Gastbeitrag:
Mindestlohn in der Pflege – Der Schatten wächst

Seit August 2010 gilt in der Pflegebranche ein Mindestlohn von 8,50 €/Std. in Westdeutschland und 7,50 €/Std. in Ostdeutschland. Dies erstaunt bei oberflächlicher Betrachtung umso mehr, als dass gerade in der Pflege ein ausgesprochener Mangel an Arbeitkräften besteht und der Pflegenotstand vielerorts tägliche Realität darstellt.

Bekanntermaßen erhält der Arbeitnehmer, im Fall der Pflege besser: die Arbeitnehmerin, den Lohn nicht vom Unternehmen, sondern von den bedienten Kunden. Anders ausgedrückt: Im Falle eines wettbewerblichen Faktor- bzw. Gütermarktes muss der Lohnsatz dem Erlös aus der Wertschöpfung seiner Anstellung entsprechen. Steigt dieser, so kommt es c.p. zu Entlassungen.

Beachtenswert ist, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit größer sein wird als der Rückgang der Beschäftigung infolge von Entlassungen. Durch den höheren Lohn werden potenzielle Erwerbspersonen angelockt, deren Opportunitätskosten durch Familien- und Erziehungstätigkeiten sowie Freizeit bislang den niedrigen Marktlohnsatz überstiegen. Zugleich wird das politische Ziel der Schaffung entsprechender Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor konterkariert.

Eine Ausnahme bilden einige Regionen Ostdeutschlands, in denen aufgrund von mangelnder räumlicher Flexibilität der zumeist weiblichen Pflegekräfte eine Abhängigkeit von einigen wenigen Arbeitgebern entsteht. Die damit verbundene Monopson-Marktmacht kann zur Lohndrückerei und zu einer gegenüber dem Wettbewerbsniveau niedrigeren Beschäftigung führen. Für diesen besonderen Fall kann ein wettbewerblich angemessener Mindestlohn die Beschäftigung auf das wohlfahrtsoptimale Niveau erhöhen. Um diesen Effekt in allen betroffenen Regionen großflächig zu erzeugen, wäre allerdings ein regional differenzierter Mindestlohn Voraussetzung, der den jeweiligen Marktbesonderheiten Rechnung trägt.

Zuflucht in die Illegalität?

Bislang genutzte legale Gelegenheiten, um Tarifverträge oder individuelle Bestandsgarantien durch Ausgründungen und Re-Leasing von Arbeitskräften auszuhebeln, werden durch die Mindestlohn-Verordnung weitgehend wirkungslos. Allerdings belässt die Regelung die Möglichkeit, bisher geleistete Sonderzahlungen auf Jahresbasis (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld) sowie Schichtzulagen und Leistungsprämien in den Bruttostundenlohn einzurechnen. In der Grauzone der Legalität wäre auch die Kooperation von Einrichtungsträgern insbesondere im ambulanten Bereich denkbar, um im Verbund (Schein-)Selbständige zu niedrigeren Tarifen zu beschäftigen. Sodann wäre die Nichtberücksichtigung von Fahrtzeiten eine Umgehungsmöglichkeit der Mindestlohnregelung. Gleiches gilt für die Einrechnung so genannter Fahrgelder, die für dienstlich genutzte private Fahrzeuge gezahlt werden.

Illegale Praktiken sind das letzte Druckventil, durch das Anpassungen – häufig einvernehmlich zwischen den Beteiligten – vorgenommen werden. Staatliche Kontrollen belegen ein hohes Maß an Verstößen gegen Mindestlohn-Vorschriften aus der Bau- und der Gebäudereinigerbranche. In der Baubranche leitete der Zoll 2009 bei der Überprüfung von 14.000 Arbeitgebern mit 170.000 Beschäftigten 1.500 Bußgeldverfahren ein. Bei den Gebäudereinigern erhielten von 2.000 überprüften Unternehmen mit 20.000 Arbeitnehmer/innen 200 Arbeitgeber einen entsprechenden Bescheid. Die kleinbetriebliche Struktur der ambulanten Pflege wird die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Regeln zusätzlich erschweren.

Schattenpflege prosperiert

Analytisch lässt sich das Zusammenspiel von regulärem und irregulärem Arbeitsmarkt in einen Zwei-Märkte-Modell darstellen. Bereits in der Ausgangssituation ist der Lohnsatz im irregulären Markt geringer, da mit der illegalen Beschäftigung zugleich eine Hinterziehung von Sozialbeiträgen und Steuern verbunden ist. Mit der Einführung eines Mindestlohns kommt es im regulären Sektor c.p. zu Entlassungen. Die freigesetzten Pflegekräfte drängen zum Teil auf den irregulären Arbeitsmarkt und führen dort zu einer Verschiebung des Arbeitsangebotes. Im Ergebnis ist die Beschäftigung im irregulären Arbeitsmarkt gestiegen und der Lohnsatz gefallen. Die soziale Diskrepanz beider Beschäftigungsgruppen hat sich durch den Mindestlohn verschärft.

Anhand einer Fallkonstellation sollen die Anreize zu einer irregulären ambulanten Versorgung eines Pflegebedürftigen in Stufe III im eigenen Haushalt gegenüber einer regulären Versorgung deutlich gemacht werden. Für den ambulanten Pflegedienst werden Pflegesachleistungen in Höhe von 1.510 € durch die Soziale Pflegeversicherung (SPV) übernommen. Damit sind die Kosten für die Grundpflege sowie die unmittelbar notwendige hauswirtschaftliche Versorgung mit drei Einsätzen pro Wochentag und einem Einsatz pro Wochenendtag weitgehend abgedeckt. Ein mobiles Hausnotrufsystem steht für weitere Einsätze zur Verfügung, die mit 100-200 € extra berechnet werden. Zusätzlich sind 160-200 Betreuungsstunden pro Monat notwendig, die bei einem Mindestlohn von 8,50 €/Std. einen Betrag von 1.360-1.700 € monatlich ausmachen. Daneben übernehmen die Angehörigen, bei Verhinderung die Nachbarn, abends sowie am Wochenende die unentgeltliche Betreuung. Neben den gesellschaftlich zu tragenden Kosten von 1.510 € fallen zusätzlich privat zu übernehmende Kosten von 1.500-1.800 € pro Monat an.

Demgegenüber würde eine illegal beschäftigte polnische Pflegehelferin 800-1200 €/Monat erhalten, zuzüglich der Kosten von 300 € für Kost und Logis. Damit ist zugleich eine zeitliche Rund-um-Betreuung gewährleistet, die zwar fachlich ggf. weniger qualifiziert, dafür aber menschlich intensiver durchgeführt wird. Zudem kann neben dem nicht unerheblichen organisatorischen Aufwand die Betreuungsarbeit der Verwandten entfallen. Rechnet man die durch die SPV gewährte Geldleistung in Höhe von 685 € ab, so verbleiben dem Pflegebedürftigen privat zu zahlende Kosten von netto 615 €. Gegenüber der regulären Variante entsteht ein Kostenvorteil von 60-65 %. Darüber hinaus kommt bei der regulären Pflege in dieser Fallkonstellation aufgrund der permanenten Hilfeabrufbereitschaft vielfach nur die Aufnahme in ein Pflegeheim mit einem Selbstbehalt von 1.300-1.700 € infrage. Das Beispiel veranschaulicht die Relevanz der irregulären Pflege nicht nur als Konkurrenz für reguläre ambulante Anbieter, sondern insbesondere auch für die Betreiber im stationären Sektor.

Die bereits bislang vorliegenden Anreize zur irregulären Versorgung werden durch die Mindestlöhne somit noch erhöht. Nach Schätzungen des Arbeitgeberverbands Pflege e.V. sind derzeit etwa 150.000 Arbeitskräfte illegal in der Pflege beschäftigt, wobei der Schwerpunkt in den Städten liegt. Bei der Öffnung des EU-Binnenmarktes im Mai 2011 dürfte der Zustrom osteuropäischer Pflegefach- und Hilfskräfte auch auf dem Schwarzmarkt zu einem erheblichen Druck führen. So liegt der gesetzliche Mindestlohn rumänischer Arbeitskräfte derzeit bei 0,72 €/Std. und bietet daher bei irregulären (Netto-)Löhnen von 3-4 €/Std. in deutschen Privathaushalten Anreize der illegalen Beschäftigung. Damit wird die wahre Stoßrichtung der Mindestlohn-Regelung deutlich.

Pflege ist eine Ressourcenfrage

Die Finanzierbarkeit der Pflege ist volkswirtschaftlich gesehen eine Ressourcenfrage. Der Weg in eine alternde Dienstleistungsgesellschaft mit steigendem intergenerativen Ressourcentransfer ist vorgezeichnet. Als Unwägbarkeiten bleiben generell die gesellschaftliche Akzeptanz der transferleistenden jungen Generation sowie konkret der Wille zur gesellschaftlichen Finanzierung spezieller Versorgungsformen.

Ein Mindestlohn-Pflege verteuert die Pflege und bei unveränderten Pflegegeld- und Sachleistungen sind weniger Pflegeeinsätze finanziell durch die Pflegeversicherung abgedeckt. Steigende Beitragssätze, eine vermehrte private Zuzahlung und eine Abwälzung auf die Kommunen als Hilfe zur Pflege belasten Dritte.

Hinsichtlich der Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Pflegekräfte erscheint auch die Anerkennung der Qualifikation durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) als ein besonderes Problem, welches den Markzutritt gegenüber deutschen Pflegefachkräften zurzeit wirksam behindert. Schließlich wird mit dem Mindestlohn-Pflege eine reale Chance vertan, eine finanzielle Entlastung der Pflegefall-Absicherung durch die Migration ausländischer Arbeitnehmer/innen bei zeitgleichen Anstrengungen zur Qualifikation deutscher Hilfskräfte vorzunehmen.

2 Antworten auf „Gastbeitrag:
Mindestlohn in der Pflege – Der Schatten wächst“

  1. Das ist doch ein sehr interessanter Artikel. Wir haben ganz einfach ein Gesellschaftsproblem – die Dienstleistungsgesellschaft. Wir haben uns 40 Jahre auf dem Erreichten genügsam ausgeruht ( vielleicht noch ein wenig exportiert ) und machen nun wiedereinmal andere für alles verantwortlich.

    In Asien passt die Familie auf die älteren Generationen auf; da funktioniert der Gesellschaftsvertrag noch. In unserer verstaatlichen Gesellschaft ist jeder für jeden da und doch aber auch nicht.

    Zudem ist diese Form der Zusammenarbeit auch noch ein Ponzi-Scheme, da die „Arbeit“ der Pflegekräfte ja zu einem Großteil durch die sogenannten sozialen Sicherungssystem finanziert wird. Jaja, die Inflation lässt grüßen …

    Guten Rutsch ins Jahr der Depression !

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