaften Produktion gewerblicher Erzeugnisse für überregionale, internationale Märkte mit statischer Technologie und mechanischer Energie. Sie wurde organisiert von Kaufleuten und Verlegern, die vielfach in Heimarbeit, mittels mündlicher Verträge als Nebenerwerb, und in Manufakturen kleinere Massenproduktionen für einen anonymen Markt und nicht mehr auf Bestellung anfertigen ließen. Dabei investierten sie in Maschinen, Vorräte und den Transport, zugleich nutzten sie billige Arbeitskräfte, um Gewinn zu erzielen. „Die Verleger vereinigten in ihrer Person mehrere Fähigkeiten, die im frühen Industriezeitalter von Bedeutung waren: Markt- und Profitorientierung, Kenntnisse der Kapitalrechnung, Erfahrungen mit den Produktionsmethoden und der arbeitsteiligen Produktion.“ urteilt Marcel Boldorf. Dementsprechend förderten sie die Produktivität, trieben die Arbeitsteilung voran, verschärften die Produktkontrolle. Daraus konnten sich industrielle Unternehmer entwickeln. Zwischen 1800 und 1913 stammten zum Beispiel 85 der westfälischen Textilindustriellen aus Kaufmanns-, Verleger- und Fabrikfamilien.

Regionale Transformation

Vorindustrialisierung und Industrialisierung waren kein flächendeckendes, sondern vor allem ein regionales Phänomen. Als regionale Frühstarter gelten in Deutschland das Rheinland, das Königreich Sachsen, zudem Schlesien, als Nachzügler das Großherzogtum Hessen und Württemberg.

In Deutschland spielte die Leichtindustrialisierung eine wichtige Rolle, im Textilsektor mit Chemnitz als Powerhouse der sächsischen Baumwollindustrie und Motor der regionalen Transformation. Die Maschinenfabrik des Unternehmers Richard Hartmann in Chemnitz zählte zu den wichtigsten Arbeitgebern im Königreich Sachsen. Ähnliches gilt für die Magedeburger Rübenzucker-Hersteller. Sie erfuhren während der Kontinentalsperre einen ersten Aufschwung und waren die Pioniere des Aktienwesens bereits um 1800. Die Magedeburger Börde konnte ihre Führungsposition in der Zuckerherstellung bis 1860 sogar noch auf zwei Drittel der gesamten deutschen Zuckerherstellung ausbauen, was wiederum den Maschinenbau nach sich zog. Halle war einer von vielen Industriedistrikten, in denen sich Know-how und Do-how verdichteten.

Die exportorientierte Vorindustrialisierung wurde bis Mitte des 19. Jahrhunderts abgelöst durch eine binnenwirtschaftliche Dominanz mit einem Konsumenten orientierten Gewerbe.

In der regionalen Transformation wird das Boserupsche Wachstum anschaulich sichtbar. Nach Ester Boserup hatte die Zunahme der Bevölkerung eine doppelt positive Wirkung: Die Ausweitung des Arbeitsangebots und kürzere Wege zwischen den Siedlungen mit einer Förderung der Diffusion von Innovationen. Diese Erklärung tritt neben das Smithsche Wachstum. Nach Adam Smith spielen Arbeitsteilung und Marktausweitung, die mit Produktivitätssteigerungen einher gehen, eine entscheidende Rolle. Kapitalbildung und steigende Kapitalrentabilität lassen sich für das 19. Jahrhundert belegen, auch durch Investitionen in produktivere Bereiche. Die Einführung von Gasbeleuchtung in den 1830er Jahren in Großbritannien ermöglichte beispielsweise Nachtschichte und somit eine effizientere Kapitalnutzung. In Preußen flossen zwischen 1816 und 1922 nur 2% des jährlich investierten Kapitals in die Industrie und die Masse von 70% in die Agrarwirtschaft. Das änderte sich erst um 1850.

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die neuere Forschung auf die lediglich begrenzten Folgen der deutschen Nationalstaatsbildung 1871 und einer staatlichen Zentralisierung hinweist. Zwar lässt sich parallel zur Reichsgründung der Übergang zu modernem industriellem Wirtschaftswachstum beobachten mit rund 1,5% pro Kopf pro Jahr, zudem ein stetiger Anstieg des Reallohns. Allerdings spielten vorangehende Entwicklungen und Trends mit einer institutionellen Modernisierung zugunsten von Marktwirtschaft und Freihandel dafür die entscheidende Bedeutung.

Erklärung der Ursachen

Die Erklärungsansätze der Industrialisierung lassen sich in zwei Stränge gliedern:

a) ökonomische Erklärungen

Dazu gehören die regionale Industrialisierung und die Bevölkerungszunahme als parallele, korrelierte Angebots- und Nachfragefaktoren, ferner Produktivitätssteigerungen der Landwirtschaft mit einer besser ernährten, kaufkräftigeren Bevölkerung. Weitere Aspekte sind die frühe Exportorientierung und der wirtschaftliche Wettbewerb in Europa, außerdem eine Kapitalbildung beim Aufbau von Industrien im Unterschied zum merkantilistischen Feudalismus einschließlich entstehender Führungssektoren.

Das 19. Jahrhundert lässt als Verkehrsrevolution begreifen mit voranschreitender Integration und Globalisierung sowie abnehmenden Transferkosten und sich ausgleichenden Preisen.

b) staatlich-politische Erklärungen
Ausgehend von Umwälzungen in Wissenschaft, Religion, Politik und Recht waren beabsichtigte und unbeabsichtigte Verwaltungsmaßnahmen wesentlich. In Großbritannien wurden zwischen 1760 und 1850 Restriktionen aufgehoben oder entschärft. In Deutschland gelten als Meilensteine die Bauernbefreiung (1811, abgeschlossen 1848), die Gewerbefreiheit (1806 in Preußen) und die Aufhebung des Konzessionswesen (1810/11) sowie das preußische Zollgesetzt (1818) mit einem großen, einheitlichen Wirtschaftsgebiet ohne Binnenzoll. Genannt werden außerdem Freizügigkeit bei der Einwanderung, eine politische Mitsprache des Gewerbes, die staatliche finanzielle Gewerbeförderung und Investitionen in die Infrastruktur (Straßen, Wasserwege, Brücken, Eisenbahnverbindungen). Schließlich sei der politische Wettbewerb zwischen den (Klein)Staaten und eine entstehende Privatrechtsgesellschaft (z.B. Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch, 1861) hervorgehoben.

Die Industrialisierung in Europa war kein Zufall. Auf dem Kontinent kamen mehrere begünstigende Faktoren zusammen. Dazu gehört die Vorgeschichte einschließlich der Entdeckungsreisen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Hinzu kommen die günstige Geographie und das Klima genauso wie Bodenschätze und ein fruchtbarer Boden.

Die soziale Frage

Mit der Industrialisierung werden Massenelend und unmenschliche Arbeitsbedingungen verbunden. Der Pauperismus ist indes ein der Industrialisierung vorausgehendes Phänomen, das die Verstädterung forcierte und mit einem großen Angebot an einfachen Arbeitskräften einher ging. Missernten und Hungersnöte vor der eigentlichen Industrialisierung, letztmalig 1844/46 sorgten für Auswanderungswellen. Empirische Daten sind rar.

Die Lage der „working poor“, das Elend der Industriearbeiterschaft einschließlich Wohnungselend und gesundheitsschädlicher Wohnverhältnisse, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Ursachen kontrovers diskutiert, angestoßen nicht zuletzt von Friedrich Engels und Karl Marx. Bruno Hildebrand erwartete von der aufstrebenden Industrie die Lösung der sozialen Frage. Rückblickend besserte sich nach 1820 die Lage allmählich und das Existenzminimum von Familien war solange gesichert wie nicht Agrarkrisen als Schocks wirkten. Nach der Abschaffung der Getreidezölle 1846 und öffentlichen Untersuchungen über die Wohn- und Gesundheitssituation in England begann sich die Lage ebenfalls zu verbessern. Eine Lebenserwartung von durchschnittlich über 40 Jahren wurde in englischen Großstädten indes erst um 1880 erreicht.

Die Ausbeutungsthese gilt als widerlegt. „Zwischen 1790 bis 1831 – einer Zeit, in die immerhin die Krise der Revolutionskriege und der Kampf gegen Napoleon fielen – stiegen die Lebenserhaltungskosten zwar um 11%, aber die Reallöhne um ganze 43%. Gleichzeitig fiel das Bevölkerungswachstum zwischen 1740 und 1830 in keinem Jahrzehnt unter 36,6% per Jahrzehnt. Ohne die Industrielle Revolution wäre Malthus‘ Szenario Realität geworden.“ urteilt Detmar Doering (Der Weg des Fortschritts).

Kritik und Vorurteile

Ein Unbehagen an der Industrialisierung bleibt. Albert O. Hirschmann hat auf die ambivalente Haltung von Adam Smith hingewiesen, der manche Industrieprodukte als Flitter und Tand bezeichnete. Späteres Unbehagen speist sich aus dem Verlust an Lebensqualität, konservativ-romantischen Vorstellungen und einer zeitgenössischen Neigung zu apokalyptischen Auffassungen. Stets macht die Perspektive den Unterschied. In Südamerika gab es zu wenig Industrie und zu viel Konsum. In Osteuropa war es genau umgekehrt. Das Unbehagen am Kapitalismus speist sich aus diversen weiteren Motiven.

Unbehagen sollte indes auch aufkommen, wenn das Ausmaß der Umwälzungen durch die Industrielle Revolution als politisches Ideal herhalten muss. Der EU-Kommissar für Klimaschutz Frans Timmermanns verglich Anfang Dezember 2021 die Disruptionen, vor denen die Gesellschaft stehe, einschließlich der für den Klimaschutz erforderlichen, als so umfangreich wie die der Industriellen Revolution. Eine Distanz zu derartigen Äußerungen ist besonders angebracht als die wahre Industrialisierung als Freiheitsrevolution verstanden werden kann. Wirtschaftlich tätige Menschen wurden von den Fesseln der Zünfte und feudalen Herrscher befreit. Die Industrielle Revolution entwickelte sich ungeplant, non-zentral und emergent, anders als das manageriale Großbehördenprojekt der EU.

Schließlich hat Friedrich August von Hayek in „History and Politics“ auf die wechselseitige Beeinflussung und Prägung von Geschichtsschreibung und Politik hingewiesen. Das gilt gerade für den Mythos der Verelendung der Arbeiterschaft durch die Industrialisierung und die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Nicht die Industrialisierung hat breite Bevölkerungsschichten ins Elend gestürzt. Vielmehr bestanden die zweifellos elenden Lebensumstände längst zuvor und wurden durch die Verstädterung nur geballt sichtbar. Tatsächlich verbesserten sich die Lebensverhältnisse der nachfolgenden Generationen sukzessive bei gleichzeitigem Überleben einer exponentiell wachsenden Bevölkerung, die gerade Industrialisierung und Kapitalismus ermöglichten. Ursache und Symptome, Heilmittel und Gift wurden durch eine konservative Propaganda zur Bewahrung und Verklärung des Status quo ante verdreht.

Mit Ludwig von Mises gilt für die Industrialisierung: „Es war der Anfang der Massenproduktion, dem grundlegenden Prinzip kapitalistischer Industrie.“ und: „Es war Massenproduktion für die Bedürfnisse der Massen. Und das ist das Grundprinzip des Kapitalismus“. (Vom Wert der besseren Ideen)

Liberale Lehren

Welche Lehren können Liberale aus der Industrialisierung und ihrer wirtschaftgeschichtlichen Erforschung ziehen? Vielleicht folgende:

1. Demut: Viele Perspektiven sind wertvoll, um die komplexe Transformation zu verstehen, nicht allein die liberale.

2. Details: Für gehaltvolle Erklärungen braucht es eine Kenntnis der insbesondere wirtschaftsgeschichtlichen Fakten und darüber hinaus verschiedener Erklärungen und der ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte.

3. Dezentral: Häufig ist die regionale oder lokale Situation bedeutsam und nicht die nationale.

4. Dauer: Eine Verbesserung der Welt benötigt Zeit. Die Langfrist-Perspektive macht den Unterschied, z.B. zeigt ein Vergleich der Lebensbedingungen von 1750 mit 1850 mit 1950 und 2000 wie viel bessere Lebensbedingungen die Menschen geschaffen haben.

5. Mit einem weiteren D beginnend: De-State (wie detox): Weniger Staat und weniger Privilegien setzten Entwicklungskräfte frei. Dazu zählt auch zwischenstaatlicher Wettbewerb.

Als Quintessenz bietet sich folgende Formel an: Industrialisierung und Kapitalismus beendeten die Subsistenz-Existenz und ein durch den Geburtsstand determiniertes Leben – ohne Industrialisierung kein Massenwohlstand. Am Anfang stand die wirtschaftliche Freiheit.

Letztlich gehört die Industrialisierung in die Kategorie Weltwunder der Menschheitsgeschichte.

Literatur

Marcel Boldorf: Deutschlands Industrialisierung als regionaler Transformationsprozess: Plädoyer für eine Vielfalt der Wirkungskräfte, in: Ingo Köhler, Eva-Maria Roelevink (Hg.): Transformative Moderne: Struktur, Prozess und Handeln in der Wirtschaft. Festschrift für Dieter Ziegler zum 65. Geburtstag, Dortmund 2021

Detmar Doering: Mythos Manchestertum. Ein Versuch über Richard Cobden und die Freihandelsbewegung, Berlin 2004.

ders.: Der Weg des Fortschritts. Wie die Freiheit unser Leben verbesserte, Berlin 2013.

Alexander Gerschenkron: Economic backwardness in historical perspective, a book of essays, Cambridge, Massachusetts 1962.

Friedrich August von Hayek: History and Politics, in: ders. (Hrsg.): Capitalism and the Historians, Chicago 1963 (zuerst 1954), S. 3-29.

Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, München 2017.

Ulrich Pfister, Jan-Otmar Hesse, Mark Spoerer, Nikolaus Wolf (Hg.): Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert Bd. 6), Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2021.

Ludwig von Mises: Vom Wert der besseren Ideen. Sechs Vorlesungen über Wirtschaft und Politik, München 2008.

Clemens Wischermann und Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004.

Eine Antwort auf „Gastbeitrag
Wirtschaftliche Freiheit: Die Industrielle Revolution“

  1. Interessant finde ich, dass Bevölkerungswachstum auch ohne Industrialisierung möglich ist, wie man zB in Afrika sieht. Es könnte sogar sein, dass es da längerfristig einen Gegensatz gibt, denn die Anzahl der Kinder fiel seit dem Beginn der Industrialisierung, die Bevölkerung wurde trotzdem mehr, da die Menschen länger leben.
    Das Besondere an der damals entstandenen Wirtschaftsordnung scheint mir zu sein, dass sie nicht stabil ist. Aktuell sind der Klimawandel und das Schrumpfen der Bevölkerung in den entwickelten Nationen die Probleme, welche in den nächsten 50 Jahren gelöst werden müssen. Weitere Probleme sind der Verlust an Biodiversität, weil die Landwirtschaft alles Land nutzt, und bei Rohstoffen sind die leicht zu erschließenden Quellen erschöpft oder die Erschöpfung ist abzusehen. Gut möglich das das die globalen Probleme der Zukunft sein werden. Wie gesagt: Ohne ständigem Wandel würde es zum Zusammenbruch kommen und wir würden uns in der Subsistenzwirtschaft wieder finden. Immerhin scheint der Kapitalismus geeignet zu sein, Lösungen zu finden. Zumindest sind die notwendigen Kapazitäten dafür vorhanden. Vor der Industrialisierung war das nicht so, weshalb auch alle großen Reiche der Vergangenheit unter gingen.

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