Die griechische Krise begleitet uns seit gut anderthalb Jahren, seit im Dezember 2009 die Ratings des Landes nach unten korrigiert wurden und seit im Frühjahr 2010 immer deutlicher wurde, daß ohne fremde Hilfe der Staatsbankrott unabwendbar sein würde. Die Optimisten dachten damals, daß es den anderen Euroländern vor allem um Zeitgewinn ginge. Einige Monate Ruhe könnte man nutzen, um gewissenhaft eine Umschuldung Griechenlands (und gegebenenfalls auch seiner Leidensgenossen) vorzubereiten und gleichzeitig ein Sicherungsnetz für systemrelevante Banken zu spannen für den Fall, daß diese durch die Umschuldung in Schwierigkeiten geraten – so dachte man sich das damals, als Optimist.
Im Sommer 2011 ist die Misere nun allerdings nicht kleiner als im Frühjahr 2010. Man hat auch nicht das Gefühl, daß die europäische Politik mit einer ruhigeren Hand als damals nun wohl überlegte und sorgsam ausgetüftelte Maßnahmen umsetzen würde. Eher im Gegenteil: Mehr als ein Jahr später wirken die Entscheidungsträger desorganisierter und planloser denn je; es ist eher ein improvisiertes Vortasten mit zittriger Hand, das wir in Brüssel und auch in Berlin beobachten können. Kann es wirklich sein, daß unsere Repräsentanten sich weiterhin ausschließlich von den Ereignissen treiben lassen, aber immer noch konzeptionell eher im Nebel stochern?
Man muß zugeben, daß über so unübersichtliche Situationen wie die derzeitigen auch die konventionelle ökonomische Theorie der Politik wenig zu sagen hat. Diese beschäftigt sich nämlich vor allem mit Interessenkonflikten zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die auf verschiedenen Wegen ausgetragen werden – Wahlen, direkt-demokratische Abstimmungen, Lobbying und ähnliche Mechanismen. Dabei gehen wir in der Theorie aber eigentlich immer von überschaubaren Randbedingungen aus. Situationen mit echter Theorieunsicherheit, in denen die Entscheidungsträger selbst erst einmal herausfinden müssen welche Folgen ihr Handeln wohl haben könnte untersuchen wir dagegen sehr selten.
Eine Ausnahme ist ein inzwischen etwas in die Jahre gekommenes, aber angesichts der Lage wieder aktuelles Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik, das sich die Analyse des wirtschaftspolitischen Prozesses vornimmt und dabei eben auch fragt, wie vor der eigentlichen Entscheidungsphase überhaupt erst einmal Unsicherheit reduziert und Entscheidungsgrundlagen geschaffen werden [1].
Ein erster Schritt besteht darin, daß das wirtschaftspolitisch zu lösende Problem erst einmal definiert werden muß. Zwischen Winter 2009 und Frühjahr 2010 beispielsweise hätte man zunächst einmal den drohenden Staatsbankrott eines kleinen Landes als im Prinzip wenig dramatisches Problem sehen können. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen jedenfalls, daß sich Länder nach einem Staatsbankrott regelmäßig gut erholen: Sie sind sind bald wieder in internationale Kapitalströme integriert, ihr BIP-Wachstum erholt sich, auch ein längerfristiger Zusammenbruch des Außenhandels ist nicht zu befürchten.
Zwar hatten wir es angesichts der gerade ausgestanden geglaubten Finanzkrise damals, am Beginn der Staatsschuldenkrise mit einer besonderen Ausgangslage zu tun, aber die Definition des Problems der Zahlungsfähigkeit Griechenlands als Schicksalsfrage für ganz Europa war damals so wenig zwingend wie heute. Es ist müßig zu spekulieren, wie die Situation heute aussähe, wenn die Problemdefinition damals anders erfolgt und bereits das erste Rettungspaket gar nicht erst geschnürt worden wäre. Fest steht nur: Die heutige Lage mit ihrer fortbestehenden und scheinbar immer größer werdenden Unsicherheit ist der Tatsache geschuldet, daß Griechenland damals als ganz großes europäisches Problem verstanden wurde – was aber alles andere als alternativlos war. Mit einer frühen Umschuldung Griechenlands hätten wir jetzt längst einen reinen Tisch, die Spekulationen wären den harten Fakten längst gewichen.
Auch mit Ängsten und Affekten wurde im Zuge der Problemdefinition in politischen Diskussionen virtuos gespielt. So ist aus ökonomischer Sicht eigentlich nicht ersichtlich, wieso die Insolvenz eines oder mehrerer Mitgliedstaaten der Eurozone den Euro als Währung gefährden soll. Die EZB zeigt keinerlei Neigung, die reale Staatsschuldenlast weg zu inflationieren, die Euro-Wechselkurse zeigen auch unter schwerster schuldenpolitischer Unsicherheit in den GIPS-Staaten keine dramatischen Entwicklungen. Zweifellos, die Institutionen, die eigentlich der fiskalischen Disziplinierung der Euroländer dienen sollten haben im vergangenen Jahrzehnt kläglich versagt und bedürfen dringend der Verschärfung und der Automatisierung von Sanktionen. Doch eine Währungskrise im eigentlichen Sinn des Wortes ist immer noch nicht auszumachen.
Wir beobachten also ein Auseinanderdriften zwischen der Problemdefinition, die den politischen Diskurs dominiert und der Perspektive, die man als Ökonom auf die Dinge einnehmen würde. Teils trug dies auf Seiten der Politik Züge von Realitätsverweigerung, wie etwa der hartnäckige Glaube an die Möglichkeit einer Rettung der griechischen Staatsfinanzen ohne Umschuldung zeigte. Auch die grassierenden Sündenbocktheorien, die der Exkulpation der Politik selbst dienen, sind durchweg dubios. In diese Kategorie gehört etwa das Fabulieren Jean-Claude Junckers, wenn er vor internationalen Spekulanten warnt, die angeblich den Euro zu Fall bringen wollen.
Die Frankfurter Allgemeine vom 14.7.2011 zitiert den langgedienten Europaabgeordneten Elmar Brok mit der Aussage, die derzeitige Krise Europas sei „nur vergleichbar mit dem amerikanischen Bürgerkrieg.“ Politische Nüchternheit und eine unaufgeregte Verhältnismäßigkeit in der politischen Rhetorik scheinen derzeit in Brüssel sehr knappe Güter zu sein; sie werden zunehmend verdrängt von einer maßlosen Kampfrhetorik, in der sich Europa mit meist nur imaginierten inneren und äußeren Gegnern konfrontiert sieht. Auf die Spitze treibt dieses Spiel Viviane Reding, die sich nicht zu schade ist, wiederholt anti-amerikanische Ressentiments zu beschwören indem sie insinuiert, es gebe so etwas wie eine Verschwörung amerikanischer Rating-Agenturen gegen die Eurozone. Frau Reding sollte einmal Barack Obama fragen, was er von der angedrohten Herabstufung der amerikanischen Kreditratings hält – haben sich die Agenturen nun auch gegen die USA verschworen?
Es steht zu befürchten, daß unsere oben zitierten Repräsentanten tatsächlich glauben was sie sagen. Ebenso kann es durchaus sein, daß die aktuelle nordrhein-westfälische Landesregierung tatsächlich glaubt, daß es mitten im kräftigen konjunkturellen Aufschwung eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes gibt. Mit einer solchen Störung begründet sie nämlich ihren neuesten Schuldenhaushalt.
Angesichts einer Politik, die ihr Handeln zunehmend auf zweifelhafte Prämissen gründet, in die sie sich aus Gründen der politischen Opportunität verrennt, wünscht man sich als Bürger Mechanismen, die den Realitätssinn in die Politik zurück tragen. Silvio Berlusconi dachte kürzlich noch, daß Italien trotz einer Schuldenstandsquote von rund 120 Prozent eine Pause in seiner Konsolidierungspolitik gut vertragen könnte. In diesem Moment konnte man beobachten, wie Märkte disziplinierend wirken und der Politik den Realitätssinn zurückgeben. Italien bekam in dem Augenblick Schwierigkeiten, Staatsanleihen auf dem gewohnt relativ niedrigen Zinsniveau auf den Markt zu werfen, als Berlusconi seinen Unwillen zu weiterer Haushaltskonsolidierung signalisierte. Der Warnschuß von den Anleihemärkten führte ihn dann auf den Pfad der finanzpolitischen Tugend zurück – innerhalb weniger Tage wurde ein sehr respektables Sparpaket beschlossen.
Es ist hilfreich, wenn die Politik gezwungen wird, harte ökonomische Restriktionen, die nun einmal existieren und die man weder wegdiskutieren noch wegbeschließen kann, früh zur Kenntnis zu nehmen. Das Beispiel Italiens zeigt wie das geht, nämlich durch Preissignale. Die europäische Politik bemüht sich allerdings im Moment, eine dicke, schützende Dämmschicht zwischen sich und die Preissignale zu bauen. Nichts anderes sind Mechanismen wie die EFSF oder ab 2013 dann der dauerhafte Europäische Stabilitätsmechanismus. Sie erfüllen den Zweck, durch Lockerung von Budgetrestriktionen eine europäische Komfortzone zu errichten, die nüchtern betrachtet auch dazu dient, die Wolkenkuckucksheime exzessiver Europhilie noch eine Weile vor der Konfrontation mit den harten Fakten zu schützen. Die Welle europäischer Solidaritätsrhetorik und die doch schon sehr unschönen Versuche, eingebildete äußere Feinde für das Versagen europäischer Institutionen verantwortlich zu machen weisen deutlich in diese Richtung.
Könnte Europa gestärkt aus seiner Schuldenkrise hervorgehen? Sicher, und das sollte es auch. Die europäische Politik müßte nur nüchtern analysieren, was tatsächlich schief gelaufen ist. Sie muß sich funktionierende konstitutionelle Regeln geben, die tatsächlich die Verschuldungsneigung der Nationalstaaten eindämmen, im Gegensatz zum alten Stabilitäts- und Wachstumspakt. Das wäre eine nachhaltige Lösung. Die Installation der Transferunion dagegen verschiebt das Aufeinandertreffen der europäischen Finanzpolitik und einer harten Budgetrestriktion nur noch einige Jahre nach hinten. Beliebig lang ist eine Konfrontation mit der Realität für keinen Brüsseler Träumer zu verhindern.
Fußnoten
[1] vgl. Alfred Meier und Tilman Slembeck, Wirtschaftspolitik, 2., überarb. Aufl., München: Oldenbourg, 1997.
- Auch Du, Brutus?
Die NZZ auf einem Irrweg zu höherer Staatsverschuldung - 21. Oktober 2024 - Wie steht es um den Bundeshaushalt 2025 – und darüber hinaus? - 19. September 2024
- Die Krise des Fiskalföderalismus
Dezentralisierung und Eigenverantwortung sind notwendiger denn je - 31. Juli 2024
Ich finde es gut, dass sich Herr Schnellenbach mit dem Problem der Realitätsverweigerung in der Politik beschäftigt. Aber kann man tatsächlich behaupten „Fest steht nur: Die heutige Lage mit ihrer fortbestehenden und scheinbar immer größer werdenden Unsicherheit ist der Tatsache geschuldet, daß Griechenland damals als ganz großes europäisches Problem verstanden wurde – was aber alles andere als alternativlos war. Mit einer frühen Umschuldung Griechenlands hätten wir jetzt längst einen reinen Tisch, die Spekulationen wären den harten Fakten längst gewichen.“?
Wieso kann man mit Sicherheit („Fest steht“) auschließen, dass es nach einer gelungenen spekulativen Attacke auf Griechenland, die gleiche (hochprofitable) Prozedur nicht auch auf Portugal, Irland, Spanien… angewendet worden wäre? Nicht nur die jüngsten Erfahrungen mit Finanzmärkten zeigen, wozu Herdentrieb fähig ist. Dann hätten wir höchstwahrscheinlich den Niedergang, den wir nun aufgrund der Unentschlossenheit der Politik in Zeitlupe studieren dürfen, höchstwahrscheinlich im Zeitraffer erleben können. Vielleicht kann Herr Schnellenbach bei diesem zentralen Punkt seiner Argumentation ja noch einmal ein bisschen nachbessern?
Herr Friedrichs, aus meiner Sicht ist die Vermutung falsch, daß Griechenland das Opfer einer spekulativen Attacke geworden ist. Nach dem Regierungswechsel im Herbst 2009 gab es nun einmal Nachrichten über die griechische Finanzpolitik, die jeden Besitzer griechischer Staatsanleihen zum Nachdenken über dieses Engagement bringen mußten. Der Verkauf von griechischen Anleihen war damals schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb vernünftig. Die risikofreudigen Spekulanten sind wohl eher diejenigen, die jetzt noch Anleihen aus Griechenland, Portugal und Irland halten und die hoffen, daß sie Sache schon gut ausgehen wird.
Ich kann auch nicht garantieren, daß es Portugal dann nicht auch noch erwischt hätte. Aber können Sie garantieren, daß es Portugal nicht noch erwischen wird? Oder Irland, wenn das aktuelle Hilfsprogramm ausläuft?
Dann treffen wir uns 2013 hier wieder und diskutieren, ob wir nun nicht die permanente Transferunion installieren sollen, weil die Staaten an der Peripherie inzwischen so etwas sind wie ein europäisches Bremen. Danach können wir dann wetten, wie lange es wohl dauern wird, bis die Gesamt-Transferunion ihre Budgetrestriktion sprengen wird.
Ok, so ganz fest steht es also doch nicht, ob es nicht vielleicht noch das ein oder andere Land getroffen hätte und möglicherweise einiges ins Rutschen gekommen wäre, wenn Griechenland vor einem Jahr mit Volldampf in den Bankrott gerast wäre.
Wie sieht es mit der zweiten Gewissheit aus, dass Rettungsmechanismen nur den Zweck haben Budgetrestriktionen aufzuweichen? Steckt da nicht auch ein gutes Stück gewagter Verschwörungstheorie drin? Was ist z.B. mit Vorschlägen wie, Brady-Bonds zur Umschuldung einzusetzen, deren Ausgabe an eine temporäre Abtretung des Haushaltsrechts an eine EU-Institution gekoppelt wäre – um nur einen in der Diskussion befindlichen Vorschlag zu nennen?
Mein Eindruck ist, da haben sich einige in den Dualismus „entweder Staatsbankrott“ oder „Transferunion“ hinein geredet. Pragmatische Lösungsansätze sind damit ausgeschlossen. Zugegeben, die Lage ist komplex und in komplexen Situationen neigt der Mensch zu Vereinfachungen, die sich gerne an der vermuteten Mehrheitsmeinung der jeweiligen Bezugsgruppe orientieren. Leider gibt es nur wenig Grund zu der Vermutung, dass man mit dieser Strategie auch die Probleme gelöst bekommt.
Brady-Bonds wären mit einer Garantie der neu ausgegeben Anleihen durch europäische Institutionen (also etwa den EFSF) verbunden. Wir hätten also zwei Dinge: Einerseits die gewünschte Beteiligung privater Gläubiger, die ja tatsächlich höchst wünschenswert ist. Andererseits aber auch ein Transfer des Kreditrisikos für die gesamte verbliebene griechische Staatsschuld an die EU, bzw. die Geberländer in der EU.
Das kann eigentlich niemand wollen, denn damit begibt sich die EU in gleichsam in griechische Geiselhaft. Wie glaubhaft etwa wird danach die Drohung sein, Griechenland im Fall fiskalischer Laxheit noch den Transferhahn zuzudrehen? Ganz klar: völlig unglaubwürdig, soweit man damit seinen eigenen Forderungsbestand gefährdet. Die EU kommt in die Situation eines Gläubigers, der schlechtem Geld noch gutes Geld hinterherwirft. Da wir es dabei mit politischen Entscheidungen zu tun haben, ist das auch relativ verlockend (noch verlockender jedenfalls als für einen privaten Gläubiger, der mit seinem eigenen Geld spielt).
Das ist halt die Paradoxie: In dem Moment, in dem das Geld verliehen der die Garantie gewährt ist, sitzt der Staatsschuldner erstmal an einem ziemlich langen Hebel, und dieser Hebel wird umso länger, je mehr beim Gläubiger nicht nur harte ökonomische, sondern auch politische Erwägungen eine Rolle spielen.
Zur vertiefenden Lektüre bezüglich des Wandels in Richtung Transferunion durch solche Pläne empfehle ich noch den in der rechten Seitenleiste verlinkten aktuellen Artikel von Rainer Hank in der FAS vom vergangenen Sonntag.
Ehm, sorry, aber ich hatte doch darauf hingewiesen, dass man Brady-Bonds mit Auflagen (z.B. eine temporäre Abtretung des Haushaltsrechts an eine EU-Institution) konditionieren könnte, um sie anreizkompatibel auszustatten. Wie können Sie da schreiben „Wie glaubhaft etwa wird danach die Drohung sein, Griechenland im Fall fiskalischer Laxheit noch den Transferhahn zuzudrehen? Ganz klar: völlig unglaubwürdig,…“ Wenn man das Haushaltsrecht in Griechenland hat, kann „fiskalische Laxheit“ verhindern. Is einfach so.
1. Eine völlige Abtretung des Haushaltsrechts durch Griechenland an die EU ist kein politisches Gleichgewicht und wird daher nicht stattfinden. Für Griechenland ist selbst das extreme Alternativszenario Schuldenschnitt+Austritt aus der Währungsunion wohl attraktiver als der komplette finanzpolitische Kompetenztransfer an Brüssel.
Für die EU wäre es ein Desaster, Griechenland eine Sparpolitik direkt aufzwingen zu müssen, ohne den Umweg über die griechische Regierung. Schauen Sie sich die politischen Konflikte in Griechenland im Moment an. Die sind schon schlimm genug. Jetzt stellen Sie sich die Situation vor, wenn es dort keine Spaltung in Regierung und Opposition mehr gibt, sondern wenn das ganze politische Griechenland vereint in Opposition zu den Sparbeschlüssen Brüssels steht! Kein Brüsseler Politiker kann das wollen.
2. Wenn es zu einer Abtretung des Haushaltsrechts kommen würde, dann allenfalls partiell. Im Ergebnis würden dann wohl ähnliche fiskalische Inkongruenzen resultieren wie in vielen kooperativ-föderalen Ländern, die regelmäßig horizontale und vertikale Transfers nötig machen. Da sind wir dann wieder bei der Gefahr der fiskalischen Laxheit in Griechenland.