Wenn implizite Staatsschulden explizit werden
Ein Plädoyer für eine gehärtete Schuldenbremse

„Die Corona-Pandemie führt zu einem beschleunigten Anwachsen der Staatsverschuldung, deren unsichtbarer Teil sich mehr und mehr in eine verbriefte Form von Schuldtiteln umwandeln wird.“ (Bernd Raffelhüschen)

Die Staatsverschuldung läuft aus dem Ruder, national, europa- und weltweit. Überall werden gigantische staatliche Rettungspakete auf Pump finanziert. Die Notenbanken erleichtern den staatlichen Schuldenmachern das Geschäft. Sie alimentieren das fiskalische Treiben monetär. Schulden erreichen Höhen wie in Kriegszeiten und das ganz ohne Kriege. Die weltweite Seuche hat verschuldungspolitisch ganze Arbeit geleistet. Allerdings: Der Versuchung, auf Kosten künftiger Generationen zu leben, konnten politisch agierende Generationen noch nie widerstehen. Corona hat es der Politik aber noch leichter gemacht, die fiskalischen Schleusen zu öffnen. Die explodierende explizite staatliche Verschuldung ist allerdings nur die Spitze des Eisberges. Unter der Wasseroberfläche türmt sich der größere Teil der staatlichen Verschuldung auf, die implizite. In den umlagefinanzierten Systemen der staatlichen Alterssicherung etwa werden Leistungsversprechen gegeben, die nicht durch reguläre (Beitrags)Einnahmen gedeckt sind. Der aktive und passive Widerstand von Leistungsempfängern und (Beitrags)Zahlern ist zu stark, die finanziellen Löcher mit sinkenden Renten(niveaus) und steigenden Abgaben (Beiträge, Steuern) zu stopfen. Die Gefahr ist groß, dass aus der impliziten Verschuldung eine explizite wird. Notwendig sind härtere Schuldenbremsen, keine weichgespülten.

Rot-Grüne Rentenreformen

Umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme lavieren ständig am Rande des finanziellen Abgrundes. Sie sind inhärent instabil und kämpfen mit exogenen Schocks. Die Ausgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung laufen den Einnahmen ständig davon, weil sie Opfer von Tarifparteien, Politik, der eigenen Mitglieder und der Art der Finanzierung wird (hier). Tarifpartner versuchen, beschäftigungspolitische Lasten auf die Rentenversicherung abzuwälzen. Die Politik benutzt die Alterssicherung, um Umverteilung zu betreiben. Mitglieder der Rentenversicherung haben vielfältige Anreize zu (demographischem) „moral hazard“. Die primäre Finanzierung über die Arbeit erodiert die eigene Einnahmebasis umlagefinanzierter Alterssicherung. Es sind aber auch exogene Schocks, die solchen Systemen der Alterssicherung stark zusetzen. Vor allem die Demographie ist eine Achillesferse. Rückläufige Geburtenraten, der massenhafte Ausstieg der Babyboomer aus dem Erwerbsleben und steigende Lebenserwartungen entwickeln sich für die Gesetzliche Rentenversicherung zu Problemen. Noch bis Mitte der 30er Jahre muss sie sich damit herumschlagen, wer den Preis für weniger Kinder bezahlen soll. Danach muss sie sich nach einer kurzen Erholungsphase über weitere Jahrzehnte hinweg Gedanken machen, wer die Früchte eines längeren Lebens ernten darf.

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Mit den Rentenreformen der 00er Jahre war die Politik auf einem guten Weg, die Gesetzliche Rentenversicherung nachhaltig zu sanieren. Das ist teilweise gelungen, zumindest bis die Große Koalition im Jahre 2017 zum zweiten Mal die Regierung übernahm. Rot-Grün hat es geschafft, die Tarifpartner stärker an die Kandare zu nehmen. „Überschüssige“ Mengen wurden nur noch in geringerem Umfang durch die Gesetzliche Rentenversicherung aus dem Arbeitsmarkt gekauft. Aber noch immer belasten aktuarisch nicht neutrale Abschläge bei der flexiblen Altersgrenze. Die Umverteilung über die umlagefinanzierte Alterssicherung wurde zumindest nicht weiter ausgebaut. Allerdings gelang es kaum, (demographisches) „moral hazard“ zu verringern. Der Systemfehler aller umlagefinanzierten Systeme der Alterssicherung, die Finanzierung über die Arbeit, wurde nicht korrigiert. Auch die Riester-Rente als weiteres kapitalfundiertes Standbein scheiterte. Gelungen ist es Rot-Grün aber, die erhebliche Nachhaltigkeitslücke, die durch die Demographie entsteht, signifikant zu verringern. Erwerbstätige und Rentner wurden zu (fast) gleichen Teilen an den Sanierungskosten beteiligt. Ein politisch riskanter rentenpolitischer Quantensprung war die Einführung der Rente mit 67.

Rentenpakt der Großen Koalition

Rot-Grün war mit den Rentenreformen auf dem richtigen Weg. Die Nachhaltigkeitslücke sollte verringert, die demographischen Lasten fair auf Erwerbstätige und Rentner aufgeteilt werden. Die Beitragssätze sollten bis auf 22 % steigen, das Rentenniveau auf 43 % sinken, das Regelrentenalter auf 67 Jahre ansteigen und die Rentenversicherung um ein kapitalfundiertes Element ergänzt werden. Der „Da Vinci-Code“ der Rentenversicherung (22-43-67-4) schien gefunden (hier). Das alles gilt seit dem Rentenpakt im Jahre 2019 nicht mehr. Die Große Koalition beschloss, die rot-grüne Rentenreform teilweise rückabzuwickeln. Es wurde eine doppelte Haltelinie eingeführt. Das Rentenniveau darf nicht unter 48 % sinken, die Beitragssätze nicht über 20 % steigen. Um in schweren wirtschaftlichen Krisen zu verhindern, dass das Rentenniveau unter 48 % absinkt, wurde der „Nachholfaktor“ bis 2025 ausgesetzt (hier). Das kostet viel Geld. Mit der „Rente mit 63“ wurde nicht nur die neue Regelaltersgrenze von 67 teilweise ausgehebelt. „Reichere“ Rentner wurden zu Lasten „ärmerer“ Rentner begünstigt. Viel Geld werden auch die umverteilungspolitisch motivierten Reformen der Mütterrente und einer Grundrente ohne Bedarfsprüfung verschlingen.

Der verantwortungslose Rentenpakt der Großen Koalition reißt große Löcher in den Etat der Gesetzlichen Rentenversicherung. Sie lassen sich kaum über spürbar höhere Beiträge und stark sinkende Rentenniveaus stopfen. Weiter steigende Beiträge stoßen an beschäftigungspolitische Grenzen. Schon jetzt liegt die Sozialabgabenquote bei etwa 40 %. Weitere Anstiege verletzen die von der Politik den Arbeitgebern gegebene „Sozialgarantie“ und verstärken die beschäftigungsschädliche Wirkung. Stark sinkende Rentenniveaus gefährden dagegen die Akzeptanz der umlagefinanzierten Alterssicherung. Immer mehr „ärmere“ Rentner erhalten dann Renten in der Nähe der Grundrente oder darunter. Nicht nur ihr individuelles Arbeitsangebot wird sinken, auch die Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung wird schwinden. Die von der Politik geschaffenen Löcher in der Rentenversicherung müssen somit über noch höhere Zuschüsse des Bundes gestopft werden. Die Rente nach Kassenlage wird Realität. Allerdings: Schon gegenwärtig fließt über ein Viertel der Ausgaben des Bundeshaushaltes in die Gesetzliche Rentenversicherung. Hat die doppelte Haltelinie über 2025 hinaus Bestand, wird sich der Bundeszuschuss mehr als verdoppeln (hier). Es ist schwer denkbar, dass über die Hälfte des Bundeshaushaltes für die gesetzliche Rente verausgabt wird. Der öffentliche Haushalt wird durch die steuerliche Querfinanzierung der Renten gesprengt, die Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung endgültig ruiniert.

Versteckte Verschuldung wird sichtbar

Steigen die Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung, steht bei fixem Haushaltsvolumen für andere Ausgaben des Bundes weniger zur Verfügung. Vor allem investive Ausgaben werden unter die Räder kommen, wie eigentlich in der Vergangenheit immer. Sozialausgaben und sonstige Ausgaben wachsen noch stärker asymmetrisch. Das wird dem wirtschaftlichen Wachstum nicht guttun, die Einnahmebasis des Bundeshaushaltes wird erodieren, die Tragfähigkeit der Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung sinken. Es ist auch denkbar, dass der Bundeshaushalt ausgedehnt wird. Das geht nicht ohne höhere steuerliche Belastungen. Der Widerstand der Steuerzahler wird erheblich sein. Das wirkt sich negativ auf das wirtschaftliche Wachstum aus. Die Einnahmen des Bundes werden weniger sprudeln. Es spricht deshalb vieles dafür, dass die Politik den Notausgang über eine höhere staatliche Verschuldung wählen wird. Der Verteilungskampf der Ressorts wird abgemildert, höhere steuerliche Belastungen werden in die Zukunft verschoben. Damit ist aber der größte Druck weg, politisch nach gangbaren Wegen zu suchen, den inter-generativen Verteilungskonflikt in der Rentenversicherung ohne zusätzliche Bundesmittel zu lösen. Aus der impliziten, unsichtbaren Verschuldung in der Gesetzlichen Rentenversicherung wird eine explizite, sichtbare des Bundes.

Vieles spricht dafür, die Budgetbeschränkung des Staates zu härten. Nur so bleibt der rentenpolitische Reformprozess unter Dampf. Die Erfahrung zeigt, inter-generative Verteilungskonflikte sind lösbar. Erwerbstätige und Rentner sind nicht an einem Crash der Rentenversicherung interessiert. Nachhaltig sind solche Lösungen aber oft nicht. Die Rentenreformen der letzten 20 Jahre zeugen davon. Mit den rot-grünen Rentenreformen der 00er Jahre gelang es, (demographische) Lasten fair auf die Generationen aufzuteilen. Nachhaltig waren diese Reformen aber nicht. Mit dem Rentenpakt 2019 wickelte die GroKo die Reformen der 00er Jahre teilweise wieder ab. Für diese kurzsichtigen rentenpolitischen Korrekturen reichten einfache parlamentarische Mehrheiten. Inter-generative Verteilungskonflikte lassen sich nur nachhaltig lösen, wenn rentenpolitische Regeln allein mit qualifizierten Mehrheiten geändert werden können. Binden (rentenpolitische) Entscheidungen die Generationen für viele Jahrzehnte, verhalten sich die Akteure oft quasi-altruistisch (Berthold/Külp, 1984). Bei Verfassungsentscheidungen über Verteilungsfragen besteht die Tendenz, in den individuellen Überlegungen auch die Verteilungsfolgen für andere in einer für diese günstigen Weise zu berücksichtigen. Nachhaltige Reformen werden möglich.

Härtere Budgetrestriktionen

Ein erster Schritt, die Rentenfinanzen nachhaltig zu stabilisieren, wäre eine Rückkehr zu den Rentenreformen der 00er Jahre. Die Maßnahmen des Rentenpaktes 2019 müssten ersatzlos gestrichen werden. Die demographischen Lasten, die vor allem aus einer rückläufigen Geburtenrate und dem Ausstieg der Babyboomer aus dem Erwerbsleben resultieren, würden bis Anfang der 30er Jahre fair auf Erwerbstätige und Rentner aufgeteilt. Ab Mitte der 30er Jahre gilt dann ein anderes demographisches Szenario. Der Geburtenrückgang ist mehr oder weniger ausgestanden, die Babyboomer sind in Rente. Es dominiert das „Problem“ steigender Lebenserwartung. Die Rentenformel muss neu an ein längeres Leben angepasst werden. Es muss entschieden werden, wie die Früchte dieser Entwicklung an Erwerbstätige und Rentner verteilt werden. Akzeptiert die Gesellschaft weiter das inter-generative Werturteil, das Verhältnis von Erwerbs- und Rentenbezugszeit (40 Jahre zu 20 Jahren) nicht zu ändern, muss die erwartete längere Lebenszeit im Verhältnis 2:1 auf Erwerbstätige und Rentner aufgeteilt werden. Erhöht sich die Lebenserwartung weiter in dem Tempo wie bisher, steigt die erwartete Lebenszeit bis Mitte des Jahrhunderts um 3 Jahre. Die Regelaltersgrenze muss auf 69 Jahre angehoben werden. Sinkt  allerdings die Lebenserwartung, sinkt automatisch auch die Regelaltersgrenze.

Es dürfte nicht einfach sein, für den rentenpolitischen Doppelschlag – Rückabwicklung des Rentenpaktes 2019 und an die Lebenserwartung gekoppelte, flexible Rente mit 69 – eine parlamentarische Mehrheit zu finden, die auch längerfristig Bestand hat. Die doppelte Haltelinie hat viele Anhänger. Alle Varianten einer höheren Regelaltersgrenze sind unbeliebt. Rentengesetze an qualifizierte Mehrheiten zu binden, ist schwierig. Der notwendige rentenpolitische Doppelpack ist nur möglich, wenn die Rentenversicherung von den Finanzierungsquellen abgeschnitten wird, die aus dem Bundeshaushalt kommen. Die Budgetrestriktion der Rentenversicherung muss gehärtet werden. Ein erster Schritt wäre, die Bundeszuschüsse „einzufrieren“. Der Status quo der „versicherungsfremden Leistungen“ sollte zementiert und künftig nur noch mit der Inflationsrate fortgeschrieben werden (hier). Weitere Umverteilungen in der Rentenversicherung müssten unterbleiben. Ein zweiter Schritt wäre, die Budgetrestriktion des Staates zu härten. Der Bund könnte nicht mehr auf Kredite zurückgreifen, um die Rentenversicherung großzügig zu finanzieren. Die Schuldenbremse müsste geschärft, Schattenhaushalte müssten verboten werden. Es dürfte allerdings schwer sein, die Politik an den Mast rentenpolitischer und fiskalischer Regeln zu binden. Das gelingt in der Regel nur in Zeiten wirtschaftlich schwerer Krisen.

Fazit

Die finanzielle Krise der Gesetzlichen Rentenversicherung steht vor der Tür. Demographische Schocks setzen ihr schwer zu. Die Schockwellen reichen bis weit in die 2. Hälfte des Jahrhunderts. Die umlagefinanzierte Alterssicherung muss finanziell auf stabile Füße gestellt werden. Das macht eine grundlegende Reform notwendig, jetzt nicht später. Die demographisch verursachten finanziellen Löcher dürfen nicht durch Mittel gestopft werden, die über finanzielle Zuflüsse von außen kommen. Das würde zu untragbaren Belastungen des öffentlichen Haushaltes führen. Sozialausgaben und andere Ausgaben würden noch asymmetrischer wachsen. Die Mittel müssen von Beitragszahlern und Rentnern aufgebracht werden. Die Budgetrestriktion der Gesetzlichen Rentenversicherung muss gehärtet werden. Der Rentenpakt aus dem Jahr 2019 muss rückabgewickelt, die Regelaltersgrenze muss (automatisch) an die Lebenserwartung angepasst, Rentengesetze dürfen künftig nur noch mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Machen wir uns nichts vor: Die Erfahrung zeigt, solche Reformen sind nur in Zeiten schwerer Krisen möglich. Die Versuchung der Politik, auf kreditär finanzierte Bundeszuschüsse zu setzen, ist in normalen Zeiten weiter groß. Der Geldfluss aus dem Bundeshaushalt könnte allerdings eingedämmt werden, wenn es gelänge, die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse zu schärfen. Der Druck zu inter-generativ fairen Reformen steigt. Die Schuldenbremse ist eine Sozialstaatsbremse, sie stabilisiert die Gesetzliche Rentenversicherung.

Literatur

Norbert Berthold und Bernhard Külp (1984), Regelgebundene Rentenanpassung als Mittel zur langfristigen Sanierung der Gesetzlichen Rentenversicherung. Berlin

Norbert Berthold und Ulrich Roppel (1984), Demographic Change and Old-Age Security. In: G. Steinmann (Hrsg.), Economic Consequences of Population Change in Industrialized Countries. Berlin u.a., 218-237.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2020), Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen. Gutachten 02/2020

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2021), Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Gutachten 06/2021

4 Antworten auf „Wenn implizite Staatsschulden explizit werden
Ein Plädoyer für eine gehärtete Schuldenbremse

  1. Warten wir mal ab bis jüngere Generationen in der Politik das Sagen haben. Sie werden uns den „Generationen-Vertrag“ (müssen da nicht beide Seiten zustimmen?) zu Recht um die Ohren hauen.

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