Heute wird von den „Vereinigten Staaten von Europa“ gesprochen, von einer Europäischen Wirtschaftsregierung und von einem Europäischen Finanzminister. Ein europäischer Haftungsverbund, eine Finanz- und eine Transferunion sind zu alltäglichen Vokabeln geworden, über deren konkreten Inhalte kaum mehr nachgedacht wird. Sie scheinen inzwischen „alternativlos“ zu sein. Diese Entwicklung wird genährt von tiefgehenden Euro-Problemen. Sie scheinen nun sogar eine Politische Union Europa möglich zu machen. Allerdings bleibt die Frage: Wollen wir eine solche, ohne eine inhaltliche Diskussion über die Finalität der Europäischen Union geführt zu haben?
„Vereinigte Staaten von Europa“
Einer Zeit-Online-Umfrage vom 2. September zufolge halten immerhin 35 Prozent der Deutschen die Idee von „Vereinigten Staaten von Europa“ für gut, während sie 43 Prozent ablehnen. In Frankreich sprechen sich 44 Prozent dafür und 35 Prozent dagegen aus und in Großbritannien sind 13 Prozent dafür und 64 Prozent dagegen. Die Frage lautete: „Wären die Vereinigten Staaten von Europa längerfristig ein passendes Modell?“ Noch ist nicht konkretisiert, was sich dahinter verbergen soll, es sei denn es wird berücksichtigt, dass die Bundesarbeitsministerin in diesem Zusammenhang von einer föderalen Struktur nach dem Muster von Deutschland, USA und Schweiz gesprochen hat. In dieser Umfrage wurde zusätzlich erhoben, ob die nationale Unabhängigkeit in finanz-, steuer- und wirtschaftspolitischen Fragen an politische Gremien der „Vereinigten Staaten von Europa“ abgegeben werden soll, was 50 Prozent der deutschen, 78 Prozent der britischen und 54 Prozent der französischen Befragten jedoch ablehnen.
Politische Union Europa
Es liegt mir fern, Befragungen dieser Art in ihrer Aussagekraft überzubewerten. Interessant aber sind sie allemal. Und sie zeigen auch wie beliebig „Vereinigte Staaten von Europa“ interpretiert werden. Sind sie denn denkbar ohne substantielle wirtschaftspolitische Kompetenzen auf der europäischen Ebene, die über die bereits vorhandenen gemeinsamen Politiken hinausgehen? Gerade solche sollen ja derzeit die gemeinsame Währung „retten“. Sie scheinen ohne eine Art poltischer Vereinigung nicht glaubwürdig zu sein, wie sich herausgestellt hat. Dies ist der Kontext, in dem das Thema heute diskutiert wird. Diese Polit-Rhetorik provoziert zwei Fragen, die in der EU-Integrationsgeschichte immer wieder kontrovers diskutiert wurden, zuletzt sehr intensiv vor der Entscheidung für die Europäische Währungsunion und dann noch einmal, jedoch mit deutlich weniger Emotionen, im Zuge des Versuchs eine Verfassung für die Europäische Union zu formulieren. Die erste Frage lautet: Kann eine gemeinsame Währung ohne Politische Union funktionieren? Die zweite Frage beinhaltet die Integrationsvision hinter der Europäischen Union, also ihre sogenannte Finalität. Wohin soll sich die EU entwickeln? Beide Fragen hängen eng miteinander zusammen, wie sich in den vergangen Monaten deutlich gezeigt hat. Fünf Elemente dieses Zusammenhanges, der über die Zukunft der Europäischen Union und ihrer Währung entscheiden wird, sollen in den weiteren Ausführungen herausgearbeitet werden.
Erstens: Die monetäre Integrationslogik
Hier wird nicht die Frage erörtert, was isoliert für und gegen eine Politische Union Europa spricht. Für beide Positionen lassen sich politische und ökonomische Argumente finden. Die verbesserten Verhandlungsposition in einem globalisierten Umfeld, die Notwendigkeit mit einer Stimme zu sprechen, sind u.a. abzuwägen gegen die Vorteile der Heterogenität der europäischen Staaten, die historisch zum Erfolg und zur Wettbewerbsfähigkeit Europas beigetragen haben. Heute geht es vielmehr in erster Linie darum, den erreichten Stand auf dem EU-Integrationspfad zu berücksichtigen. Braucht eine Währungsunion eine Politische Union, um erfolgreich zu sein, ist dies ein Teil der Integrationslogik? Diese Frage wurde nach der Verabschiedung des Vertrags von Maastricht eingehend erörterte. Zuerst vor allem in der Politik mit einem lauten „Ja“ beantwortet, wandelte sich die Aussage in ihr Gegenteil als sich schnell herausstellt, dass eine Politische Union auch in Ansätzen nicht konsensfähig sein würde. De facto enthielt der Stabilitäts- und Wachstumspakt erste konsensfähige Elemente einer Politischen Union, die freilich nicht als solche interpretiert und kolportiert wurden. Er wurde fortan als der Absicherungsmechanismus des Euro gegenüber nationalen Begehrlichkeiten interpretiert. Der Zeitpunkt, die Frage des Verhältnisses von Monetärer und Politischer Union zu stellen, zu diskutieren und zu beantworten, war damals der richtige. Denn wäre die Begleitung der einen durch die andere Union sachlogisch erforderlich, eine Politische Union jedoch nicht konsensfähig, hätte man von der Währungsunion Abstand nehmen sollen. Doch so einfach liegen die Dinge nicht.
Zweitens: Die politische Absicherung
Für den Erfolg einer Währungsunion ist die Politische Union weder notwendig noch hinreichend. Hinreichend homogene Mitglieder mit übereinstimmenden ordnungs- und wirtschaftspolitischen Präferenzen, einem vergleichbaren Entwicklungsstand sowie ähnlichen Strukturen, einer institutionellen Konvergenz und der Akzeptanz der vereinbarten Anpassungsmodalitäten, die sich aus einer Währungsunion ergeben, können ihre monetäre Union zum Erfolg führen, ohne weiter über eine politische Vereinigung nachdenken zu müssen. Dass auch ein gemeinsames Staatsgebiet keine Garantie für den Erfolg einer Währung bedeutet, ist historisch hinlänglich bekannt. Doch die Politische Union wirkt erstens beharrend, also gegen die Auflösung der Währungsunion. Zweitens existieren Anreize, bei monetären Problemen Anpassungsmaßnahmen zu finden, die die Problemlösungen und ihre Kosten vergemeinschaften. Dies kann in der Verfassung so vorgesehen sein oder einen situativen Konsens zum Ausdruck bringen. Das Ergebnis muss keine „gute Währung“ sein, denn eine Politische Union kann wirtschaftliche Verantwortung verwässern. Die Währung aber wird im Normalfall Bestand haben, solange die Politische Union Bestand hat. Dies ist der zweite Teil eines grundlegenden Zusammenhanges.
Drittens: Die politökonomische Ernüchterung
Der dritte Teil besteht darin, dass in einer Währungsunion souveräner Staaten, die heterogene Volkswirtschaften verbindet, Anreize für alle Beteiligten bestehen, die geänderten monetären Rahmenbedingungen oder auftretende Probleme im Interesse des eigenen Staates und gegen ein „diffuses Gemeinschaftsinteresse“ zu nutzen. Der Hintergrund besteht in den national gebliebenen politischen Strukturen und Verantwortlichkeiten. Rückblickend können die Meilensteine der Euro-Währungsunion, die zu den aktuellen Problemen geführt haben, in diese Richtung interpretiert werden. Es ist kein Irrtum, dass zur Beschreibung dieses Zusammenhanges eine Literaturstelle aus 1885 angeführt werden soll. Es geht um die Lateinische Münzunion, eine monetäre Union souverän bleibender Staaten: „Dass Frankreich und Italien vor dem Gebot der politischen Lage nicht einen Augenblick Anstand nahmen, den Vertrag zu brechen , dass sie nicht einmal daran dachten, sich bei ihren Mitverbündeten deshalb zu entschuldigen und Indemnität zu verlangen, war ebenso natürlich, als darin einer der deutlichsten Fingerzeige für die Wertlosigkeit solcher Verträge liegt, deren größter Fehler eben darin besteht, dass ein im Übrigen souveräner Staat sich in Sachen so fundamentaler Lebensbedingungen, wie das eigene Geldwesen, die Hände binden soll.“ (Ludwig Bamberger: Die Schicksale des Lateinischen Münzbundes, Berlin 1885, S. 15). Ein an den Interessen und Problemen der eigenen Volkswirtschaft orientiertes Verhalten der heterogenen Mitglieder führte zu den nun viel beklagten Problemen und bringt die politökonomische Logik in einer Union ohne institutionalisierte Exit-Möglichkeiten zum Ausdruck. Nicht alle Faktoren, die Einfluss auf den Euro haben können, sind in der Gestaltungshoheit Jener, die für ihn verantwortlich sind. Die Ereignisse der vergangen Tage und Wochen haben dies eindrucksvoll demonstriert.
Viertens: Die Flucht nach vorne
Die politökonomische Logik wirkt auch im Versuch, entstandene Probleme zu lösen. Der Euro ist zu einem Datum geworden und tatsächlich wurden hohe spezifische Investitionen getätigt. Entsprechend gilt es nach vorne zu blicken. Dies ist naheliegend, doch birgt es auch Gefahren, wenn die Problemanalyse unterbleibt. Die institutionellen Absicherungsmechanismen für die gemeinsame Währung waren nicht ausreichend, da sie von vorneherein nicht glaubwürdig waren. So haben die Akteure auf den Finanzmärkten vorausgesehen, dass die No-Bail-out-Klausel hohl war, in Konsequenz wurden die Risikoprämien für die Risikoländer nahe Null gesetzt. Auch vertragliche Regeln leiden so lange an Glaubwürdigkeitsdefiziten, so lange national gebliebene politische Strukturen ihre Verletzung bei Konflikten nahelegen. Erst mit einer Europäisierung der politischen Strukturen ändert sich das Ergebnis von Kalkülen der Regeltreue. Wirtschaftsregierung, Haftungsverbund, Fiskalunion, Transferunion, Eurobonds sind ins Gespräch gekommen. Sie werden vor allem seitens der Politik als notwendig erachtet, den Euro abzusichern, vor jenen Aktivitäten, die zu den heute beklagten Ergebnissen geführt haben. Zweifelsohne handelt es sich dabei um Elemente einer Politischen Union, wesentlich tiefgehender als der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt. Und dennoch werden sie so lange nicht glaubwürdig sein, solange die politischen Strukturen national organsiert bleiben, sprich es wird immer wieder zum Kostenkalkül einer Regelverletzung kommen. Mit zusätzlichen Problemen wird eine weitere politische Vertiefung naheliegend, ja alternativlos: ein Prozess der Supranationalisierung oder eines bürokratieintensiven Intergovernmentalismus mit den bekannten Tauschmechanismen, eine Eigendynamik hin zu „Vereinigten Staaten von Europa“, welchen Inhalts auch immer: der fünfte Teils des thematisierten Zusammenhanges.
Fünftens: Die Finalität der Europäischen Union
Der europäische Integrationsprozess startete als funktionales Integrationskonzept in den Bereichen, in denen Integrationsschritte konsensfähig waren. Eine ursprünglich präsente politische Finalität entwickelte sich bald zu einer vagen Vision, die – getragen von nicht weiter konkretisierten Sachzwängen – sich am Ende einstellen würde oder nach Vollendung der wirtschaftlichen Integration zum Verhandlungsgenstand werden könnte. Die Vision einer Politischen Union bestand zuletzt in einem „Europa sui generis“ ohne klare Konturen, das keine Restriktionen für die Entwicklung der Unionsordnung und die Ausgestaltung der Währungsunion darstellen sollte: Alles war möglich, beliebige Kombinationen in der Unionsordnung, also dem Zeitgeist entsprechend. Jäh hat sich herausgestellt, dass ökonomische Gesetzmäßigkeiten ihre eigenen Wege haben, um sich gegen Illusionen durchzusetzen (Vgl. Fritz Machlup 1976). Konkret: Es ist verantwortungslos, nun „Vereinigte Staaten von Europa“ in die Diskussion zu bringen ohne gleichzeitig offenzulegen, welchen politischen Gehalt diese haben sollen und ob dieser von der Bevölkerung Europas gewünscht wird. Solange keine Diskussion über die Finalität des EU-Integrationsprozesses geführt wird und zu einem Ergebnis kommt, kann das Urteil über den Euro unter Berücksichtigung der aktuellen Erfahrungen und der politökonomischen Logik nur lauten: „Es war ein Schritt zu weit“.
Eine Antwort auf „Ein Schritt zu weit: Zum Zusammenhang zwischen dem Euro und der Finalität der Europäischen Union“