Ideen- und Dogmengeschichte gilt in Politik und Ökonomie als unschick. Da muss man sich nicht wundern, dass selbst die „liberale“ FDP chronisch an „argumentativer Materialermüdung“ leidet und die Wirtschaftswissenschaften, weil geschichtsvergessen, Krisen gegenüber hilflos ist. Der 300. Geburtstag des schottischen Moralphilosophen David Hume (geboren am 7. Mai 1711 in Edinburgh) gibt Anlass, an das Erbe des klassischen Liberalismus zu erinnern.
Hier kommt ein unsystematischer Versuch der Aneignung aus aktuellem Anlass:
1. Menschenbild: Am Ursprung des liberalen Denkens der europäischen Aufklärung steht nicht der Homo Oeconomicus. Die Vernunft ist für Hume „Sklavin der Leidenschaften“. Freude, Schmerz, Kummer, Liebe, Hass, Wehmut, Stolz und Gier sind allesamt menschliche Affekte und Passionen, die es positiv zu würdigen gilt. Gefühle ähneln einem „Saiteninstrument, bei dem die Schwingungen nach jedem Strich noch eine Zeitlang fortfahren, ihren Klang zu erzeugen“. Die Einbildungskraft ist „schnell und beweglich, Gefühle indes sind „langsam und beharrlich“. Von Natur aus ist der Mensch unheilbar schwach („ein sehr bewegliches Wesen“), in Bezug auf Politik gar verdorben. Aber er ist zugleich auch um ständige Besserung bemüht. Auch Kant, den Hume bekanntlich aus seinem „dogmatischen Schlummer“ befreit hat, ist der Ansicht, der Mensch sei aus „krummem Holz“ und daraus könne „nichts Gerades gezimmert werden“. Auch vom methodischen Individualismus, den man herkömmlich dem Liberalismus unterschiebt, bleibt bei Hume nicht viel übrig. Vielmehr sind die Menschen soziale Wesen, „unfähig sich selbst zu genügen“: „Deshalb ist natürlicherweise Gesellschaft so erfreulich.“ Persönlich unterscheidet sich Hume darin von seinem guten Freund in Edinburgh, Adam Smith, der in viel größerem Maße ein Eigenbrötler war als Hume. Schließlich wendet sich Hume (wie viele seiner Zeitgenossen) auch gegen die Idee Mandevilles, wonach der reine Egoismus der Einzelnen am Ende in den Wohlstand aller umschlägt. Hume jedenfalls kann nicht für das Rationalitätskonzept der Neoklassik vereinnahmt werden.
2. Sympathie: Wie Adam Smith in der „Theory of Moral Sentiments“ legt auch Hume großen Wert auf die Fähigkeit der Menschen, sich in die Gefühle seiner Mitmenschen hineinzuversetzen. Sympathie ist die Gabe der Lebewesen, sich zueinander wie Spiegel zu verhalten (das ist fast schon die Moderne Theorie der Spiegelneuronen), sich in die Seelenlage anderer „einzustimmen“. Wer immer auf die Idee kam, den Liberalismus als „herzlos“ zu stigmatisieren, auf Hume kann er sich jedenfalls nicht berufen.
3. Skepsis: „Bleib nüchtern und vergiss nicht skeptisch zu sein“, so lautet das Motto Humes, das sich, nimmt man es aufrichtig, auch gegen jedwede, also auch die eigene Neigung des Liberalismus zu Orthodoxie und Dogmatismus richten muss. Die Kehrseite der Skepsis ist die Anerkennung des Anderen und der anderen Position als achtenswert, die Ahnung, dass auch der Gegner, sofern intellektuell ernst zu nehmen, nie nur ganz falsch liegen kann. Skepsis ist zugleich das Instrument der Vernunft, das sich gegen alle autoritäre Bevormundung richtet (und natürlich gegen jeden religiösen oder staatlichen Paternalismus).
4. Empirie: Hume fordert einen „Geist der Genauigkeit“, die als einzig wahren Maßstab die Erfahrung zulässt: wer diesem Ansatz folgt, hört auf, einfach nur zu glauben, was ihm erzählt wird. Der empirische Grundansatz führt bei Hume zu einer Kritik von Raum und Zeit wie auch von Kausalität: Was wir als Ursache und Wirkung bezeichnen ist in Wirklichkeit nichts anderes als die konsekutive Aufeinanderfolge von Ereignissen.
5. Freihandel: „Beginning with David Hume and Adam Smith, the emphasis of free trade has been not just one of the postulates but the very heart or essence of economic liberalism.“ (John Tumlir). Der Pfiff an Humes Theorie freier Märkte ist zunächst ihre Überlegenheit gegenüber dem Merkantilismus, der davon ausging, dass ein Land nur auf Kosten eines anderen gedeihen könne. Dieser Theorie hängen bis heute viele an, zuletzt Barack Obama, der den Wahlspruch ausgegeben hat, America „can outcompete any other nation“. Wahr ist das Gegenteil: Von offenen Märkten profitieren immer alle. Deswegen will Hume – „nicht nur als Mensch, sondern als Britisches Subjekt“ für den florierenden Handel von Deutschland, Italien, Spanien „und selbst Frankreich“ beten. Der Schutz der heimischen Märkte ist hingegen in Wirklichkeit gar kein Schutz: „Für den Fall, dass eine Ware in einem Königreich zum Haupterzeugnis erklärt wird, lautet meine Antwort, dass dieses Königreich wahrscheinlich besondere und natürliche Vorteile bei der Erzeugung dieser Ware hat. Verlieren sie trotz dieser Vorteile eine Manufaktur, so sollten sie ihre eigene Faulheit oder schlechte Regierung und nicht den Fleiß ihrer Nachbarn dafür verantwortlich machen“ („Über Argwohn im Handel“). Schließlich aber ist Hume der Meinung, dass auch einseitige Handelsliberalisierung jenen nützt, die ihre Märkte öffnen und denen schadet, die vermeintlich sich schützen. Die oft gehörte Behauptung, liberale Märkte (oder auch Freihandelsverhandlungen) müssten auf Reziprozität beruhen, ist eine Schutzbehauptung: Hume singt das hohe Lied auf den Unilateralismus im Handel. Und im übrigen hat der Freihandel viele „unintended consequences“: Wer handelt, führt keine Kriege, denn dann verlöre er ja seine Handelspartner und seinen Gewinn.
6. Unternehmer:Â Vier Triebe motivieren den Geschäftsmann (Unternehmer, Händler) zu seinem Tun; sie muss er stets in Harmonie bringen: das Streben nach Aktivität, nach Vergnügen, nach Ruhe und nach Gewinn. Aktivität macht die Menschen zufriedener als Faulheit. Humes Theorie der Handelskapitalisten (merchant capitalist) nimmt Schumpeters Idee des kreativen Abenteurers vorweg: Der „spirit of industry“ motiviert zum Unternehmertum. Reichtum und Luxus, die Aneignung seines Gewinns, ist den Menschen durchaus erlaubt. Nur wenn sie es mit dem Luxus übertreiben (Hume plädiert immer für Maß und Mitte), dann wird es gefährlich: „Luxus ist die Quelle vieler Übel, wenn er ausschweifend wird, doch ist er Faulheit und Müßiggang grundsätzlich vorzuziehen, die ihn gemeinhin ersetzen würden, und die für Privatpersonen und das Gemeinwesen weit schädlicher wären.“(Über Verfeinerung in den Künsten).
7. Staatstheorie: Anders als die beliebten Theorien von Hobbes und Locke hält Hume nichts von einer naturrechtlichen Vertragstheorie des Staates. Historisch realistischer geht er davon aus, der Staat sei „ursprünglich entweder durch Usurpation oder Eroberung oder beides entstanden, jedoch stets ohne Vorspiegelung einer freien Zustimmung oder freiwilligen Unterwerfung“ (Über den ursprünglichen Vertrag). Willkür und Gewalt, nicht freie Verträge stehen somit am Ursprung des Staates. Wer so argumentiert kann viel staatkritischer sein als die Vertragstheoretiker. Hume ist der Vorläufer von Nozick und Olson. Locke und Hobbes sind die Vorläufer von Rawls.
8. Staatsschulden: Hätten Europas Politiker Hume gelesen, hätten sie den Euro nie einführen dürfen. Und hätten sie es doch gemacht, dann hätten sie – nach abermaliger Lektüre – die überschuldeten Staaten nie herauspauken dürfen. Aber zugleich hätte ihnen Hume auch die politökonomische Legitimation zum Schuldenmachen geliefert: „Ein Minister ist stark versucht, eine solche Methode anzuwenden, denn sie ermöglicht ihm, während seiner Regierung eine gute Figur zu machen, ohne die Menschen mit Steuern zu überlasten oder sofort Aufschreie gegen seine Person hervorzurufen. Die Praxis der Verschuldung wird daher in jeder Regierung fast unfehlbar missbraucht. Es könnte kaum unklüger sein, einem verschwenderischen Sohn Kredit bei jeder Bank in London zu gewähren, als einen Staatsmann zu ermächtigen, in dieser Art Wechsel auf die Nachwelt auszustellen.“ (Über Staatskredit)
9. Ideealismus und Kapitalismus: Dass die Ideen von Hume und Smith zu den Gründungsdokumenten des klassischen Liberalismus wurden, hat, wenn man so will, materialistische Wurzeln. Gerade weil die beiden Schotten Mitte des 18. Jahrhunderts die wirtschaftlich emanzipierteste Region der damaligen Welt beobachteten, konnten sie zu Theoretikern des menschlichen Fortschritts und Wohlstands werden. Sie entdeckten das natürliche Bedürfnis der Menschen, ihr eigenen Los und das ihrer Familien und Staaten zu verbessern. Die beginnende Industrialisierung in England und der Handel Schottlands (Glasgow war einer der wichtigsten Welthandelszentren) waren der Keimraum für den Wirtschaftsliberalismus, wie umgekehrt die liberalen Ideen den realen Kapitalismus erst in Fahrt brachten. Das hat dann bis 1914 gehalten.
10. Utopie: Innerhalb der politischen und ökonomischen Essays nimmt die Abhandlung über die „Idee einer vollkommenen Republik“ eine Sonderstellung ein. Es ist Humes Entwurf einer politischen Utopie, eines perfekten Gemeinwesens. Das Ideal für ihn ist eine Republik, die föderative Dezentralisierung und institutionelle Ausbalancierung von Macht mit offenen Märkten verbindet. Alle gewählten Repräsentanten üben ihr politisches Amt ehrenamtlich aus, was eine schlechte Professionalisierung verhindert und das Principal-Agent-Problem minimiert. Man muss sich Humes Utopie als eine Mischung aus liberaler Schweiz und konservativer Räterepublik vorstellen. Als Bürger zählen und wählen nur die Besitzbürger. Darum ist es nach Hume unwahrscheinlich, „dass im Ganzen etwas anderes als Vernunft vorherrschen wird“.
Literatur:
David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand.
(liegt in vielen Ausgaben vor, auch deutsch/englisch). Das Hauptwerk
David Hume: Politische und ökonomische Essays. Zwei Bände. Verlag Felix Meiner 1988 (mit vorzüglicher Einleitung von Udo Bermbach)
Heinz D. Kurz: Von der Natur des Menschen und der kommerziellen Gesellschaft. In: FAZ vom 15. April 2011. Seite 12 (Die Ordnung der Wirtschaft)
Gerhard Streminger: David Hume. Der Philosoph und sein Zeitalter. C.H. Beck München 2011.
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