In der Wissenschaft gibt es kumulativen, substitutiven und regressiven Erkenntnisfortschritt. Kumulativ bedeutet, dass der Erkenntnisbestand im Zeitablauf wächst, substitutiv, dass herkömmliche durch bessere Erkenntnis ersetzt wird, und zirkulär, dass Erkenntnis, zwischenzeitlich vergessen, wiederentdeckt wird. Diese Einsicht sollte zur Reflektion akzeptierter Theorien ermutigen – dies gilt zum Beispiel für die Zins- und Kapitaltheorie.
Heutzutage wird ein niedriger Zins in der Regel als förderlich für die Wirtschaft gesehen, während ein hoher Zins dämpfend wirke. Viele Ökonomen empfehlen daher, die Zentralbank solle die Zinsen absenken, wenn eine Rezession droht, um die Wirtschaft auf dem Tal zu führen. Der Marktzins wird folglich als „Steuerungs-instrument“ gesehen, der je nach wirtschaftspolitischem Bedarf zu verändern sei. Der Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk zeigte jedoch bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass der Zins nicht etwa ein lästiger Kostenfaktor ist, sondern dass er Ausdruck der menschlichen Zeitpräferenz ist (ein Begriff, den der amerikanische Ökonom Frank A. Fetter nachfolgend prägte).
Zeitpräferenz bezeichnet das Ausmaß, in dem Marktakteure ihr Einkommen in der Gegenwart konsumieren oder sparen und investieren, um den künftigen Konsum auszuweiten. Ist die Zeitpräferenz hoch, wird aus dem laufenden Einkommen viel konsumiert und wenig gespart und investiert. Wird hingegen wenig verbraucht und viel gespart und investiert, so ist die Zeitpräferenz gering. Nimmt die Zeitpräferenz ab, so steigt das Sparangebot aus dem Einkommen. Die Investitionen nehmen zu, gleichzeitig sinkt der Zins, und die Wirtschaftsleistung nimmt zu. Eine Wirtschafts-expansion ist allerdings auch bei steigendem Zins möglich: Und zwar dann, wenn die Investitionsnachfrage steigt, während die Zeitpräferenz der Sparer unverändert bleibt.
Doch weil ein niedriger Zins in der Regel einem höheren Zins vorgezogen wird, und weil der Wunsch vorherrscht, das Spar- und Investitionsangebot auszuweiten, ohne dass dies mit einem Einschränken des Konsums einhergeht, wird allgemein begrüßt, wenn die Zentralbank den Zins auf ein möglichst tiefes Niveau heruntermanipuliert und das Kredit- und Geldangebot „flexibel“ anpasst.
Der Ökonom Friedrich August von Hayek arbeitete insbesondere in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch heraus, dass das Ausweiten der Geldmenge per Kreditvergabe zu Wirtschaftsstörungen, zu „Boom-und-Bust“-Zyklen führt. Denn dies führt zu einer inflationären Nachfrageausweitung, die die „echte“ Ersparnis übersteigt. Hayek analysierte, dass der Marktzins bei einer Geldmengenausweitung per Kreditvergabe notwendigerweise unter den „natürlichen Zins“ sinkt, und dass auf diese Weise Investitionen angestoßen würden, die ohne ein Absinken des Zinses nicht angegangen worden wären, und deren Wirtschaftserfolg vom fortgesetzten Herabdrücken des Zinses abhängt.
Abbildung 1
Quelle: Thomson Financial, Bloomberg, eigene Berechnungen. Serien indiziert (1960Q1=100)
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In der Öffentlichkeit besteht Erklärungsbedarf über die wirklichen Ursachen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die „Wiederentdeckung“ der Arbeiten von Böhm-Bawerk, Hayek und natürlich auch von Ludwig von Mises wäre ein positiver Beitrag, um die Diskussion über die richtigen Maßnahmen zur Krisenbewältigung anzureichern. Denn noch mehr Kredit und Geld, bereitgestellt zu tiefen Zinsen, wird die Probleme, für die zuviel Kredit und Geld, bereitgestellt zu tiefen Zinsen, gesorgt haben, nicht lösen.
Hinweis: Eine etwas andere Version des Beitrages ist am 13. März 2011 unter dem Titel „Der Zins der Österreicher“ in der FAZ erschienen.
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