Staatliche Hilfe, Verantwortung und diachrone Wirtschaftspolitik

Betrachtet man die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland, gewinnt man den Eindruck, daß zunehmend Gruppen definiert werden, denen vermeintlich geholfen werden muß und über die dann – oftmals – das wirtschafts- bzw. sozialpolitische Füllhorn ausgeschüttet wird. Erklärt werden kann dieser Sachverhalt aus der Tektonik unseres demokratischen Systems. So lassen sich durch die Erfüllung derartiger Wünsche Wählerstimmen gewinnen und die Lasten nahezu unmerklich auf viele Schultern verteilen (Daumann 1999). Ein Beispiel dafür sind zunehmende Eingriffe in den Mietmarkt. Die Eigentumsquote liegt bei etwa 47% (Daten des statistischen Bundesamts 2018, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/_inhalt.html). Besonders in Stadtstaaten lebt ein Großteil der (Wahl-)Bevölkerung zur Miete, was staatliche Vorstöße – etwa in der Bundeshauptstadt – erklären kann.

Es ist inzwischen zunehmend zu beobachten, daß sowohl Individuen als auch Unternehmen den Nutzen ihres Handelns privatisieren, während die negativen Handlungsfolgen – sowohl Kosten als auch Nutzen sind unsicher – durch die Allgemeinheit kompensiert werden sollen. Wir wollen anhand einiger Beispiele verdeutlichen, daß private wie unternehmerische Entscheidungen auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül bestehen, bei dem hohe Gewinnchancen auch mit einem höheren Risiko einhergehen.

  1. Ein privater Haushalt X schließt einen Stromvertrag bei einem Anbieter ab, der mit vergleichsweise niedrigen Preisen wirbt. Ein anderer Haushalt Y zahlt bei den örtlichen Stadtwerken einen höheren Preis. Durch die monatlichen Abschlagszahlungen entsteht ökonomisch eine Kreditbeziehung, bei der die Haushalte Gläubiger sind, wenn ihr Stromverbrauch niedriger als kalkuliert ist. Der Stromanbieter von Haushalt X meldet Insolvenz an.
  2. Eigentümer A entscheidet sich dafür, in eine Luft-Wasser-Wärmepumpe zu investieren, um unabhängig von den Energieträgern Öl und Gas zu sein. Eigentümer B möchte die Investition nicht tätigen und setzt weiter auf Gas. Durch den russischen Krieg gegen die Ukraine, die vergangenen energiepolitischen Entscheidungen der Regierung und die daraus resultierende Gasknappheit steigt der Gaspreis.
  3. Unternehmen Z ist ein landwirtschaftlicher Betrieb, dessen Maschinen nicht mehr auf dem neuesten technologischen Stand sind. Z nimmt keine Erweiterungsinvestitionen vor und produziert zunehmend zu höheren Kosten, wodurch er nach kurzer Zeit nicht mehr wettbewerbsfähig ist.
  4. Bankkunde C legt einen sechsstelligen Betrag bei einer ihm bis dato unbekannten, nichtinländischen Bank an, die ihm eine Verzinsung verspricht, die zwei Prozentpunkte über jener liegt, die sein Nachbar D bei der örtlichen Sparkasse erhält. Die Bank wird zahlungsunfähig.

Freilich ist es nur zu verständlich, daß sich die Personen und Unternehmen, die hier mit negativen Handlungskonsequenzen konfrontiert sind, großes Interesse an einer staatlichen Kompensation haben, bspw. durch eine Subvention, eine Gasumlage, die aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert wird, oder eine steuerfinanzierte Rettung ihres Vertragspartners.

Wir wollen die Forderung aus ordnungspolitischer Sicht etwas näher betrachten, wozu wir auf drei Sachverhalte eingehen wollen.

Zum einen ist dies die Rolle von Freiheit und Verantwortung in unserem Wirtschaftssystem: Ein marktwirtschaftlich orientiertes System zeichnet sich dadurch aus, daß die Lenkung der Ressourcen und die Verteilung der Güter primär über Märkte stattfindet. Entscheidungen werden dezentral getroffen und für deren Folgen haben die Entscheider selbst einzustehen. So spricht Friedrich August v. Hayek (2005, S. 93 ff.) von einem unauflösbaren Zusammenhang von individueller Freiheit und Verantwortung und Walter Eucken (2004, S. 279 ff.) benennt diesen Sachverhalt als „Einheit von Handlung und Haftung“. Darüber hinaus sieht unser Wirtschaftssystem sozialpolitische Korrekturen vor: Mit dem sozialpolitischen Werkzeugkasten sollen dabei insbesondere Menschen, die in Not geraten sind, unterstützt werden. Aber auch in einer sozialen Marktwirtschaft gilt jedoch zunächst das Subsidiaritätsprinzip.

Zum anderen kommt den Möglichkeiten der Abschätzung von Folgen eine besondere Bedeutung zu: Die Einheit von Handlung und Haftung soll gewährleisten, daß die Konsequenzen der Handlung sorgsam abgewogen werden und ein Entscheider sich die Annahmen, unter denen er seine Entscheidung trifft, bewußt macht, da die meisten privaten wie politischen Entscheidungen unter Unsicherheit über den Folgeneintritt getroffen werden. Auf diese Weise wird einerseits angeregt, daß wirtschaftlich mit den verfügbaren Ressourcen umgegangen wird und daß andererseits die Konsequenzen der Entscheidung nicht auf unbeteiligte Dritte abgewälzt werden können. Letzteres bedeutet insbesondere, daß jemand, der bei der Folgenabschätzung nur oberflächlich vorgeht, die Kosten dieser Leichtsinnigkeit auch selbst zu tragen hat. Nun ist es freilich so, daß bestimmte Handlungskonsequenzen nur schwer im Vorfeld vermutet werden können bzw., wenn wir das Konzept des mündigen Bürgers bemühen, von demselben nicht abgeschätzt werden können. In einem derartigen Fall wäre demzufolge ein Ansatzpunkt gegeben, wirtschafts- bzw. sozialpolitisch korrigierend einzugreifen.

Eng damit hängt zum dritten die der Wirtschaftspolitik zugrunde zu legende Perspektive zusammen. Eine synchrone Wirtschaftspolitik würde ausschließlich auf die Situation, in der sich die betrachteten Wirtschaftssubjekte befinden, fokussieren. Die Genese dieser Situation, die Verantwortlichkeit und die mit der Intervention verbundenen Anreizwirkungen würden ausgeblendet.

Eine diachrone Wirtschaftspolitik würde eben gerade dieselben in den Vordergrund stellen und bei der Bewertung der Situation, in der sich die betrachteten Wirtschaftssubjekte befinden, danach fragen, ob diese eben das Resultat einer mangelhaften Beurteilung der Entscheidungssituation und deren potentieller Folgen ist. Wäre nämlich letzteres der Fall, dann griffe eindeutig die Einheit von Handlung und Haftung. Ein staatlicher Handlungsbedarf ließe sich hierbei also nicht rechtfertigen. Insofern würde eine diachrone Ausrichtung der Wirtschafts- bzw. der Sozialpolitik der Dynamik unseres Wirtschaftssystems weitaus eher gerecht als eine synchrone. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die in der Risikoforschung beschriebene „Risikoblindheit“ des Entscheiders (etwa Gleißner/Follert 2022) die gegenwärtige Situation bedingte.

Was bedeuten diese Zusammenhänge nun für unsere Beispiele:

Unter dem Blickwinkel eines diachronen Verständnisses staatlicher Intervention ist der Sachverhalt eindeutig: Für jede Person, die die Chancen einer Entscheidungen wahrnimmt, muß ausgehend vom Leitbild des mündigen Bürgers die Kenntnis unterstellt werden, daß es gewisse Risiken gibt, die mit Entscheidungen einhergehen. Besonders günstige Konditionen sind hierfür oftmals ein Indiz. In concreto würde eine diachrone Wirtschaftspolitik in den vier genannten Szenarien wie folgt aussehen:

Ad 1.: Haushalt X hätte sich der Gefahr bewußt sein müssen; eine staatliche Stützung des fallierenden Stromanbieters ist abzulehnen. Haushalt X muß demzufolge auf einen anderen Stromanbieter mit vermutlich schlechteren Konditionen ausweichen.

Ad 2.: Auch Eigentümer B hätte sich des Risikos steigender Preise bewußt sein müssen; eine staatliche Unterstützung Bs ist abzulehnen.

Ad 3.: Der Verzicht auf Investitionen ist eine bewußte unternehmerische Entscheidung, deren Konsequenzen auch das Unternehmen Z vollumfänglich zu tragen hat; eine staatliche Unterstützung ist hier nicht angemessen.

Ad 4.: Auch hier hätte C das Risiko berücksichtigen müssen; daher hat er die Folgen seiner Investitionsentscheidung selbst zu tragen.

Losgelöst von den hier angeführten Beispielen, basiert eine diachrone Wirtschafts- bzw. Sozialpolitik somit darauf, daß der rationalen Folgenabschätzung von Entscheidungen und der Verantwortung ein größerer Stellenwert beigemessen wird. Freilich lassen sich für die hier vorgetragenen Einzelfälle auch zahlreiche Argumente finden, die eine andere Position unterstützen, etwa daß die Rahmenbedingungen gerade durch staatliches Handeln geändert wurden, oder die Informationsasymmetrie besonders stark ausgeprägt war. Eine staatliche Intervention in Form einer Unterstützung ist dennoch nur dann erwägenswert, wenn die Folgen der Entscheidung für das Wirtschaftssubjekt unter normalen Ermessen nicht absehbar wären.

Literatur

Daumann, F. (1999), Interessenverbände im politischen Prozess: Eine Analyse auf Grundlage der Neuen Politischen Ökonomie, Tübingen.

Eucken, W. (2004), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen.

Gleißner, W. & Follert, F. (2022), Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas: Ein Beispiel für Risikoblindheit bei politischen Entscheidungen. Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 102, 474-478.

Hayek, F. A. v. (2005), Die Verfassung der Freiheit, 4. Aufl., Tübingen.

Frank Daumann und Florian Follert

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