Vertreter der „Caring Economics“ verkündeten auf internationalen Foren wie dem Weltwirtschaftsforum Davos, auf Tagungen des Mind and Life Institutes unter Vorsitz des Dalai Lama oder auf den Global Solution Summits, der homo oeconomicus oder der kühl rechnende und vom Eigeninteresse geleitete Mensch als Leitbilder der ökonomischen Wissenschaft seien „out“. Vielmehr habe der Mensch auch Mitgefühl und sei zu Empathie fähig. „In“ seien nach ihrem „neuen ökonomischen Denken“ demnach die „Caring Economics“ oder mehr „Mitgefühl in der Wirtschaft“ – so der Titel eines Buches, das von der Neurowissenschaftlerin Tania Singer und dem Chemiewissenschaftler und buddhistischen Mönch Matthieu Ricard herausgegeben und von diesen als „bahnbrechender Forschungsbericht“ qualifiziert worden ist. Tania Singer hat den neuen Forschungszweig namens „Neuroeconomics“, der verhaltensökonomische Studien mit neurologischen und psychologischen verknüpft, zusammen mit Dennis Snower im Rahmen eines vom Institute of New Economic Thinking finanzierten Projektes ins Leben gerufen.
Nichts Neues im Staate Dänemark
Die Einsichten der Caring Economics, wonach Mitgefühl im menschlichen Zusammenleben bedeutsam ist, sind keinesfalls neu oder gar bahnbrechend. Vielmehr wandeln die genannten Personen als Epigonen auf den Pfaden von Adam Smith. Im Zentrum der Ordnungsidee von Adam Smith steht der Mensch, dem die Selbstliebe angeboren ist. Sie ist also eine unumstößliche Tatsache oder ein Axiom, denn sie ist die natürliche Folge der Subjekt-Objekt-Trennung, durch die sich der Mensch als Individuum fühlt. Der siamesische Zwilling der Selbstliebe ist laut Smith das Mitgefühl. Es ist nicht selbstbezogen, sondern altruistisch motiviert. Das Gefühl der Selbstliebe wird zum Selbstinteresse, wenn es durch die Vernunft gefiltert wird und durch Schranken kontrolliert wird. Das Selbstinteresse ist Motiv für Leistungswillen und die Aktivität der Menschen:
Wenn das Selbstinteresse in Schach gehalten wird, dann ist es moralisch positiv zu beurteilen, weil es die Evolution vorantreibt. Selbstbezogene Aktivität ist unter den nachfolgend dargestellten Bedingungen automatisch auch im Sinne der Allgemeinheit. Lesen wir, was der renommierte Adam Smith Interpret Horst Claus Recktenwald zu den Schranken für das Selbstinteresse schreibt: „Zu den vier kontrollierenden Kräften oder Schranken gehören: a) Das Mitgefühl (fellow-feeling, sympathy) auch als Sinn für Gerechtigkeit, b) freiwillige Regeln der Ethik, c) positive Gesetze, deren Beachtung einen Staat (mit Zwangsgewalt) erfordert und d) Konkurrenz oder Rivalität. Die ethische Anlage des Mitfühlens, also die Fähigkeit des Nachempfindens fremder Gefühle, und die menschliche Disposition, sich die ‚Zustimmung seiner Mitmenschen‘ zu sichern, wenn er ‚nach den Quellen der Freude sucht und Schmerz vermeiden‘ will, befähigen den Menschen, unparteiisch die Verdienste und Nachteile seines Handelns zu beurteilen. Als (angenommener oder wirklicher) neutraler Beobachter, bei Kant ist es das Gewissen, erkennt er das Übermaß oder den Mangel an Eigeninteresse, und er hilft so mit, das über- oder unterentwickelte Selbstinteresse zu disziplinieren. Doch scheint diese individuelle Barriere zu schwach zu sein, um das Eigeninteresse so einzuschränken, dass es nicht zur Selbstsucht oder zum Desinteresse (Faulheit, Hass auf Arbeit) wird. Das zu erreichen ist nicht immer einfach, zumal die menschliche Eigenliebe eine stärkere Leidenschaft ist als Mitgefühl oder gar Wohlwollen gegenüber den anderen. Ein weiterer Mechanismus zur Sicherung der Ordnung im Gemeinwesen gegenüber der ‚Arroganz der Eigenliebe‘ sind allgemeine Regeln der Ethik oder Maßstäbe akzeptierten Verhaltens, die ‚…aufgrund der Erfahrung gebildet werden, dass alles Handeln einer bestimmten Art oder auf eine bestimmte Weise geprägt, anerkannt oder abgelehnt wird‘. Natürlich können sich diese Regeln als Sitten oder Gebräuche nach Ort und Zeit ändern. Je kleiner die Gruppe ist, in der er lebt, umso stärker werden diese Regeln beachtet“ (Recktenwald 1985, S. 114 ff.).
Mitgefühl ist die Fähigkeit des Menschen, sich über das Wohlergehen des Mitmenschen zu freuen und persönliches Unbehagen über das Leid des Nächsten zu verspüren. Würden die Menschen im Paradies leben, wäre das Mitgefühl eine hinreichende Basis für harmonisches Zusammenleben. Da aber auf der Erde Knappheit herrscht, müssen die Menschen um ihre Existenz kämpfen. Als Korrektiv kann Mitgefühl nur dort wirksam sein, wo existenzielle Not überwunden und eine persönliche Beziehung zwischen Menschen besteht. So gesehen ist ein effizientes Wirtschaftssystem das Fundament, auf dem sich ein mitfühlendes Gemeinwesen entwickeln kann. Aber auch in Staaten, in denen es keine elementare wirtschaftliche Not gibt, reicht das Korrektiv des Mitgefühls nicht immer aus, um einen fairen Existenzkampf zu gewährleisten – zumal in einer Welt unvollkommener Menschen, die nicht immer frei von niedrigen Beweggründen sind. Deshalb muss für weitere korrigierende Einflüsse (ethische Normen, Gesetze und Wettbewerb) gesorgt sein.
Ökonomisches Handeln kann auch altruistisch sein
Die „Caring-Ökonomen“ begehen außerdem den Fehler, dass sie ökonomisches Handeln mit eigennützigem Verhalten gleichsetzen und suggerieren, das Gegensatzpaar dazu sei „altruistisch“. Ökonomisch kann aber auch handeln, wer anderen Gutes tut. Wer behauptet, der „homo oeconomicus“ sei ein falsches Konstrukt der Ökonomen, weil es die altruistische Seite des Menschen nicht abbilde, der irrt. Wenn durch Umverteilung eines Gutes an Person B der Nutzen der gebenden Person A steigt, dann lässt sich dieser altruistische Vorgang ohne weiteres in eine neoklassische Nutzenfunktion einbauen. Die Modelle von Egon Sohmen (1976, S. 253 ff.) in der ökonomischen Wohlfahrtstheorie zeigen, dass der „homo oeconomicus“ durchaus ein dehnbares Konzept ist, in das sich Altruismus integrieren lässt. Die Vokabel „ökonomisch“ darf also nicht mit „eigennützig“, sondern muss vielmehr mit dem Wort „rational“ gleichgesetzt werden. Das korrekte Gegensatzpaar dazu ist „irrational“.
Soll der Bäcker sein Brot verschenken?
Kein Zitat von Adam Smith ist auf so vehementen Widerspruch seitens der Caring-Ökonomen gestossen wie das folgende: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgeres, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“ Die Kritiker scheinen sich nicht daran zu stören, dass in der Realität diese Berufsgruppen ihre Produkte verkaufen statt verschenken. Man fragt sich also, wie realitätsnah ihre angeblich bahnbrechende Erkenntnis ist. Die „Caring-Ökonomen“ sind auf dem Holzweg, wenn sie bedauern, dass am Markt Güter verkauft statt verschenkt werden und wenn sie dem Markt deshalb ethische Unterlegenheit oder einen Mangel vorwerfen. Wer so argumentiert, übersieht, dass man zwischen Einkommensentstehung und Verwendung der Markterlöse differenzieren muss. Der Marktmechanismus hat effiziente Ergebnisse zu liefern. Wie die Erlöse, nachdem sie entstanden sind, anschließend verwendet oder verteilt werden, bestimmt dann die zum Markt komplementäre Ethik. Wenn im Urteil von „Caring-Ökonomen“ zu wenig Ressourcen für soziale Zwecke abgezweigt werden, dann ist das aber kein ökonomisches, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Problem. Die Mängel liegen dann bei der Ethik oder Erziehung, nicht beim Markt. Sie sind bei der Einkommensverwendung zu verorten, nicht bei der Einkommensentstehung.
Dass am Markt in der Regel keine Güter verschenkt werden, liegt an der dort herrschenden Anonymität oder Distanz zwischen Menschen. Wenn engerer Kontakt zwischen den Marktpartnern besteht und die Distanz zwischen Menschen aufgehoben ist, dann zählt nicht mehr ausschließlich das Selbstinteresse und es ist dann auch in der Wirtschaft altruistisches Verhalten möglich. Adam Smith hat niemals geleugnet, dass der Bäcker auch mal ein Brot verschenkt, wenn ihm danach ist oder dass der Händler einem Bekannten einen Sonderbonus einräumt. Aber sowohl Adam Smith als auch sein Bäcker hätten sich wohl vehement gegen den moralischen Imperativ der „Caring-Ökonomen“, das Brot zu verschenken, statt es zu verkaufen, gewehrt.
Dem Tausch am Markt, der wegen der Anonymität die Regel ist, haftet nichts Unmoralisches an, wie Sozialromantiker glauben machen wollen. Im Gegenteil. Die Kritiker von Smith hätten u.a. bei Herbert Giersch nachlesen können, dass die Marktwirtschaft auch deshalb effizient sein muss, damit möglichst viele Ressourcen für humanitäre Zwecke geschaffen werden und sich Mitgefühl entfalten kann. Menschlichkeit ist „ so knapp und im Privatleben so wertvoll, dass wir sie im Bereich der Wirtschaft, wo sie eher schadet, nicht verschwenden sollten. In der Tat: Je spitzer der Bleistift, mit dem hier gerechnet wird, umso mehr bleibt übrig, für das, was – jetzt oder später – die Familie, die Sekte, die Kirche, die Caritas, die Dritte Welt, allgemein: die Nächsten und Fernstenliebe verlangen“ (Giersch 1986, S. 15). In der Wirtschaft ist also Effizienz angesagt, damit es im Zusammenleben der Menschen möglichst sozial und human zugehen kann. Innere Ressourcen oder ideelle Werte stehen keinesfalls grenzenlos zur Verfügung, wie manche Utopisten meinen. Auch Mitgefühl muss erst erwirtschaftet werden. So stellt sich für einen hungernden Bettler die Option, die milden Gaben wieder zu verschenken, erst gar nicht, während sich reichere Länder eine Fülle sozialer Wohltaten leisten können. Die vielfältigen Aktivitäten von NGOs und „Social Entrepreneurs“ zeigen dies deutlich.
Die Kritik der „Caring-Ökonomen“ am Eigeninteresse der Menschen ist fehl am Platze. Denn es wird übersehen, dass das durch vier Schranken disziplinierte Eigeninteresse der Motor des technischen Fortschritts ist, also in dynamischer Sicht die Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft und somit auch die Verteilungsspielräume erhöht. Wo Wettbewerb herrscht, ist also das natürliche Eigeninteresse des Einzelnen für alle Mitglieder eines Gemeinwesens von Vorteil – auch für die Minder-Begabten. Der französische Ökonom Fréderic Bastiat hat es treffend formuliert: „Eigeninteresse und Wettbewerb mag man einzeln betrachtet bekritteln. In ihrem Zusammenspiel begründen sie aber erst die Harmonie einer Gesellschaft“. Sozialromantische Weltverbesserer mögen es zwar als ethischen Schönheitsfehler des Marktes empfinden, dass sie ihr Essen und Trinken in der Regel dem Eigeninteresse und nicht dem Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers verdanken. Dabei übersehen sie aber, dass die Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems gerade auf diesem vermeintlichen Schönheitsfehler beruht. Es wäre der Bekämpfung von Armut und der Schaffung von Wohlstand abträglich, wenn im Erwerbsleben die Nächstenliebe das Eigeninteresse von seinem Platz verdrängen würde. Wenn alle Marktteilnehmer die von ihnen angebotenen Leistungen verschenken, statt verkaufen würden, könnte nämlich kein Unternehmen überleben, die Konsumenten müssten verhungern und die Arbeitskräfte würden verelenden, wenn sie aus Mitleid mit verarmten Unternehmern keinen Lohn mehr annehmen und aus Mitleid mit den verhungerten Konsumenten ihre Ersparnisse verschenken sollten.
Wer Schenken als ethisch höherwertig einstuft als Tauschen und wer dies zu einem moralischen Imperativ erklärt, der hat nicht unbedingt die Moral auf seiner Seite. Denn er teilt einseitig dem einen Arbeitsleid, Konsumverzicht, Kosten und Risiko zu, dem anderen die Früchte der Entbehrung. Es zeugt sogar von fehlender und doppelbödiger Moral, wenn er sich selbst die Rolle dieses anderen zuteilt und dem einen, der dieser einseitigen Verteilung nichts abgewinnen kann, Hartherzigkeit und Egoismus vorwirft. Wer über gerechte Güterverteilungen philosophiert, der sollte auch die weniger funkelnde Rückseite der Gerechtigkeitsmedaille in sein Urteil einbeziehen. Und wer dies tut, der kann dem Tausch am Markt – also der Verknüpfung von Geben und Nehmen – wohl kaum ethische Minderwertigkeit vorwerfen.
Freilich können die Autoren auch dem biblischen Spruch „Geben ist seliger als Nehmen“ etwas abgewinnen. Kein ernst zu nehmender Ökonom plädiert für eine Ordnung, in der menschliches Mitgefühl und Wohltätigkeit keine Rolle spielen. In der natürlich gewachsenen Gruppe wie der Familie, der Nachbarschaft, dem Freundeskreis, dem Sportverein und dem Wohlfahrtsverband lässt der Mensch sein Herz regieren und ein klein wenig natürlich auch seinen Verstand. Denn zu viel Hilfe führt in die Abhängigkeit und Lethargie. Der Mensch ist seiner Doppel-Natur nach ein soziales Wesen, das menschliche Kontakte braucht. Diese Binsenweisheit hat freilich nicht erst die Verhaltensökonomie und die Neurowissenschaft entdeckt. Sie war in der Gedankenwelt von Adam Smith bereits fest verankert. Allerdings baute Smith auf Freiwilligkeit, während die „Caring-Ökonomen“ den moralischen Zeigefinger erheben und damit einen kollektiven Zwang beschwören.
Langfristig herrscht ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen
Die „Caring-Ökonomen“ übersehen ferner, dass Geschenke oder Hilfen meist zweiseitig sind oder erwidert werden, wenn man einen langfristigen Zeithorizont zugrunde legt. Denn man trifft sich immer zweimal im Leben. Wer anderen Gutes tut, der kann damit rechnen, dass sich der Altruismus irgendwann wieder „auszahlt“ und dass man in Notsituationen selbst mit Hilfe rechnen kann. Auf lange Sicht ist also nicht die Geschenkwirtschaft evident, die die „Caring-Ökonomen“ verherrlichen, sondern das gegenseitige Geben und Nehmen, der Tausch und das Äquivalenzprinzip. Und es ist müßig, darüber zu philosophieren, ob Wohltaten nun altruistisch oder letztlich doch selbstzwecklich motiviert sind.
Fazit
So richtig die Erkenntnis der „Caring-Ökonomen“ ist, wonach der Mensch auch zu Mitgefühl und Altruismus fähig ist, so wenig handelt es sich dabei um den Stein der Weisen oder das Ei des Kolumbus, sondern um eine Trivialität, die jeder in seinem engeren menschlichen Umfeld beobachten kann. Schon vor mehr als 250 Jahren, als deutlich härtere Zeiten geherrscht haben, hat sich Adam Smith u.a. im ersten Kapitel seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ ausführlich zum Mitgefühl geäußert. Und so richtig die Einsicht der „Caring-Ökonomen“ ist, so richtig ist es auch, dass am Markt Güter verkauft statt verschenkt werden. Es ist den Kritikern keinesfalls gelungen, Adam Smith`s These, dass wir unsere Nahrung dem Eigeninteresse statt dem Wohlwollen von Produzenten verdanken, zu widerlegen, auch wenn sie solche unwahren Behauptungen auf internationalen Kongressen vortragen.
LITERATURVERZEICHNIS
Bastiat, F.(1880). Der Staat. In: K. Braun-Wiesbaden (Hg.). Friederich Bastiat. Eine Auswahl aus seinen Werken. S. 1-16
Giersch, H. (1986). Die Ethik der Wirtschaftsfreiheit, in: R. Vaubel und H. D. Barbier (Hg), Handbuch der Marktwirtschaft. Pfullingen.
Recktenwald, H. C. (1985). Ethik, Wirtschaft und Staat. Darmstadt.
Singer, T. und M. Ricard (2019). Die Macht der Fürsorge. Für eine gemeinsame Zukunft. Wissenschaft und Buddhismus im Dialog mit dem Dalai Lama. München.
Singer, T. und M. Ricard (2015). Mitgefühl in der Wirtschaft. Ein bahnbrechender Forschungsbericht. München.
Singer, T. und M. Ricard (2015).Caring Economics. Conversations on Altruism and Compassion, Between Scientists, Economists, and the Dalai Lama. Picador.
Smith, A. (2018). Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übersetzt von H. C. Recktenwald. München.
Smith, A. und W. Eckstein(1977). Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg.
Sohmen, E. (1976). Allokationstheorie und Wirtschaftspolitik. Tübingen.
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