OECD-Empfehlung und Reformfreude der Deutschen
Zur Diskussion um das Renteneintrittsalter

Deutschland im Jahr 1997: Reformstau ist das Wort des Jahres. Über vier Millionen Arbeitslose prägen zu dieser Zeit das Land. Hohe Lohnkosten – vor allem aufgrund der hohen Lohnnebenkosten – machen Arbeit in Deutschland aus der Sicht der Unternehmen teuer. Ein rigider Kündigungsschutz lässt das Einstellen neuer Beschäftigter für Unternehmen zu einem hohen Risiko werden. Gleichzeitig sorgen ein gut ausgebautes System der Frühverrentung und eine an den vorherigen Arbeitslohn gekoppelte, generöse Arbeitslosenhilfe für eine relativ gute Absicherung der Entlassenen. Doch das Rumoren im Staat wird lauter – die vielen Arbeitslosen und Frührentner können nicht mehr finanziert werden. Es sei denn, die Lohnnebenkosten werden weiter erhöht. Diese Kosten für Sozial- und Rentenversicherung sind aus Sicht der Wirtschaft aber so hoch, dass weiterer Stellenabbau droht. Viele Unternehmen nutzen den arbeitssparenden technischen Fortschritt zum Stellenabbau, andere verlagern die arbeitsintensive Produktion ins Ausland. Die Sozialversicherung erodiert, die Alterspyramide stellt sich auf den Kopf, die Globalisierung und der technische Fortschritt werden von vielen aus Bedrohung wahrgenommen. Deutschland ist nicht reif für die Zukunft.

Auf den Platz zwei der Wörter des Jahres wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache die Redewendung „Ruck durch Deutschland“. Bundespräsident Roman Herzog hat gesprochen:

„Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“.
Roman Herzog, Berliner Rede, 1997

Roman Herzog nimmt in seiner Berliner Rede kein Blatt vor den Mund. Er geißelt die deutsche Regulierungswut, den Bürokratismus, die Überfrachtung des Staates mit zu vielen Aufgaben, Lohnnebenkosten, zu hohe Lohnabschlüsse und Subventionen.

2005, acht Jahre später, unternimmt Gerhard Schröder mit den Hartz-Reformen einen politisch mutigen Schritt zur Reform des Sozialstaats – er schafft die Arbeitslosenhilfe ab. Hartz IV steht im Fall der Entlassung als Schreckgespenst an der Wand. Die Tarifpartner agieren wie vorgesehen, vor allem die Klientel der Gewerkschaften hat zunehmende Angst vor dem Schreckgespenst. Die Tarifabschlüsse, ohnehin ob der Krise schon moderat, sorgen dafür, dass die Reallöhne bis 2008 stetig abnehmen. Die Lohnkosten sinken. Die Folge ist ein deutsches Beschäftigungswunder. In nur drei Jahren sinkt die Arbeitslosigkeit von fünf auf drei Millionen Arbeitslose. Die Arbeitslosenversicherung, zuvor chronisch unterfinanziert, hat plötzlich Überschüsse. Sogar ihr Beitragssatz wird gesenkt. Selbst in der letzten schweren Wirtschaftskrise, deren Auslöser die nicht funktionierenden Finanzmärkte waren, blieb die Arbeitslosigkeit gering. Statt Arbeitslosigkeit droht, so die Wirtschaft, ein Fachkräftemangel auf uns zu zukommen.

Doch die Bevölkerung sieht die Reformen kritisch – und wählt die Regierung ab. Spätestens dies belegt: Der Reformstau ist nicht (nur) ein Phänomen auf der Ebene der politisch Handelnden, er liegt auch ursächlich in der fehlenden Reformfreudigkeit des Wahlvolks.

Dabei bedarf unser Sozialstaat, allen voran unsere Rentenversicherung, weiterer Reformen. Die Globalisierung, der technische Fortschritt und allen voran der demografische Wandel schreiten voran. Deutschland drohen neue Anpassungslasten. Das politische System aber hat sich nicht verändert, nach wie vor drohen Blockadehaltungen, nach wie vor wird Reformwilligkeit auch von der Bevölkerung in Wahlen nicht ausreichend honoriert – gerade wenn es darum geht, Elemente des Sozialstaates abzubauen.

Rentengarantien auszusprechen oder zu behaupten, die Deutschen kämen ohne bedeutende Einschnitte im Rentenniveau um eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters herum, ist in der gegenwärtigen Situation unverantwortlich. Denn der demografische Wandel wird zu einer enormen Schrumpfung des Erwerbspersonenpotenzials führen. Gleichzeitig wird der Anteil der Rentner in unserer Gesellschaft deutlich steigen. Dies bedeutet, dass ein gleich bleibendes Rentenniveau nur erzielt werden kann, wenn die Jungen pro Kopf dafür immer höhere Anteile ihres Einkommens opfern – oder wenn sie länger arbeiten gehen. Rentengarantien belasten so einseitig die junge Generation.

Die OECD fordert dementsprechend jetzt, dass das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt wird – und folglich in Deutschland steigen muss. Die deutsche Bevölkerung sieht dies kritisch.

Auch wenn diese Reformen manchmal unpopulär sind und wehtun, können sie in einer Zeit knapper öffentlicher Finanzen und begrenzter Spielräume bei der Fiskal- und Geldpolitik auch dazu dienen, das dringend benötigte Wachstum in alternden Volkswirtschaften voranzutreiben„, so Generalsekretär Angel Gurria bei der Vorstellung des OECD-Rentenberichts 2012.

Doch Reformen vor allem in der Rentenversicherung durchzuführen, ist in Deutschland fast unmöglich. Die Abneigung zu nötigen Reformen ist tief in der Bevölkerung verwurzelt.

Warum aber gibt es – ähnlich wie vor den Reformen von 2005 – diese Beharrungsmentalität? Vieles lässt sich mit der Angst davor, im Falle von Reformen Besitzstände zu verlieren, erklären. Aber längst nicht alles: Eine Bevölkerungsumfrage im Auftrag des Roman Herzog Instituts veranschaulicht das Dilemma der Politik am Beispiel der Rentenversicherung. Das Roman Herzog Institut fragte in diesem Kontext in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage im Herbst 2010, welche der drei folgenden Reformvorschläge die Menschen als gerecht empfänden:

  • eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit,
  • eine Verringerung der Rentensteigerungen oder
  • eine Erhöhung der Beitragszahlungen der jüngeren Generation.

Die Antwort ist ernüchternd: Jeder der drei Vorschläge wird von 62 bis 71 Prozent der deutschen Bevölkerung als ungerecht bewertet (siehe Abbildung). Dies bedeutet aus der Sicht eines Politikers, dass er keine der drei Maßnahmen umsetzen kann, ohne gegen den Mehrheitswillen zu verstoßen! 40 Prozent der Bevölkerung finden zudem alle drei Vorschläge gleichermaßen ungerecht! Für sie gibt es damit keine umsetzbare Problemlösung, die diese Menschen als gerecht akzeptieren würden.

Unmöglichkeitsdreieck
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Es ist wohl auch viel Status quo Bias in Verbindung mit nicht umsetzbaren Gerechtigkeitsvorstellungen, der die Deutschen reformunwillig macht. Für Politiker macht dies Reformen des Renteneintrittsalters zu einer heiklen Angelegenheit: Das Wahlvolk droht ihnen bei der Durchführung sinnvoller, ja überfälliger Reformen mit einer Abwahl. Für Medien, Wissenschaft und Politik hingegen ist Aufklärung der Bevölkerung das zentrale Gebot.

Eine Antwort auf „OECD-Empfehlung und Reformfreude der Deutschen
Zur Diskussion um das Renteneintrittsalter

  1. Hinzu kommt, dass die Altersvorsorgepflicht nun auch noch im Raum steht: http://www.finanzen.de/news/13071/oecd-fordert-altersvorsorgepflicht-nicht-nur-fuer-selbstaendige
    Gerade für junge Unternehmer kann das erhebliche Schwierigkeiten besonders in der Start-Up-Phase bedeuten. Meist steht wenig Geld zur Verfügung, welches dann in das Unternehmen investiert werden muss, um sich im starken Wettbewerb durchzusetzen. Da kann noch kein Unternehmer an Altersvorsorge denken. Eine gesamteuropäische Lösung würde hier scheitern wie der Euro. Das Prinzip der kritischen Macht von Leopold Kohr sollte hier als Vorbild gelten. http://www.zeit.de/2012/26/Leopold-Kohr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert