Am 20. März 2014 jährt sich zum 64. Mal der Todestag von Walter Eucken, dem Begründer des Ordoliberalismus. Seine letzte Ruhestätte fand er auf einem kleinen Friedhof in Freiburg, dem wichtigsten Ort seines Wirkens. Es ist nicht bekannt, ob es dort in den letzten Wochen unruhig geworden ist. Denn eigentlich müsste Eucken sich im Grabe herumdrehen angesichts der aktuellen Berliner Koalitionsverhandlungen. Vom Geist seiner Freiburger Schule, ja überhaupt der marktwirtschaftlichen Grundprinzipien, ist dort nichts mehr zu spüren. Vielmehr zeichnet sich dort ein nochmals beschleunigter Weg in den Neo-Interventionismus ab, der auch schon kennzeichnend für die vergangene Legislaturperiode war:
- Beispiel Arbeitsmarktpolitik: Nachdem schon in den vergangenen Jahren das Netz von branchenspezifischen Mindestlöhnen immer enger geknüpft worden war, ist nun ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 € praktisch beschlossene Sache. Zudem werden die Liberalisierungen besonderer Arbeitsverhältnisse wie Zeitarbeit und befristeter Arbeit wieder ein Stück weit zurückgedreht.
- Beispiel Wohnungspolitik: Bereits die letzte Bundesregierung hatte die Mieterhöhungsgrenzen für bestehende Mietverträge von bisher 20% auf 15% in Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten gesenkt. Nunmehr wird in diesen Gebieten auch für Neuvermietungen eine sogenannte Mietpreisbremse eingeführt, wonach die Miete (außer bei Erstbezug) maximal um 10% über dem Mietspiegel liegen darf.
- Beispiel Frauenpolitik: Schon seit 2001 müssen im Öffentlichen Dienst Frauen bei (besser gesagt: trotz) gleicher Qualifikation gegenüber männlichen Bewerbern bevorzugt eingestellt werden. Trotz deutlicher Kritik des Europäischen Gerichtshofs bereits an dieser geschlechterdiskriminierenden Regelung werden inzwischen quantitative Frauenquoten auch für die Privatwirtschaft gefordert und dürften bald Eingang in die Gesetzgebung finden.
- Beispiel Energiepolitik I: Schon lange ist es nicht mehr Privatsache, wie viel Energie die eigene Wohnung oder der eigene Kühlschrank verbraucht und welche Art von energiesparenden Maßnahmen man ggfs. trifft. Dies wird vielmehr in zunehmend planwirtschaftlicher Weise vom Staat vorgeschrieben. Die erste sogen, Energieeinsparverordnung (EnEV) trat 2007 in Kraft und ist seitdem stetig verschärft worden, die vierte Novellierung (EnEV 2014) wurde im Oktober diesen Jahres noch von der amtierenden Bundesregierung beschlossen.
- Beispiel Energiepolitik II: Auch die Art und Weise, wie Energie überhaupt erzeugt wird, ist seit der sogenannten Energiewende staatlicherseits exakt vorgegeben. Gemäß dem Energiekonzept der Bundesregierung von 2011, das teilweise bereits Eingang in das sogenannte Erneuerbare Energien-Gesetz (EEG) gefunden hat, sollen z.B. die erneuerbaren Energien bis 2020 mit einem Anteil von 35 Prozent beitragen, bis 2030 mit 50 Prozent, bis 2040 mit 65 Prozent und bis 2050 mit 80 Prozent. Das Konzept enthält noch zahlreiche weitere Quantifizierungen dieser Art, bis hin zum Anstieg der Energieproduktivität um 2,1% pro Jahr, der ebenfalls vorgegeben wird.
Aber nicht nur in die wirtschaftlichen Entscheidungen, auch in das Privatleben seiner Bürger greift der Staat immer weiter ein. Rauchverbote, Glühbirnenverbot, Fettsteuer, Helmpflicht selbst für Fahrradfahrer, Einschränkungen von verkaufsoffenen Sonntagen, Motorroller-Verbot, Prostitutionsverbot, Unisex-Tarife – das sind nur einige der zahllosen Ge- und Verbote, die in der jüngsten Zeit ernsthaft diskutiert oder bereits realisiert wurden. Zugleich werden laufend die Kontrollen und Strafen verschärft für die Bürger, welche sich an die staatlichen Anordnungen nicht halten. Besonders markante Beispiele sind hier die sogenannten Blitzermarathons, bei denen mit großem Polizeiaufgebot Jagd auf Bagatell-Verkehrssünder gemacht wird, sowie die sogen. Steuer-CDs, bei deren Erwerb der Staat selbst vor dem gesetzwidrigen Ankauf von Hehlerware nicht haltmacht.
Damit nähert sich die Politik wieder einem Staatsverständnis, wie es für das Zeitalter des Merkantilismus charakteristisch war. Adam Smith beschreibt in seinem „Wohlstand der Nationen“ anschaulich den damals herrschenden Staatsinterventionismus, der nicht nur die wirtschaftliche Freiheit im Inneren stark regulierte und besteuerte, sondern auch für den Import unerwünschter Auslandsware schwere Strafen bis zur Hinrichtung vorsah. Nachdem der Liberalismus dieses totalitäre System – nicht zuletzt durch den Einfluß Adam Smiths – hinweggefegt hatte, kam es im Neomerkantilismus nach 1870 zu einem erneuten Pendelschlag in die andere Richtung. Auch die Weimarer Republik war alles andere als eine Zeit wirtschaftlicher Freiheit, vielmehr herrschten weithin mächtige Kartelle und Verbände, sowohl auf Unternehmens- als auch auf Arbeitnehmerseite. Zudem war inzwischen die Idee des Sozialismus aufgekommen, der ganz offen als Diktatur des Proletariats firmierte. Wie sich später zeigen sollte, hat es tatsächlich niemals eine sozialistische Volkswirtschaft gegeben, in der nicht auch die politische und persönliche Freiheit massiv beschränkt gewesen wäre.
Vor diesem historischen Hintergrund muss man die Entstehung der ordoliberalen Idee verstehen. Sie wurde von einer Gruppe von Ökonomen und Juristen entwickelt, die einen „dritten Weg“ zwischen dem klassischen laissez-faire-Liberalismus und dem Sozialismus suchten. Unumstrittener geistiger Anführer der Freiburger Schule war Walter Eucken, dessen Werke „Die Grundlagen der Nationalökonomie (1939) sowie „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ (posthum, 1952) heute noch lesenswert sind und den Kern der ordoliberalen Idee enthalten. Eucken war Sohn des Literatur-Nobelpreisträgers Rudolf Eucken und beschäftigte sich neben Ökonomie und Rechtswissenschaft auch mit Philosophie und Geschichte. Er war alles andere als ein Vertreter des „Wirtschaftsflügels“, wie man marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen heute vielfach tituliert. Als protestantisch erzogener Asket wandte er sich konsequent gegen jede Art von Machtzusammenballung und trat auch offen gegen den Nationalsozialismus auf. Obwohl er auch kapitaltheoretisch gearbeitet hat und großen Wert auf theoretische Fundierung legte, war seine ökonomische Herangehensweise im Wesentlichen nicht mathematisch-formal und immer um Allgemeinverständlichkeit bemüht. Heute wird den Ordoliberalen diese Methodik als „Marktideologie“ vorgeworfen, was allerdings nur zeigt, wie weit sich die Ökonomie inzwischen von einer Gesellschaftswissenschaft zu einer Pseudo-Naturwissenschaft fehlentwickelt hat, ohne indessen deren Stringenz auch nur annähernd zu erreichen.
Der Ordoliberalismus fußte auf einigen grundlegenden Ideen, die Eucken als konstituierende und regulierende Prinzipien der Marktwirtschaft (das Adjektiv sozial fehlte damals noch) bezeichnete. Dazu gehörten insbesondere Vertragsfreiheit und Haftung, Privateigentum und Wettbewerb, offene Märkte und ein funktionsfähiges Preissystem sowie Geldwertstabilität und Konstanz der Wirtschaftspolitik. Das sind – nicht zuletzt nach der jüngsten Finanzkrise – auch heute noch absolut aktuelle Grundsätze, auch wenn sich die Terminologie seit Euckens Zeiten etwas verändert hat. So würde man heute „Primat der Währungspolitik“ mit Stabilität des Geldes und der Finanzmärkte übersetzen, und mit „Konstanz der Wirtschaftspolitik“ meinte Eucken nichts anderes als Verläßlichkeit und Nachhaltigkeit wirtschaftspolitischer Weichenstellungen. Wie sehr eine Verletzung des Haftungsprinzips (etwa im Bankensektor) zu Fehlinvestitionen und zur Destabilisierung von Märkten beiträgt, hat ebenfalls die Finanzkrise, aber auch die aktuelle Schuldenkrise im Euroraum gezeigt. Und wohin man kommt, wenn der Staat in wettbewerblich gebildete Knappheitspreise eingreift, zeigen entsprechende Fehlentwicklungen etwa auf den Wohnungs- und Arbeitsmärkten z.B. in Spanien, wo es als Folge eines solchen Interventionismus exorbitant hohe Arbeitslosigkeit und praktisch keinen funktionierenden Immobilienmarkt mehr gibt.
Deutschland steht heute in fast jeder Hinsicht besser da als seine europäischen Partnerländer. Dem „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg folgte das „German Jobwunder“ nach der Finanzkrise, obwohl diese Deutschland als Exportnation eigentlich besonders stark hätte treffen müssen. Als Begründung wird oft auf die Tüchtigkeit der deutschen Unternehmer (insbesondere des Mittelstands) und ihrer Arbeitnehmer (insbesondere der Ingenieure, Facharbeiter und Handwerker) verwiesen. Aber das sind nur Symptome tiefer liegender Ursachen. Diese sind vor allem in der noch immer vergleichsweise marktwirtschaftlichen Grundausrichtung der Wirtschaftspolitik zu sehen. So war die Ausbildung der Menschen in der früheren DDR keineswegs schlechter als im Westen, eher sogar besser, wie aktuelle Vergleiche der schulischen Leistungen immer noch zeigen. Der eklatante Unterschied in der ökonomischen „Performance“, wie man dies heute zu nennen pflegt, lag deshalb nicht hier, sondern allein in der unterschiedlichen Wirtschaftsordnung begründet.
Wo der Staat über angemessene Löhne, Preise und Produkte entscheidet, leidet aber nicht nur die ökonomische Effizienz, sondern auch die Freiheit der Bürger. Auf diesen Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik („Interdependenz der Ordnungen“) haben gerade die Ordoliberalen um Walter Eucken immer wieder hingewiesen. Sie traten daher für eine klare Grenzziehung zwischen dem ein, was der Staat regeln darf und muss, und dem, was reine Privatsache seiner Bürger ist. Nur für den erstgenannten Bereich gilt dabei das Demokratieprinzip: Über den Verlauf einer Straße oder die Anschaffung einer Straßenlaterne kann eben nicht sinnvoll jeder allein entscheiden, und darum soll dies nach dem Willen der Mehrheit geschehen. Aber ob man sich ein großes oder ein kleines Auto kauft und wie viel und wohin man damit fährt, ist reine Privatsache und geht darum den Staat nichts an. Bestenfalls kann er das Autofahren verteuern, etwa um externe Umweltkosten zu internalisieren, was auch Eucken schon ausdrücklich anerkannt hat (er sprach von „Korrektur der Wirtschaftsrechnung“). Das ist aber etwas ganz anderes, als Flottenverbräuche vorzuschreiben oder gar die gefahrene Kilometerzahl staatlicherseits zu rationieren. Das eine ist Ordnungspolitik, das andere ist Ordnungsrecht – ein Unterschied, der heute in der Politik kaum noch gesehen oder bewußt verwischt wird.
Hier liegt das eigentliche Problem des derzeitigen wirtschaftspolitischen Pragmatismus, bei dem der Zweck letztlich jedes Mittel rechtfertigt. Dabei spielt auch die starke Bedeutung der empirischen Evidenz eine ungute Rolle, welche wirtschaftspolitischen Entscheidungen heute zugewiesen wird. Denn ob der Staat mündigen Bürgern vorschreiben darf, welche Löhne und Preise sie untereinander vertraglich vereinbaren, ist nicht nur eine Frage statistischer Signifikanzniveaus, was die unmittelbaren ökonomischen Folgen betrifft. Es ist vielmehr eine gesellschaftspolitische Grundsatzfrage, die weit mehr berührt als nur die unmittelbaren Folgen auf Beschäftigung und Einkommensverteilung. Erlauben wir dem Staat erst einmal, uns Mindestlöhne und Höchstmieten vorzuschreiben, ist es bis zur grundsätzlichen staatlichen Preis- und Lohnsetzung nicht mehr weit. Schon wird etwa verlangt, aus Gründen der Geschlechtergleichstellung die Löhne in solchen Branchen, in denen überwiegend Frauen tätig sind, überdurchschnittlich anzuheben. Und in der Energiewirtschaft sind staatliche Festpreise (auf 20 Jahre garantiert) für erneuerbare Energieträger bereits Realität. Der schleichende Weg von der Markt- in die Planwirtschaft hat also längst begonnen. Das sollte uns nicht nur hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen, sondern auch in Bezug auf die immer größere Macht des Staates Sorgen machen.
Beiträge der Serie „Ordnungspolitische Denker heute“:
Wolf Schäfer: Verkehrswege in Deutschland: Falsche Institutionen
- Gastbeitrag
Überschussliquidität der Banken in Corona-Notkredite umwandeln - 18. März 2020 - Gastbeitrag
Warum die Soziale Marktwirtschaft ins Grundgesetz gehört - 24. Mai 2019 - Gastbeitrag
Target2 für Lummerländer - 27. Januar 2019
Wer hat Zugang zu den Photokopiergeräten der drei Granden in den laufenden Koalitionsverhandlungen, um Ulrich van Suntums Post als Tischvorlage dort hineinzuschmuggeln?