In den Jahren 1973 und 1979/80 wurden die Ökonomien weltweit heftig von den stark ansteigenden Ölpreisen gebeutelt. Die Folge war ein starker Anstieg des allgemeinen Preisniveaus bei gleichzeitig stagnierender wirtschaftlicher Entwicklung. In einem Wort: Stagflation. Nachdem sich die Weltwirtschaft Mitte der 1980er Jahre nach und nach von der zweiten Ölpreiskrise erholt hatte, sah es lange Zeit so aus, als gehörten diese Zeiten endgültig der Vergangenheit an. Im Zuge der Finanzkrise, der darauffolgenden Großen Rezession und der andauernden europäischen Schuldenkrise wurden die warnenden Stimmen seitens der Ökonomen jedoch wieder lauter (siehe unter anderem Stiglitz, Hamilton und Gurdgiev). Doch wie wahrscheinlich ist es, dass es auch in Zukunft wieder zu stagflationären Perioden kommt?
I
Einige stilisierte Fakten
Eine Reihe empirischer Studien, etwa Burbridge und Harrison (1984), Bruno und Sachs (1985), Röger (2005), Kilian (2009) und JÃmenez-RodrÃguez und Sánchez (2010), haben gezeigt, dass es in der Historie vor allem dann zu Stagflation kam, wenn der Ölpreis in starkem Maße anstieg. Der Blick auf die Entwicklung des Ölpreises mag daher einen ersten Anhaltspunkt im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit zukünftiger stagflationärer Tendenzen liefern. Wie die nachfolgende Abbildung zeigt, kam es nach vielen Jahren stagnierender realer Ölpreise ab dem Jahr 2001 zu einem enormen Preisanstieg, sodass der aktuelle Ölpreis heute in etwa auf dem Niveau seines historischen Maximums (1979) liegt. Hamilton (2009) hat bereits darauf hingewiesen, dass der gegenwärtige Anstieg hauptsächlich in der wachsenden weltweiten Nachfrage nach Rohöl begründet liegt, während sich die Entwicklungen der 1970er Jahre im Wesentlichen auf den Rückgang der Fördermengen zurückführen lassen. Dennoch konstatiert auch er, dass die Parallelen mit der damaligen Entwicklung nicht von der Hand zu weisen sind.
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Wenngleich sich die globale Ökonomie in der Breite noch relativ unbeeindruckt von den letzten Ölpreissteigerungen (2011: +20%, 2012ex: +15%) zeigt, so wiesen doch einige Länder im vierten Quartal 2011 negative Wachstumsraten gegenüber dem Vorjahresquartal auf. Vor allem über der EU-27 (-0,3%), den EURO-17 Staaten (-0,3%), Japan (-0,2%) und Großbritannien (-0,2%) schwebt die Gefahr der Stagnation mittlerweile wie ein Damoklesschwert. Insgesamt wird der Eurozone für 2012 ein Wachstum des BIP in Höhe von -0,6% vorhergesagt. Die positive Entwicklung der G20 Staaten (+0,7%) ist erneut ausschließlich den starken Zuwächsen in China (+2,0%) und Indien (+1,8%) zu verdanken. Hinzu kommt, dass viele Länder bereits heute mit hohen Inflationsraten zu kämpfen haben. Betroffen sind hiervon vor allem die EU-27 (+3,1%), Großbritannien (+4,4%) und die USA (+3,3%). Erst vor Kurzem mutmaßte Narayana Kocherlakota, Präsident der Notenbank von Minneapolis, dass die FED noch in 2012 inflationsbedingt von ihrer Nullzins-Politik abkehren wird. Auch für die Eurozone ist vor dem Hintergrund der Schuldenkrise künftig mit steigenden Inflationsraten zu rechen.
II
Die Messung von Stagflation
Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen stellt das aktuelle Diskussionspapier Berthold und Gründler (2012) dar, das die Ursachen stagflationärer Perioden im Rahmen einer empirischen Analyse untersucht. Die Herleitung der nachfolgenden Ausführungen kann dort im Einzelnen nachgelesen werden. Zunächst haben wir uns die Frage gestellt, wann eine Ökonomie als stagflationär klassifiziert werden kann. Die ökonomische Literatur stellt hier nur einige wenige Ansätze zur Verfügung (Vorhersagefehler von VAR-Modellen oder High-Pass-Filter), von deren Verwendung im Hinblick auf unsere Forschungsfrage jedoch abzusehen ist. Aus diesem Grund haben wir zunächst eine binäre Variable definiert, welche den Wert 1 annimmt, falls im betreffenden Zeitpunkt Stagflation vorliegt. Dies ist der Fall, wann immer das BIP-Wachstum geringer ist als 1,2% und die Inflationsrate gleichzeitig die Grenze der Preisniveaustabilität von 2% überschreitet. Andernfalls beträgt der Wert der Variable 0. Auf Basis eines Panels von 13 Ländern zwischen 1970 und 2010 konnten wir somit die Wahrscheinlichkeit von Stagflation auf Basis eines Logit-Modells schätzen. Die Stärke der Stagflation in der Weltwirtschaft haben wir im Folgenden als Summe aller dichotomer Variablen der einzelnen Länder interpretiert, sodass wir ihre Determination im Rahmen eines negativen Binomialmodells schätzen konnten. Zudem haben wir eine Kenngröße abgeleitet, mit Hilfe derer sich auch die Stärke der Stagflation innerhalb der einzelnen Länder messen lässt und ihre Beeinflussung über ein FE-PLS-Modell evaluiert. Als signifikant erwiesen sich vor allem Ölimportkosten, die Arbeitsproduktivität, Rohstoffpreise, der reale Zinssatz sowie der autoregressive Prozess erster Ordnung.
Wie sich herausstellte, ergeben sich im Hinblick auf die Stagflationsanfälligkeit zwischen den Ökonomien deutliche Unterschiede. So sind beispielweise die USA und mit einigen Abstrichen auch Deutschland deutlich anfälliger für Stagflation als etwa Japan. Auf der anderen Seite weisen einige Volkswirtschaften einen deutlich negativen Trend auf. Während etwa Schweden in der Vergangenheit regelmäßig mit Stagflation zu kämpfen hatte, kann diese Tendenz am aktuellen Rand nicht mehr beobachtet werden. Hingegen kommt es in den USA im Zeitverlauf regelmäßig zu stagflationären Perioden, ohne dass ein signifikanter Trend ausgemacht werden könnte. Die nachfolgende Grafik verdeutlicht diese Zusammenhänge. Dargestellt werden xy-Line-Plots, welche den Gleichlauf zwischen Inflation und BIP-Wachstum abbilden. Wann immer eine Beobachtung in den II Quadranten fällt (links oben), so herrscht Stagflation. Die konstituierenden Grenzen werden durch die beiden schwarzen Linien repräsentiert. Durch die Verbindung der Beobachtungen kann eine bessere Übersicht bezüglich der Persistenz gewonnen werden.
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Da verschiedene Ökonomien eine unterschiedliche Anfälligkeit für Stagflation aufweisen, ist es wichtig, zwischen der allgemeinen Gefahr der Stagflation für die Weltwirtschaft und des konkreten Risikos für einzelne Länder zu differenzieren.
III
Die Gefahr der Stagflation in der Weltwirtschaft
Auf Basis der geschätzten Koeffizienten der in II skizzierten Modelle können verschiedene Stragflationsindizes berechnet werden, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Dabei spiegelt der Allgemeine Stagflationsindex ASI die Gefahr der Stagflation in der Weltwirtschaft wider, wohingegen den speziellen Indizes SSI die Bedrohung für die einzelnen Länder entnommen werden kann. Betrachtet man den ASI, so wird ersichtlich, dass die Stärke der Stagflation im Zeitablauf starken Schwankungen unterliegt. Während sich die beiden Ölpreiskrisen deutlich erkennbar im Indexwert niederschlagen, zeigt die Entwicklung des ASI, dass die stagflationären Tendenzen auch Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre relativ hoch waren. Diese Periode wird oftmals auch als „Early 1990s Recession“ bezeichnet. Ab 1993 jedoch nimmt der Index relativ geringe Werte an und bewegt sich bis 2008 unterhalb seines historischen Mittelwerts. Im Anschluss an die Finanzkrise kommt es hingegen erneut zu einem rasanten Anstieg des ASI, der 2008 gar sein Allzeithoch erreicht. Im Gegensatz zu den Mustern in der Vergangenheit ist dieser Anstieg rein temporärer Natur. Bereits im Jahr 2010 liegt die stagflationäre Gefahr wieder nahe Null.
Wie der historische Verlauf des ASI zeigt, ist Stagflation im Allgemeinen ein persistentes Problem. Im Zuge der „Großen Rezession“ konnte jedoch eben diese Persistenz nicht beobachtet werden. Zwar war der Einbruch des Inlandsproduktes in vielen Ländern beispiellos. Die Preise hingegen blieben zu diesem Zeitpunkt noch bemerkenswert stabil (EURO-17: +0,3%, Deutschland: +0,2%, USA: -0,8%). Bereits in 2010 änderte sich dieses Bild jedoch schlagartig: Mit Ausbruch der europäischen Staatschuldenkrise begann ein steter Preisanstieg, der sein Ende bislang nicht erreicht hat. Schon in 2010 lagen die Inflationsraten länderübergreifend über der Preisniveaustabilitätsgrenze, wie sie von der EZB und Ben Bernanke gesetzt wird.
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Am aktuellen Rand steigt die Gefahr der Stagflation somit wieder an. Während der ASI 2011 mit 62 Punkten noch auf relativ moderatem Level rangierte (zum Vergleich: Durchschnitt 1970-2012: 68 Punkte), ergibt sich auf Basis prognostizierter Werte für 2012 ein Indexwert von 101 Punkten. Dieser deutliche Anstieg überrascht wenig, prognostiziert der IMF doch für Deutschland (+0,3%), Frankreich (+0,2%), Italien (+0,4%), die Eurozone insgesamt (-0,5%), Japan (-0,9%), Großbritannien (+0,9%) und die entwickelten Volkswirtschaften (+1,6%) nur sehr verhaltene Wachstumsraten für 2012.
IV
Die Gefahr der Stagflation für einzelne Volkswirtschaften
Während der ASI den allgemeinen stagflationären Trend in der Weltwirtschaft wiedergibt, kann die Gefahr für einzelne Länder durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Aus diesem Grund zeigt der SSI den Indexwert für die einzelnen Volkswirtschaften gesondert an. Tatsächlich variiert die Wahrscheinlichkeit für das Aufkommen von Stagflation zwischen den Volkswirtschaften sehr stark. Japan bildet mit einem Indexwert von rund 90 Punkten das Schlusslicht in dieser Betrachtung. Aufgrund der anhaltenden japanischen Deflation (VPI 2011: -0,2%) ist dieses Ergebnis kaum verwunderlich. Auch die langfristigen Zinsen, eine wichtige Determinante des Stagflationsmaßes, liegen mit 1,1% deutlich unter dem Durchschnitt der übrigen im Schaubild dargestellten Länder (5,2%). Überraschen mag das Ergebnis für die USA, welche in 2011 mit relativ hohen Inflationsraten zu kämpfen hatte. Aufgrund der positiven US-amerikanischen Konjunkturaussichten ist der SSI von 93,46 Punkten jedoch nicht weiter erstaunlich. Deutschland rangiert in der Betrachtung im Mittelfeld, liegt jedoch noch hinter Frankreich und Großbritannien.
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In starkem Maße gefährdet sind hingegen die PIGS-Staaten: Der SSI für Irland (112,96 Punkte), Portugal (114,40) und Griechenland (119,74) liegt deutlich über dem Niveau des ASI (101,00). Spanien (103,33) liegt nur knapp über dem Durchschnitt der Weltwirtschaft und stellt somit in der Gruppe der PIGS die Ausnahme dar.
V
Ein kurzes Fazit
Blickt man auf die makroökonomischen Eckdaten derjenigen Länder, für die der SSI überdurchschnittlich hohe Werte annimmt, so wird die stagflationäre Gefahr deutlich: Sowohl die Arbeitslosenquoten (SPA: 23,3%, GRE: 19,9%, IRL: 14,8%, POR: 14,8%), als auch die langfristigen Zinsen (SPA: 5,4%, GRE: 15,7%, IRL: 9,6%, POR: 10,2%) sind in diesen Ökonomien derzeit relativ hoch. Gleichzeitig attestiert der IMF (siehe hier und hier) den PIGS für 2012 einen weiteren Rückgang der wirtschaftlichen Leistung (im Schnitt: -1,02%). Die Kardinalsfrage ist nunmehr jene nach der Entwicklung des Preisniveaus in Europa und der Welt. Gegenwärtig gehen eine Reihe von Ökonomen davon aus, dass die Preise im Zuge der fortschreitenden Geldmengenausweitung deutlich anziehen werden. Ähnliche Überlegungen wurden vor Kurzem auf diesem BLOG angestellt. Jüngst hat auch die EZB ihre Inflationsprognose für 2012 deutlich nach oben korrigiert. So geht die europäische Notenbank nunmehr von einer Teuerungsrate in Höhe von 2,4% aus. Zwar liegt die Inflation damit aktuell noch deutlich unter dem Niveau der 1970er Jahre. Auch der Stagflationsindex bewegt sich 2012 – verglichen mit der Historie – gerade noch in einem akzeptablen Rahmen. Sollte Lüder Gerken, Direktor des Centrums für Europäische Politik, mit seiner Einschätzung des 10%-Inflationsziels der EZB allerdings recht behalten, so könnte das Thema der Stagflation in naher Zukunft wieder deutlich an Bedeutung gewinnen.
Literatur
BERTHOLD, NORBERT / GRÜNDLER, KLAUS (2012): Stagflation in the World Economy: A Revival?, Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik (Universität Würzburg), Nr. 117.
BRUNO, MICHAEL / SACHS, JEFFREY (1985): Economics of Worldwide Stagflation, Harvard University Press, Harvard (USA).
BURBRIDGE, JOHN / HARRISON, ALAN (1984): Testing for the Effects of Oil-Price Rises using Vector Autoregressions, International Economic Review, Vol.25, No.2 (Jun., 1984), pp.459-484.
DEN HAAN, WOUTER J. / SUMNER, STEVEN W. (2004): The Comovement between Real Activity and Prices in the G7, European Economic Review, Vol.48, No.6, pp.1333-1347.
HAMILTON, JAMES D. (2009): Causes and Consequences of the Oil Shock of 2007-08, NBER Working Paper No. 15002.
JIMENEZ-RODRIGUEZ, REBECA / SANCHEZ, MARCELO (2010): Oil-induced stagflation: a comparison across major G7 economies and shock episodes, Applied Economics Letters, Taylor and Francis Journal, Vol.17, No.15 (2010), pp.1537-1541.
KILIAN, LUTZ (2009): Oil Price Shocks, Monetary Policy and Stagflation, CEPR Discussion Papers No.7324.
RÖGER, WERNER (2005): International Oil Price Changes: Impact of Oil Prices on Growth and Inflation in the EU/ OECD, International Economics and Economic Policy, Vol.2, No.1 (2005), pp.15-32.
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Müssen wir in Zukunft wieder mit Stagflation rechnen?“