„Man kann das ganze Volk eine Zeit lang täuschen und man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen, aber man kann nicht das ganze Volk die ganze Zeit täuschen.“ (Abraham Lincoln)
Der demographische Wandel ist kein neues Phänomen. Die Fertilität ist seit Jahrzehnten niedrig, die Lebenserwartung steigt stetig an. Darunter leiden die umlagefinanzierten Systeme der Sozialen Sicherung, besonders die Gesetzliche Rentenversicherung. Sie kämpft mit finanziellen Defiziten. Die Politik verschleiert seit langem das Offenkundige. Mit dem Geld der Steuerzahler werden die (demographischen) Probleme zugekleistert. Erst wenn das System am Rand des finanziellen Abgrundes steht, wird gehandelt. Das war schon in den 00er Jahren der Fall. Unter dem finanziellen Druck fand Rot-Grün den rentenpolitischen „Da Vinci Code“ (22-43-67-4) (hier). Die staatliche Alterssicherung wurde auf ein tragfähigeres Fundament gestellt. Auf sicherem Grund wäre sie aber auch nach den Reformen nur bis Ende der 20er Jahre gestanden. Danach hätte ohne neue Reformen wieder der finanzielle Absturz gedroht. Nun droht er allerdings schon früher: Mit der Rentenreform 2019 wurden rot-grüne Reformen teilweise rückabgewickelt, neue Elemente der Umverteilung wurden installiert und die Lebenserwartung steigt weiter. Die Politik wartet wieder zu. Sie tut nichts, die absehbaren Probleme frühzeitig anzugehen. Die Angst vor den älteren Wählern befördert diese Taktik der Camouflage.
Rentenpolitik der Illusionen
In der wirtschaftlich guten Zeit vor der Corona-Krise, die neue finanzielle Mittel in die Rentenkasse spülte, hat die Politik der rentenpolitische Hafer gestochen. Steigende Beitrags- und wachsende Steuereinnahmen haben das Ausgabenverhalten der Politiker angeregt. Die von vielen als ungerecht empfundene Obergrenze der Beiträge von 22 % und die Untergrenze des Rentenniveaus von 43 % wurden durch neue Haltelinien ersetzt. Sie sollen bis zum Jahr 2025 gelten. Der Beitragssatz darf nicht über 20 % steigen, das Rentenniveau nicht unter 48 % sinken. Das reißt neue Löcher in die Rentenkasse. Der Nachhaltigkeitsfaktor wurde temporär ausgesetzt. Das gilt auch für den Nachholfaktor. Auch er soll bis 2025 außer Kraft bleiben. Das Rentenniveau steigt dauerhaft. Die Rentner gewinnen, die Beitrags- und Steuerzahler verlieren. Damit nicht genug. Für langjährig Beschäftigte wurde die Möglichkeit geschaffen, schon mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Das begünstigt reichere Rentner. Die Grundrente wurde eingeführt, mit der die Grundsicherung aufgestockt wird, um Altersarmut zu bekämpfen. Sie verletzt das Äquivalenzprinzip noch stärker und bevorzugt Alte gegenüber anderen Armen. Schließlich wurden mit der Mütterrente verteilungspolitisch motiviert die Entgeltpunkte für Frauen mit Kindern erhöht, die vor dem Jahr 1992 geboren wurden.
Bundeszuschüsse als Camouflage
Mit den neuen Haltelinien, dem bis 2025 ausgesetzten Nachhaltigkeitsfaktor, dem temporär suspendierten Nachholfaktor und umverteilungspolitischen Aktivitäten werden rentenpolitische Illusionen genährt. Wenn der Nachhaltigkeitsfaktor ab 2026 wieder gelten soll, sind Finanzierungslücken in der Gesetzlichen Rentenversicherung unvermeidlich. Die Beiträge müssen wieder steigen, das Sicherungsniveau wird sinken. Will man allerdings an den neuen Haltelinien festhalten, muss der Bundeszuschuss beträchtlich erhöht werden. Dabei stößt man schnell an Grenzen. Schon heute werden etwa 1/3 der Rentenausgaben über finanzielle Zuschüsse des Bundes finanziert. Über 27 % des gesamten Bundeshaushaltes werden gegenwärtig für die Bundeszuschüsse an die Gesetzliche Rentenversicherung verbraucht. Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi hat darauf hingewiesen, dass bei einer doppelten Haltelinie 48/22 bis zum Jahr 2060 ein weiteres Viertel des Bundeshaushaltes für die Gesetzliche Rentenversicherung benötigt wird (hier). Damit würde über die Hälfte des Bundeshaushaltes für die umlagefinanzierte Alterssicherung verwandt. Die finanziellen Mittel könnten aufgebracht werden, wenn Ausgaben an anderer Stelle eingespart werden. Gelingt die Umschichtung nicht, wächst der Bundeshaushalt, die Steuern müssen steigen, früher oder – bei staatlicher Verschuldung – später.
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Politische Ökonomie der Bundeszuschüsse
Es dürfte fast unmöglich sein, die höheren Ausgaben für die Alterssicherung durch Einsparungen an anderer Stelle des Bundeshaushaltes zu kompensieren. Der Verteilungskampf der Ressorts wird intensiver. Er wird noch verstärkt, weil künftig hohe Ausgaben für die Digitalisierung und Dekarbonisierung zu schultern sein werden. Das braucht höhere Einnahmen. Die Steuern auf Einkommen und Umsätze müssten drastisch erhöht werden, um das Finanzloch in der Rentenversicherung zu stopfen (hier). Verlierer sind in beiden Fällen erwerbstätige Generationen. Wenn die negativen Anreizwirkungen prohibitiv hoher Steuern die wirtschaftliche Entwicklung nicht zum Stillstand bringen sollen, sind höhere steuerliche Belastungen ungeeignet, die größeren Bundeszuschüsse zu finanzieren. Sie untergraben die Tragfähigkeit unseres Sozialsystems nachhaltig. Damit bleibt nur die Finanzierung über eine höhere explizite staatliche Verschuldung. Die Politik hat in einer alternden Gesellschaft alle Anreize, diesen unseligen Weg zu gehen. Aus der impliziten Verschuldung in der umlagefinanzierten Alterssicherung wird eine explizite (hier). Die Risiken und Nebenwirkungen einer hohen und weiter steigenden Verschuldung stärkt die Anreize der Politik, auf eine monetäre Staatsfinanzierung zu drängen. Die inter-generativen Verteilungskämpfe werden über kurz oder lang in Inflation enden. Nichts Neues also.
Entpolitisierung der Rentenversicherung
Eine Rentenpolitik der Camouflage macht keinen Sinn. Die umlagefinanzierte Alterssicherung sollte entpolitisiert werden. Sie muss finanziell auf eigenen Beinen stehen. Bundeszuschüsse sollten gestrichen werden. Das härtet die Budgetrestriktion der Gesetzlichen Rentenversicherung. Inter-generative Verteilungskonflikte in der Alterssicherung können nicht mehr verschleiert und verschleppt, sie müssen zügig im System gelöst werden. Das macht es notwendig, umverteilungspolitisch motivierte Ausgaben aus der Rentenversicherung in das staatliche Steuer-Transfer-System auszulagern und gründlich zu durchforsten. Dagegen müssen auftretende (demographische) Probleme in der Rentenversicherung gelöst werden, am besten regelgebunden (Berthold/Külp, 1984). Die inter-generative Verteilung der nicht wegreformierbaren demographischen Lasten sollte nach politisch vorgegebenen Regeln erfolgen, die nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden können. Die Rentenreform 2019 war ein regelwidriger Fehlgriff. Er sollte korrigiert, die abgespeckten umverteilungspolitischen Elemente in das Steuer-Transfer-System ausgelagert werden. Der rentenpolitische „Da Vinci-Code“ der 00er Reformen sollte wieder gelten. Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor sollten wieder in Kraft gesetzt, die kapitalfundierte Säule der Alterssicherung sollte besser als bisher gestärkt werden. Ohne eine dynamische Altersgrenze geht es allerdings nicht. Sie sollte an die veränderte Lebenserwartung gekoppelt werden.
Fazit
Die Zeit der Camouflage in der Rentenpolitik geht zu Ende. Es ist eine Illusion zu glauben, höhere Beiträge, ein niedrigeres Rentenniveau und längere Lebensarbeitszeiten lassen sich in Zeiten demographischen Wandels dauerhaft vermeiden. Bisher gelang es, diese Illusion auf Kosten gegenwärtiger und künftiger Steuerzahler aufrechtzuerhalten. Immer höhere Bundeszuschüsse machten es möglich. Kein Wunder, dass die Wähler an nicht nachhaltigen Haltelinien und überkommenen Altersgrenzen hängen. Die Politik hat in einer alternden Demokratie vor allem die Wünsche der Generationen der älteren Erwerbstätigen und einer wachsenden Zahl von Rentnern oft wider besseres Wissen erfüllt. Sie folgt konsequent der Logik des Politischen, möglichst viele Gruppen spürbar zu begünstigen und die Lasten möglichst unfühlbar auf die breite Masse zu verteilen. Diese Politik, die Probleme des demographischen Wandels finanziell zuzukleistern, geht aber immer weniger auf. Der Konflikt verschärft sich, rentenpolitische Strukturen zu konservieren und immer neue staatliche Aufgaben zu finanzieren. Aber: Steuerbelastung und Staatsverschuldung stoßen an Grenzen. Die finanzielle Hilfe für die Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt steht auf dem Prüfstand. Weniger Bundeszuschüsse härten die Budgetrestriktion der Alterssicherung. Die Bereitschaft der Generationen steigt, umverteilungspolitische Ausgaben in das Steuer-Transfer-System auszulagern und die Haltelinien und Altersgrenzen neu zu vermessen. Inter-generative Verteilungskonflikte müssen gelöst werden, je früher desto besser.
Literatur
Norbert Berthold und Bernhard Külp (1984), Regelgebundene Rentenanpassung als Mittel zur langfristigen Sanierung der Gesetzlichen Rentenversicherung. Berlin
Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi (2021), Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
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