Wem gehören die Organe? – Verfügungsrechte in der Transplantationsmedizin
“Mehr Ethik“ weniger Transplantationen

Vorbemerkung

Die Transplantationsmedizin hat medizinisch betrachtet große Erfolge im Einzelfall vorzuweisen. Als gesellschaftlicher Prozess ist der Zustand vor allem in Deutschland mangelhaft. Verbesserungen der Rechtslage erscheinen dringend nötig. Dazu gehören insbesondere auch konkrete Maßnahmen wie etwa die Sicherung auskömmlicher Honorare für die potentielle Spender identifizierenden und Organe entnehmenden Krankenhäuser. Die konkreten Schritte, die der gegenwärtige Gesundheitsminister tatkräftig auf den Weg gebracht hat, sind nach langer Zeit erstmalig wieder geeignet, die Transplantationszahlen im Interesse der schwerkranken Wartenden zu erhöhen. Das ist nachdrücklich zu begrüßen. Unter dem kalten Stern der Knappheit helfen Prozessverbesserungen mehr als jede Diskussion darüber, wie über Organe verfügt werden soll. Die nachfolgenden Bemerkungen sind daher eher als Aufruf zu verstehen, die mannigfachen inneren Inkohärenzen der Grundsatzdebatte anzuerkennen und sich lieber auf das Konkrete zu konzentrieren.

Joshua Lederberg und die Versicherung auf Gegenseitigkeit

Am 03.12.1967 gelang Christiaan Barnard die erste Herz-Transplantation. Eine Woche später, am 10.12.1967, fragte sich der Nobelpreisträger für Medizin (1958) Joshua Lederberg bereits in der Washington Post, wie man in Zukunft den Bedarf an Organen würde decken können. Er schlug eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit vor, in dem der Zugang zu Organen aufgrund vorheriger eigener Spendenbereitschaft unter Beachtung der Verfügungsrechte der potentiellen Spender zu Lebzeiten geregelt werden sollte.

Der Vorschlag entspricht den Alltagsvorstellungen von Solidarität und Gegenseitigkeit, die wir sonst im Bereich der solidarischen Krankenversicherung anwenden. Dem sozialistischen und auch christlichen Solidarprinzip des “jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” kann im Falle der Bereitstellung von Organen für die Organtransplantation durch einen Verein auf Gegenseitigkeit in offenkundiger Weise entsprochen werden.

Wer sich selber zuvor für den Fall des eigenen Ablebens als Organspender registrieren ließ, erhält, folgt man Lederberg und dem Alltagsverstand, beim Zugang zu Organen Priorität. Es geht dabei nicht darum, andere vom Zugang zu Organen, die bereits zur Verfügung stehen, auszuschließen. Da im status quo die Gemeinschaft nicht über die Organe verfügt, geht es vielmehr darum, bedingte Spendenverfügungen zu sammeln, sodass allererst Organe von den ursprünglich Verfügungsbrechtigten zur Verfügung gestellt werden.

Da alle lebenden Individuen funktionsfähige Organe besitzen, können sie entsprechende Spendenverfügungen zu Lebzeiten treffen. Gerechtigkeitsbedenken aufgrund ungleicher Ressourcenausstattung können insoweit keine Rolle spielen.

Ganz im Gegenteil ist es so, dass sich jede Lösung, die die eigene vorausgehende Spendenbereitschaft beim Organempfang nicht berücksichtigt, einem schwerwiegenden Gerechtigkeitsproblem ausgesetzt sieht. Denn es ist schwer nachzuvollziehen, warum von zwei gleich geeigneten und gleich bedürftigen potentiellen Empfängern ausgerechnet derjenige ein Organ erhalten darf, der ausdrücklich zu Lebzeiten einer postmortalen Organentnahme für sich selbst widersprochen hat, während derjenige, der als sein eigener Bedarf noch nicht absehbar war, stets spendenbereit war, de facto zurückgesetzt wird.

Überdies wird man ein Motiv, nur für diejenigen spenden zu wollen, die selbst zu Spenden bereit sind, für ethisch respektabel halten müssen. Sie wollen anderen helfen, aber sie wollen keineswegs die mangelnde Hilfsbereitschaft anderer auch noch unterstützen.

Allmende- und Club-Organisation

Die Organisation als öffentlich-rechtlicher Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit harmoniert auch mit verbreiteten ethischen Konzeptionen von der Organisation des sozialen und wirtschaftlichen Lebens, wie sie etwa durch das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Sozial-Lehre zum Ausdruck gebracht werden. Nach dem Prinzip der Subsidiarität sollte der Staat nur die Dinge regeln, die seine Bürger auf sich gestellt nicht oder nicht mit angemessenem Aufwand bzw. in angemessenem Ausmaß selbst regeln können.

In Deutschland wäre ein derartiges Vorgehen allerdings chancenlos, weil der Staat —  auf welcher  ethischen Grundlage auch immer —  die Verfügungsmacht über alle postmortal zur Verfügung stehenden Transplantate für sich allein reklamiert und nicht (mehr) zuläßt, sie als „Allmende“ zu behandeln. Die ursprünglichen Institutionen der Transplantationsmedizin in Deutschland bis zum Erlass des Transplantationsgesetzes 1997 waren tatsächlich von dieser Art.

Es waren nicht-staatliche Arbeitsgemeinschaften von Transplantationszentren, in denen die Zentren mit umliegenden Kliniken informelle Kontakte pflegten, um sie zur Mitwirkung an der Organgewinnung zu motivieren. Die Organspende kam aufgrund derartiger nicht-staatlicher Initiativen in Gang. Kliniken im Nahbereich meldeten Patienten an nahegelegene Zentren und unterstützten die an die Angehörigen zu richtende Bitte um die Entnahmegenehmigung.

Insbesondere konnte über mindestens eine der paarig zu entnehmenden Nieren am Zentrum verfügt werden, während eine häufig weitergegeben wurde, um eine bessere Gewebeverträglichkeit und medizinische Eignung des Organs an anderer Stelle zu erlauben. Dieser Austausch zwischen Zentren erfolgte auf Gegenseitigkeit und erhielt bei den Zentren den Anreiz am Prozess sowohl Organe gewinnend als auch austauschend teizunehmen.

Ökonomen würden gern noch weiter gehen und eine reine Club-Organisation auf der Basis klarer individueller Eigentumsrechte befürworten. Eine Internetplattform, die eine “common pool ressource” ohne unterstützende soziale Struktur als Netzwerk anonymer Verträge überhaupt erst aufbauen will, kann das Ziel jedoch nicht erreichen.

Solange noch nicht hinreichend viele Individuen im Club sind, gibt es für nicht intrinsisch zur Club-Mitgliedschaft motivierte Individuen keinen hinreichenden Anreiz, dem Club beizutreten: Erst dann, wenn schon große Anzahlen von Individuen in einem derartigen Klub sind, wird die Wahrscheinlichkeit, in dem Club ein passendes Organ zum passenden Zeitpunkt zu finden, hinreichend hoch, um einen Beitritt zu motivieren.

Dave Undis, der vor 20 Jahren in den USA einen Club “Lifesharers” als Internetplattform gründete, hat nicht bedacht, dass es neben Staatsversagen auch Club-Versagen gibt. Er scheiterte, wo die die Allmende-Organisation funktionierte.

Gegen die funktionierende Allmendeorganisation wurde vor allem in Deutschland eingewandt, dass die Chancen ein Transplantat zu erhalten, an den dezentral Organe gewinnenden Zentren ungleich verteilt waren. Das Resultat war die zentrale Organverteilung nach dem bereits erwähnten TPG (Traurige PAtienten Gesetz von 1997), deren Einführung natürlich auch von den in der Gewinnung von Organen weniger erfolgreichen oder aktiven Zentren mitbetrieben wurde.

Staatliche Organisation

Abgesehen davon, dass sich hier vermutlich typisch deutsche Verwaltungsfreude mit ihrer Präferenz für zentrale staatliche Lösungen durchsetzte, gab es vermutlich auch ein Unbehagen, dass eine Reziprozitätslösung, die an ein vorheriges Verhalten vor der Krankheit anknüpft, eine Abkehr vom unbedingten Versorgungsauftrag und  Garantien der Gesundheitsversorgung ausschließlich nach Gesichtspunkten der Bedürftigkeit beinhalten könnte. In der deutschen Diskussion wurden Vorschläge, die auf Reziprozität und Versicherungsprinzipien setzen, ungeachtet der allgemeinen Rede von der öffentlichen Krankenversicherung jedenfalls niemals ernst genommen.

Eine Art Lebensführungsschuld, die Behandlung danach priorisiert, wie sich die behandlungsbedürftige Person in ihrem vorausgegangenen Leben verhalten hat, wird zwar immer wieder bei Rauchern und anderen Sündern in’s Spiel gebracht. Bei näherer Überlegung möchte man sie aber lieber nicht einführen

In einem reichen westlichen Rechtsstaat werden konkret und akut gefährdete menschliche Leben nahezu bedingungslos gerettet, sofern die Möglichkeit dazu besteht. Die verschütteten Bergleute werden, “koste es, was es wolle”, aus der Erde geholt und das sprichwörtlich in den Brunnen gefallene Kind muss einfach herausgeholt werden. Das auf der Straße gefundene Unfallopfer wird ohne Prüfung der Zahlungsfähigkeit zur Rettungswache gebracht (und das gilt auch in den USA, wo die Chancen zu überleben, dann besonders hoch sind, aber die Möglichkeit, im Anschluss finanziell ruiniert zu sein, ebenfalls).

Was man allerdings bei alledem nicht verdrängen darf, ist die Bedingung, dass Hilfe überhaupt möglich sein muss, ohne dass andere von der konkreten Hilfe ausgeschlossen werden. Die Hilfsverpflichtung ist das eine, die Notwendigkeit, etwa im Falle unzureichender Kapazitäten von Intensivstationen Personen, die an sich vom Zugang profitieren würden, von diesem auszuschließen, weil andere Personen noch stärker davon profitieren würden, darf man als stillschweigende Voraussetzung nicht übersehen.

In der Notaufnahme etwa wird grundsätzlich “triagiert”: von unmittelbarer Lebensgefährdung bedrohte Personen werden zuerst, diejenigen, die mit einem gewissen Zeitverzug zurechtkommen können danach und dann erst diejenigen, die zwar von Hilfe profitieren, dieser jedoch nicht zeitnah bedürfen, behandelt. Hoffnungslose Fälle erhalten nur palliative Zuwendung.

In der Transplantationsmedizin muss man ebenfalls Personen zugunsten anderer Personen von der Behandlung ausschließen. Das geschieht aber anders als in der Katastrophenmedizin gleichsam in Zeitlupe. Dadurch kommen Aspekte zum Vorschein, die man im “gewöhnlichen Katastrophenfall” aufgrund der zeitlichen Begrenzungen gar nicht ins Auge fassen kann. Hier scheint es, da die Knappheit unvermeidlich ist, vernünftig auf Verfügungen der Betroffenen zurückzugreifen, die unmittelbar mit der Entstehung der Knappheit zu tun haben. Wenn man jemanden ausschließen muss, warum nicht den impliziten Selbstausschluss durch eigene Verfügung heranziehen?

Die Selbstgerechtigkeit, mit der von allen berufenen und unberufenen Seiten über Gerechtigkeit in der Organverteilung geredet wird, muss aufhören. Man darf nicht so tun, als verfüge man über Organe und müsse nun ein Verteilungsproblem lösen, bei dem jeder seinen Anteil bekommen könne. Es geht um tragische Knappheit und Menschenleben, wo nicht alle, sondern der eine nur auf Kosten eines anderen versorgt werden können. Wohlmeinendes Gerechtigkeitsgerede ist dem nicht angemessen, zumal man allen landläufigen Gerechtigkeitsvorstellungen wirderspricht, wenn man verfügt, ohne vorherige Verfügungen der Betroffenen zu berücksichtigen. Auch wenn man niemanden ausschließen will, wird es de facto zum Ausschluss kommen.

Mündigen Bürgern sollte der Staat dabei helfen, die Organe, über die sie verfügen, in einem Prozess solidarischer Hilfe anderen Bürgern, die das gleich für sie tun, zur Verfügung zu stellen. Das wäre eine mit den Prinzipien der Hilfe zur Selbsthilfe vereinbare Vorgehensweise. Die konkreten Details müssten und könnten relativ leicht unter Beiziehung der Möglichkeiten der im TPG vorgesehenen zentralen Meldestelle ausgearbeitet werden. Aber vor aller Zukunftsmusik gilt es, erst einmal das Ministerium in seinen konkreten Reformen zu unterstützen. Hoffen wir, dass die Diskussion um Widerspruchs- und Zustimmungslösungen dies nicht behindern wird, sondern die wünschenswerten Reformen im Windschatten der großen Worte realisiert werden können.

Literatur

Lederberg, Joshua. 1967. “Heart Transfer Poses Grim Decisions. Moribund Patient’s Trust Is at Stake.” The Washington Post, December, 10: B1.

Clubversagen

Ahlert, M., 2007. Public and Private Choices in Organ Donation, Homo Oeconomicus 24(2), 269-293.

Solidarität und Reziprozität bei kollektiver Verfügung

Gubernatis, G.; Kliemt, H., A Superior Approach To Organ Donation And Allocation, Transplantation 70: 699-707, 2000

Konkrete Schritte vor großen ethischen Diskussionen?

Breyer, Friedrich, Wolfgang van den Deale, Margret Engelhard, Gundolf Gubernatis, Hartmut Kliemt, Christian Kopetzki, Hans Jürgen Schlitt, und Jochen Taupitz. 2006. Organmangel. Ist der Tod auf der Warteliste unvermeidbar? Berlin und Heidelberg: Springer.

Allmendeorganisation
Ostrom, Elinor. 1990. Governing the Commons. New York: Cambridge University Press.

Blog-Beiträge zum Thema:

Jan Schnellenbach: Die Entscheidung zur Organspende. Sollte sich etwas ändern?

2 Antworten auf „Wem gehören die Organe? – Verfügungsrechte in der Transplantationsmedizin
“Mehr Ethik“ weniger Transplantationen

  1. Das sollte in der Tat der Weg sein. Ich fürchte nur, dass uns Juristen erklären werden, hier läge eine Art Geschäft vor, bei dem unveräußerliche Grund- und Menschrechte zumindest mittelbar tangiert würden, und das ginge gar nicht. Irgendwie stimmt einen so etwas traurig!

  2. Die Frage ist einfach zu beantworten. Das Sklaventum ist abgeschafft. Der Mensch ist frei und sein Körper gehört nur ihm. Das ist so logisch wie einfach. Nennt sich Freiheit.

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