Nicht unternehmen, unterlassen ist die Kunst der Stunde

Die frühere Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, lobte ein Parlament, dem sie eine Legislaturperiode vorgestanden hatte, als besonders erfolgreich, weil es mehr Gesetze als jedes andere Parlament vor ihm beschlossen habe. Die geradezu hinreißende Absurdität der Äußerung von Frau Süssmuth wurde keineswegs in einer breiteren Öffentlichkeit registriert. Nicht nur die Parlamentarier verstehen ihre eigene rechtsstaatliche Rolle nicht mehr. Sie sehen sich nicht als Wächter über das notwendige Übel gesetzlichen Zwangs, sondern glauben sich im Besitz eines Weltbeglückungsmandats. Wir als Öffentlichkeit sind nicht viel besser. Von nahezu allen guten Geistern der freiheitlich rechtsstaatlichen Tradition verlassen, geben wir uns dem Rausch politischer Gestaltungsfreude hin. Die Finanzkrise ist uns ein willkommener Anlass dazu, diese politisch fatale Neigung auszuleben.

1. Der Handlungsbias

In politischen Krisensituationen hat die grundsätzliche menschliche Neigung, handeln für besser als unterlassen zu halten, potentiell fatale Wirkungen. Auch dort, wo wir eigentlich nichts gegen ein uns bestimmtes Schicksal ausrichten können, versuchen wir aktiv zu sein. Um gegen Entwicklungen angehen zu können, die uns negativ betreffen, personalisieren wir die auf uns wirkenden Kräfte. Wie die abstrakten Naturgesetze vom mythischen Denken zu Akteuren gemacht werden, die man in irgendeiner Weise überreden, bestechen, jedenfalls beeinflussen kann, so wollen wir unserem wirtschaftlichen Schicksal durch Personalisierungen von Verantwortlichkeit steuern. Auch wenn man keine Kontrolle über die Ereignisse hat, so kann man doch wenigstens die Illusionen nähren, aktiv intervenieren zu können.

Im Falle einer wirtschaftlichen Krise wollen wir uns auf einmal dem Vater Staat anvertrauen. Wir rufen nach staatlichen Interventionen, von denen fast ausnahmslos nicht erwiesen ist, dass sie in der von uns intendierten Weise wirken. Wenn jemand irgendeine Intervention vorschlägt, wird er aber gewöhnlich nur dafür kritisiert werden, was er vorschlägt, nicht jedoch dafür, dass er überhaupt eine Intervention anregt. Denn der Glaubensartikel, dass man dem Schicksal nicht ausgeliefert sei, sondern es beeinflussen kann, muss unantastbar bleiben.

Als die eigentlichen Feinde der öffentlichen Wohlfahrt erscheinen in jeder größeren Krise jene, die sich gegen Interventionen als solche sträuben. Sie werden stigmatisiert als untätige Zauderer, denen es an Führungs- und Entschlusskraft mangelt. Insbesondere für Politiker kann das tödlich sein. Sie haben es sich deswegen angewöhnt, die Nachfrager von Politik mit immer neuen Handlungsvorschlägen zu beglücken. Dem sollte man sich generell verweigern und die Beweislast bei jenen verankern, die etwas tun wollen und nicht bei jenen, die für Unterlassungen plädieren. Die aktuelle deutsche Politik war bislang erstaunlich widerstandsfähig und verdient dafür hohe Anerkennung.

2. Maßnahmen und Einzelinterventionen sind manchmal notwendig

Die Aufforderung, sich der hektischen Betriebsamkeit, die allenthalben im Zuge von Finanz-und Wirtschaftskrisen ausbricht, so weit wie möglich zu entziehen, darf man selbstverständlich nicht als ein ausnahmsloses Dogma behandeln. Notwendiges muss getan werden. Insoweit verdient angesichts der Dynamik und Komplexität des Geschehens die Entschlossenheit und Besonnenheit gerade auch der deutschen Wirtschaftspolitik zunächst einmal Respekt. Wer angesichts des Sturms auf die Banken versuchte, das Finanzsystem zu bewahren, der konnte tatsächlich etwas ausrichten. Er hat nicht nur die Haut der Eigner und Manager von Banken gerettet, sondern vermutlich die aller Bürger. Es ist zwar schwer vorauszusehen, was ohne Intervention geschehen wäre, aber eine Versicherung gegen ein neues 1929 aufzubauen, schien erstrebenswert und mit Bezug auf das Finanzsystem selber auch möglich. Doch mehr Politik ist womöglich ungut.

3. Einhegung der Finanzpolitik

Der stete Appell an die Wirtschaftspolitiker und insbesondere jene, die die ordnungspolitischen Regeln des Wirtschaftens festzulegen haben, über die unmittelbaren Rettungsmaßnahmen hinaus nichts zu überstürzen, könnte durchaus eine gewisse Öffentlichkeitswirkung haben, wenn er denn einmütig von berufener Seite der wissenschaftlichen Politikberatung getätigt würde. Doch dieser Appell wird im Konzert jener Stimmen, die eine einmalige Chance für ihr jeweiliges wirtschafts- sozial- oder finanzpolitisches Lieblingsprojekt entdecken, kaum Gehör finden. Um dieser natürlichen Schieflage Rechnung zu tragen, wäre es außerordentlich vorteilhaft, wenn wir uns politisch darauf verständigen könnten, ausschließlich befristete Regelungen zu beschließen. Es sollte keine neue Regel und kein neues Gesetz erlassen werden dürfen, ohne einen Verfalls- oder Befristungszeitpunkt zu benennen. Finanzordnungspolitik sollte mit Verfalls-Klauseln versehen sein.

Zwar wird man – was immer die Konjunkturforschung uns weismachen möchte – nicht verlässlich voraussagen können, wie angesichts der vielfältigen anderen Faktoren beispielsweise eine Ausweitung der Ausgaben für öffentliche Investitionsprojekte das Bruttosozialprodukt beeinflussen wird. Man kann aber immerhin verlangen, dass im einzelnen spezifiziert wird, wie schnell eine Maßnahme tatsächlich in praktischer Politik ausgabenwirksam werden kann. Wer mit der Dringlichkeit einer Notsituation argumentiert, um ein Projekt durchzusetzen, zugleich aber damit rechnen muss, dass das Projekt erst mit dem Verzug von Jahren wirksam wird, der ist unglaubwürdig. Die einzige Auswirkung werden eine unzeitige Expansion von Haushaltsdefiziten und die Unterminierung einer soliden Finanzpolitik sein. Beweislasten für die Fristigkeiten müssen richtig verteilt werden (und die Bundesregierung scheint aktuell auf dem Weg dazu zu sein).

4. Folge nicht der Menge nach, wenn sie falsches tut!?

In der Entstehung der Finanzkrise hat die Überflutung der Wirtschaft mit Liquidität großen Schaden vor allem auch deshalb angerichtet, weil alle jene Akteure, die sich beispielsweise an Fundamentalwerten orientierten, im Galopp der allgemeinen Herde über lange Zeiten nur wie unfähige Zauderer aussehen konnten. Schließlich werden ja nicht nur die Politiker, sondern auch die Manager generell daran gemessen, was sie tun und nicht daran, was sie unterlassen. Ein Manager, der in sichere Finanzanlagen investiert, handelt aus Sicht externer Beobachter nicht, sondern er unterlässt es, in riskantere aber auch gewinnträchtigere Projekte zu investieren, wenn einmal die Herde galoppiert.

Die meisten Akteure werden auch in Zukunft glauben, den Markt und andere schlagen zu können. Wie der Naturdoktor in den Urin, so werden sie weiter in den Kaffeesatz verschiedenster „Charts“ und dergleichen schauen. Sie werden das häufig auch deshalb tun, weil sie aufgrund asymmetrischer Informationsbedingungen wenig fundierten Einblick in bestimmte Operationen wirtschaftlicher Akteure gewinnen können. Den unerwünschten Effekten solcher Unkenntnis durch bessere und mehr Informationen für die Selbststeuerung von Märkten entgegenzuwirken, sollte ein Hauptziel der Finanzordnungspolitik sein, während auf Vorschriften, die das wirtschaftliche Handeln direkt begrenzen, in der Regel zu verzichten ist.

Dem Herdeverhalten dadurch entgegenwirken zu wollen, dass man die Herde insgesamt einsperrt, ist demgegenüber vermutlich keine gute Idee. Wenn wir eine erfolgreiche Wirtschaft insbesondere auch im Finanzbereich haben wollen, dann müssen wir die Herdentiere ihren Weg selbst suchen lassen. Spezifische externe Verhaltensvorgaben werden sich am Ende negativ auswirken. Es könnte aber durchaus einen gewissen Raum dafür geben, die Selbststeuerungskräfte von Herden zu verbessern. Staaten haben beispielsweise recht gute Möglichkeiten, den auf ihrem Territorium tätigen Finanzinstitutionen die Bereitstellung bestimmter Informationen abzuverlangen. Sie könnten etwa durchaus eigene mit den privaten konkurrierende Ratingagenturen betreiben. Sie könnten auch eine Institution gründen, die Erfolgsmaße für die Qualität von ratings und deren Prognosegenauigkeit veröffentlicht (wie viele von den gut bewerteten Firmen, waren historisch nach fünf, zehn etc, Jahren noch am Markt?).

Auch die Wirtschaftswissenschaft wäre gut beraten, sich neben ordnungspolitischen Vorschlägen intensiver mit der Frage einer Neuentwicklung von Indikatoren und Messinstrumenten auseinander zusetzen. Man muss womöglich nicht vorschreiben, was einzelne Akteure tun sollen, um ihr Verhalten wirksam zu kontrollieren. Man muss dafür sorgen, dass sie haften – die Schwierigkeiten, die Haftungsregeln wirklich durchzusetzen zeigen sich gerade im Augenblick –, aber man sollte auch daran denken, die Veröffentlichungspflichten etwa über die bilanziellen Vorschriften zur Rechnungslegung hinaus auszudehnen (neue Regelungen natürlich sämtlich mit Verfallsdatum!). Man muss für Transparenz sorgen, die auch die Herdenbewegungen für die Einzelakteure sichtbarer macht. Kurz: Mehr Selbstkontrolle des Herdenverhaltens durch bessere Rückkopplungseffekte aufgrund von breiterer Information über Finanz- und Risikoindikatoren aber kein Hirte, der die Herde lenkt!

5. Bessere Politik?

Zwar bleibt festzuhalten, dass die Informationen darüber, dass beispielsweise in Amerika die Immobilienpreise geradezu atemberaubend anstiegen, allgemein verfügbar waren. Es hat auch nicht an Stimmen gefehlt, die vor einer harten Landung in diesem Bereich warnten. Dennoch waren sich alle diese Stimmen nicht sicher darüber, wann denn die harte Landung erfolgen würde. Genaue Kennziffern etwa über das Ausmaß der Beleihung und die Breite der Vorgänge wären gewiss geeignet gewesen, einige Warnlampen angehen zu lassen.

Die Geldpolitik hat die Unsicherheit darüber, wann uns die „Fundamentals“ einholen, verstärkt, weil sie der Wirkung der Rückkopplungskräfte in den Arm gefallen ist. Solange es staatliches Geld gibt, hat man es mit einem durch und durch politisierten Bereich zu tun. Angesichts der Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit liegt es nahe, nach besseren ordnungspolitischen Regeln zu suchen. Auch die Ordnungspolitik bleibt aber Politik mit allen Risiken, die mit Politik einhergehen. Das custodes Problem – oder „wer kontrolliert die Kontrolleure?“ – ist zwar hierarchisch nicht gänzlich lösbar. Es gibt aber Gleichgewichte, in denen die dezentral entscheidenden Individuen selbst auf der Basis besserer Informationen wirksame Kontrolle ausüben können. Es geht darum, diese informationellen Bedingungen von Märkten durch rechtliche Regeln zu verbessern und die Risikopositionen transparenter zu machen. Den vorsichtigeren Umgang mit dem Risiko werden die Märkte bei Transparenz der Risiken schon selbst einfordern. Transparent machen muss man sie aber – und sei es durch staatliche Regulierungen.

Hartmut Kliemt
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