Die Welt erlebt einen tiefgreifenden Umbruch. Die liberale Wirtschaftsordnung scheint der Vergangenheit anzugehören. Der Staat wird in vielen Bereichen als der geeignete Problemlöser gesehen. Die Marktwirtschaft steht unter Druck.
Nach einem enttäuschenden vergangenen Jahr erlebt Europa nun wieder einen verhaltenen Aufschwung. Die zyklische Erholung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Welt in einem tiefgreifenden Umbruch befindet, der nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaft als Ganze vor große Herausforderungen stellt. Auffällig ist dabei aus Sicht des Volkswirts, dass dem Markt als Lösungsinstanz in Deutschland und in Europa immer weniger vertraut wird. Stattdessen schlägt die Stunde der Politik. Das ist in manchen Fällen sachgerecht, weil Problemlagen zu bewältigen sind, die nicht vom Markt allein gelöst werden können. In vielen Fällen ist die Politik allerdings auch Teil der Probleme.
Zu den Themen, bei denen der Staat eine aktivere Rolle spielen muss, gehört die Landesverteidigung. Sie war in Europa in den letzten Jahren vielfach vernachlässigt worden. Das ist eine bemerkenswerte Form des Staatsversagens, denn die Landesverteidigung zählt zu den wenigen unumstrittenen Kernaufgaben des Staates. Trotz einer Staatsquote von fast 50%, die den Anteil der staatlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt beziffert, ist es der deutschen Politik nicht gelungen, eine ihrer Kernaufgaben zu erfüllen. Zu Beginn des Russland-Ukraine-Krieges haben ranghohe Militärs deutlich gesagt, dass die Bundeswehr nicht einsatzfähig ist. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nun jedem verdeutlicht, dass eine einsatzfähige Armee unentbehrlich ist, um die Gesellschaft gegen Gefahren von außen zu verteidigen. Europa hatte nach dem „Kalten Krieg“ die Verteidigungsausgaben deutlich gesenkt und damit die sogenannte Friedensdividende eingefahren. In den 1980er Jahren, also vor der Ost-West-Entspannung, hatte beispielswiese Deutschland zwischen 2,5 und 3% seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) für das Militär ausgegeben. Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ reduzierte Deutschland die Militärausgaben schnell auf deutlich unter 2%. Ab der Jahrtausendwende schwankten die Werte bis zum Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges nur noch zwischen 1,0 und 1,4% des BIP. Deutschland konnte, wie auch andere Länder in Europa, das eingesparte Geld für nicht-militärische Zwecke ausgeben. Zudem wurden personelle Ressourcen frei, was positiv für das gesamtwirtschaftliche Potenzial war.
Die Einsparungen hatten allerdings gleich zwei Haken: Die Verteidigungsfähigkeit litt massiv und innerhalb der NATO zogen einige Länder den Unmut der USA auf sich. Die NATO-Mitgliedsländer sollen zwei Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgeben. Während die USA im Jahr 2022 rund 3,5% ihres BIP ausgaben, lagen Frankreich mit 1,9%, Italien mit 1,7%, die Niederlande mit 1,6% und Deutschland mit 1,4% unter dem 2%-Ziel. Die USA drängten die Länder, deren Verteidigungsausgaben unter dem Zielwert lagen, schon länger zu einer Aufstockung der Militärausgaben. Doch erst Ex-Präsident Donald Trump machte daraus während seiner Amtszeit ein Politikum und drohte den Partnerstaaten. Vor einigen Monaten verstärkte er seine Drohungen noch weiter und erhöht damit den Handlungsdruck für die NATO-Partner, denn die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus ist hoch. Die Länder Europas müssen vorsichtshalber wieder aus eigener Kraft verteidigungsfähig werden, was in diesen Tagen beim NATO-Gipfel auch deutlich wurde. Das erfordert personelle, organisatorische und finanzielle Ressourcen, die über das 2%-Ziel hinausgehen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hält eine Aufstockung auf 3,0% oder gar 3,5% für denkbar.
Allein die Sicherheitslage erfordert also schon einen tiefgreifenden Wandel. Hinzu kommt das zweite große Thema unserer Zeit: der Klimawandel. Die Europäische Union hat beschlossen, sich mit hohem Tempo zu dekarbonisieren. Die Nettotreibhausgasemissionen sollen bis 2030 um mindestens 55% gegenüber dem Stand von 1990 gesenkt werden. Bis 2050 soll Europa klimaneutral sein. Das Ziel ist damit gesetzt. Es kann aber auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlichen Instrumenten erreicht werden. Diese Instrumente haben sehr unterschiedlichen Einfluss auf das Leben der Bürger. Es gibt marktwirtschaftliche Lösungen, mit denen die Dekarbonisierung mittels ökologisch ehrlicher Preise vergleichsweise geräuschlos vollzogen werden kann. Es gibt aber auch planwirtschaftliche Ansätze, die auf eine Detailsteuerung setzen und mit denen das Verhalten der Bürger kleinteilig gelenkt werden soll.
Aus ökonomischer Sicht ist ein umfassendes Emissionshandelssystem, bei dem politisch eine Obergrenze für Emissionen festgelegt wird, klar zu favorisieren. Mit einem solchen Handelssystem kann Klimaschutz zu den geringstmöglichen gesellschaftlichen Kosten realisiert werden, weil die Emissionen in den Unternehmen bzw. Bereichen eingespart werden, wo die Vermeidungskosten am niedrigsten sind. Die EU setzt dieses Instrument mit dem EU-Emissionshandelssystem (EU-ETS) seit 2005 bereits in einigen Sektoren erfolgreich ein. Vom Emissionshandel werden 9.000 Anlagen der Energiewirtschaft und der energieintensiven Industrie erfasst. Zudem ist seit 2012 der innereuropäische Luftverkehr eingebunden und ab dem laufenden Jahr der Seeverkehr. Ab 2027 wird das Handelssystem auf weitere Sektoren ausgeweitet. Gleichzeitig setzen die EU und einzelne Mitgliedsländer, insbesondere Deutschland, auf kostspielige Feinsteuerung. Dadurch werden die Bürger nicht nur belastet, sondern hinsichtlich ihrer Lebensplanung auch erheblich verunsichert. Die ineffiziente Klimapolitik ist eine erhebliche Belastung für Wirtschaft und Gesellschaft. Um es deutlich zu sagen: Die Politik sollte sich darauf beschränken, den klimapolitischen Rahmen zu setzen (Emissionsziele und Zertifikatehandel; CO2-Bepreisung), den Rest regelt am besten der Markt.
Sowohl der Ukraine-Krieg als auch die Corona-Pandemie haben die Schattenseiten der globalisierten Wirtschaft aufgezeigt. Internationale Arbeitsteilung, die vor allem von Kostenoptimierung getrieben ist, schafft Abhängigkeiten und Fragilität. Beides wurde zunächst von der Pandemie und anschließend von der Energiekrise offengelegt. Als Reaktion darauf wurde und wird die Globalisierung ein Stück zurückgedreht. Begriffe wie „Nearshoring“ und „Friendshoring“ machen seit einiger Zeit die Runde. Politik und Wirtschaft stellen sich neu auf. Das ist im Sinne von Versorgungssicherheit und Krisenresistenz richtig. Wie schon nach der globalen Finanzkrise gehen die Schüsse aber manches Mal über das Ziel hinaus. Der größte Kollateralschaden ist dabei der Vertrauensverlust in die Marktwirtschaft als solche.
Die Marktwirtschaft ist das Fundament des Wohlstandes und der individuellen Freiheit in den westlichen Volkswirtschaften. Vielen wirtschaftspolitischen Akteuren scheint das aber nicht bewusst zu sein, wenn sie im Zweifel der staatlichen Lenkung mehr vertrauen als der Steuerung durch Märkte. Dabei geht es auch um Wachstumschancen, die nicht genutzt werden – also um materiellen Wohlstand. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: Märkte richten sich nach den Wünschen der Verbraucher beziehungsweise Bürger. Sie liefern maßgeschneiderte Lösungen für die tatsächlichen Wünsche der Bürger. Die Politik kann dagegen nur kollektive „One-size-fits-all“-Lösungen für die mutmaßlichen Wünsche der Bürger anbieten, mit denen niemand so richtig zufrieden ist. Deshalb gilt: Je mehr der Staat in Bereichen aktiv wird, in denen Märkte die besseren Lösungen liefern können, umso größer wird der Unmut in der Bevölkerung. Die gesellschaftlichen Spannungen, die wir seit einigen Jahren in vielen Ländern beobachten können, dürften zu einem guten Teil darauf zurückzuführen sein.
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