Irre! Wir transferieren an die Falschen!

In einer der letzten Ausgaben der Fachzeitschrift International Tax and Public Finance findet sich ein lesenswertes Papier(*) der spanischen Ökonomen M.D. Collado und I. Iturbe-Ormaetxe, in dem der amerikanische Wohlfahrtsstaat mit seinen europäischen Pendants verglichen wird. Das Ergebnis ist recht überraschend: In absoluten Beträgen gemessen erhalten die unteren Einkommensschichten in den USA höhere Transfers als im Durchschnitt der EU-15 und höher als in allen EU-15-Ländern außer Belgien, Österreich und Dänemark. Also im Klartext: Die absoluten Transfers an die Armen (definiert nach dem gängigen relativen Armutsmaß) sind in den USA höher als in Deutschland.

Dieses Ergebnis relativiert sich jedoch, wenn man dem internationalen Vergleich solche Transferdaten zugrunde legt, aus denen Zahlungen zur Finanzierung von medizinischen Behandlungen herausgerechnet sind. Zwar liegen die USA dann immer noch über dem europäischen Durchschnitt. In Deutschland aber sind die Transfers an die Armen dann gut ein Viertel höher als in den USA; Irland, Österreich und Belgien sind noch großzügiger als wir. Den europäischen Durchschnitt nach unten drücken dagegen vor allem Länder wie Italien, Griechenland und – überraschenderweise – die Niederlande, die das geläufige Vorurteil immer noch für einen recht komfortablen Wohlfahrtsstaat hält.

Das Gesundheitswesen in den USA ist medizinisch exzellent, aber auch notorisch teuer. Da die Armen bereits vor der jüngsten amerikanischen Gesundheitsreform über staatliche Programme wie Medicare und Medicaid eine steuerfinanzierte medizinische Versorgung erhalten konnten, fallen diese Transfers besonders stark ins Gewicht. Beim Vergleich der Länder ist außerdem zu berücksichtigen, daß die primäre Einkommensverteilung in den USA breiter gestreut ist als in vielen europäischen Ländern. Individuen, die relativ zum Rest der Bevölkerung arm sind, können also trotz eines höheren absoluten Transfers in den USA ein niedrigeres disponibles Einkommen als in Europa haben – einfach weil ihr Ausgangsniveau geringer ist.

So interessant die internationalen Vergleiche also sind, so vorsichtig muß man doch bei der Interpretation der Ergebnisse sein. Weniger problematisch sind dagegen Vergleiche der Transfers an unterschiedliche Einkommensschichten innerhalb eines Landes. Auch hier bietet das Papier von Collado und Iturbe-Ormaetxe interessante Einsichten.

Sehen wir uns beispielsweise die durchschnittlichen Bartransfers an solche Haushalte an, deren Hauptverdiener unter 65 Jahre ist, so daß das gesetzliche Rentensystem weitgehend außen vor ist. Dies ist sinnvoll, da Rentner oft ein Markteinkommen von Null oder nahe Null erhalten, also statistisch zunächst einmal zu den ärmsten Individuen zählen würden. Statistisch arm sind sie aber qua System – ohne gesetzliches Umlageverfahren hätten die meisten von ihnen private Ersparnisse angehäuft und wären keinesfalls arm im statistischen Sinne. Sieht man sich also diese Transfers an, so zeigt sich, daß in Deutschland das oberste Einkommensquintil (die reichsten 20% der Bevölkerung) pro Kopf nur etwa ein sechstel weniger Transfers bezieht als das unterste Einkommensquintil. Die Einkommensschichten dazwischen erhalten erstaunlicherweise noch etwas weniger. Der Vorsprung des untersten Quintils schmilzt außerdem weiter zusammen, wenn man die gesetzliche Krankenversicherung mit ins Kalkül zieht.

Dieses Muster erweist sich als sehr robust. Man findet es nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen EU-15-Ländern und in den USA. Auch die Berücksichtigung von Haushalten, deren Hauptverdiener älter als 65 ist ändert nichts an der Tatsache, daß das obere Einkommensquintil durchgehend stark von Transfers profitiert. Ganz im Gegenteil: Die absoluten Beträge, die von den reichsten Haushalten empfangen werden, liegen nun sogar über denen, die an die ärmsten Haushalte fließen.

In Anlehnung an einen wissenschaftlichen Bestsellerautor sollte man also ausrufen: Irre! Wir transferieren an die Falschen! Die Wohlfahrtsstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks leiden unter einer erstaunlich geringen Treffsicherheit und alimentieren zu einem erheblichen Teil solche Haushalte, die sich problemlos vollständig selbst finanzieren können.

Aus der Perspektive der politischen Ökonomik ist es nicht unbedingt überraschend, wenn die politische Zustimmung zum Wohlfahrtsstaat damit erkauft wird, daß jeder sich ein Zückerchen erhoffen kann und gleichzeitig den Überblick darüber verliert, in welchem Umfang er im komplizierten Geflecht der Transferströme nun gerade Nettozahler oder Nettoprofiteur ist. Dennoch: Soweit es politische Akteure gibt, deren Ziel tatsächlich darin besteht die Situation der Ärmsten zu verbessern, sei ihnen empfohlen einmal nicht für Steuer- und Abgabenerhöhungen zu plädieren, sondern für einen sinnvolleren Einsatz der bereits vorhandenen Mittel.

(*) M.D. Collado & I. Iturbe-Ormaetxe, Public Transfers to the Poor: Is Europe Really Much More Generous than the United States?, International Tax and Public Finance 17 (2010): 662-685.

2 Antworten auf „Irre! Wir transferieren an die Falschen!“

  1. Angesichts der desolaten Staatsfinanzen wird man wohl beides brauchen: Steuer- und Abgabenerhöhungen sowie einen sinnvolleren Einsatz der bereits vorhandenen Mittel.

  2. Das Ausklammern der Finanzierung von medizinischen Behandlungen bedeutet im Klartext, daß die Subventionen, also indirekte Transfers, ignoriert werden, die Geringverdiener bei uns dadurch erhalten, daß sie für die absolut gleichwertige medizinische Versorgung absolut wesentlich weniger bezahlen.

    Unsere einkommensabhängigen Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung stellen auch eine Transferleistung zugunsten der „Armen“ dar.

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