Leben um zu arbeiten oder arbeiten um zu leben
Arbeitsmärkte in Zeiten der Finanzkrise

„Wissenschaft hat etwas Faszinierendes an sich. So eine geringfügige Investition in Fakten liefert so einen reichen Ertrag an Voraussagen.“ (Mark Twain)

In der Finanzkrise wird die zweite Runde eingeläutet. Aus der Krise des Finanzsektors ist eine Staatsschuldenkrise geworden. Längst ist der finanzielle Tsunami auch auf den realen Sektor übergeschwappt. Das reale Sozialprodukt in der reichen Welt ist überall eingebrochen, teilweise drastisch. Allerdings sind die realen Einbrüche unterschiedlich stark. Manche Länder kamen glimpflich davon, andere traf es hart. Die heterogenen Schocks schlagen allerdings nicht Eins-zu-Eins auf die Arbeitsmärkte durch. Vor allem das „amerikanische Modell“ („leben um zu arbeiten“) sieht in der Finanzkrise alt aus. Dort stieg die Arbeitslosigkeit stärker als das Sozialprodukt einbrach. Das „europäische Modell“ („arbeiten um zu leben“) scheint wieder an Boden zu gewinnen, das „deutsche“ strahlt in neuem Glanz. Hierzulande ging die Arbeitslosigkeit seit Ausbruch der Krise sogar leicht zurück, obwohl das Sozialprodukt spürbar gesunken ist.

Die Fakten

Die Lage auf den Arbeitsmärkten ist unübersichtlich. Von der langen Dominanz des „amerikanischen Modells“ ist nur noch wenig zu spüren. Alte Zeiten kehren wieder. Bis Anfang der 80er Jahre hatte das „europäische Modell“ die Nase vorn. Das „amerikanische“ hinkte hinterher, teilweise beträchtlich. Das änderte sich in der Zeit danach. In den 80er Jahren gewann das „amerikanische Modell“ langsam die Oberhand. Zu Beginn  der 90er Jahre schafften die USA endgültig den Durchbruch. In der Zeit danach bauten die Amerikaner den Vorsprung gegenüber Europa sukzessive aus. Das hat sich mit der Finanzkrise geändert. Der Vorsprung der USA ist dahin, Europa ist nun gleichauf. Diese Entwicklung deutete sich allerdings schon vor der Finanzkrise an. Eine treibende Kraft ist die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das „deutsche Modell“ hat das „amerikanische“ abgehängt, zumindest temporär.


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Es ist allerdings irreführend, „Europa“ mit den USA zu vergleichen. Das „europäische Modell“ ist sehr heterogen. Es hat mindestens vier Varianten: eine angelsächsische, eine kontinentale, eine mediterrane und eine nordische. Um die Spitze kämpfen schon seit langem das angelsächsische und das nordische Modell. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise lag das angelsächsische vorn. Das hat sich geändert. Die Arbeitslosigkeit stieg zwar in Skandinavien spürbar. Noch schlimmer erwischte es allerdings die angelsächsischen Länder. Am härtesten von der Krise betroffen sind die alten Sorgenkinder, die mediterranen Länder. Dort stieg die Arbeitslosigkeit überproportional. Bisher relativ gut durch die Krise gekommen sind demgegenüber die kontinentalen Länder. Vor allem Deutschland zeigt sich erstaunlich stark. Um die Vorherrschaft in Europa streiten gegenwärtig das „nordische“ und „kontinentale Modell“.


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Die Lasten

Der heterogene Anstieg der Arbeitslosigkeit kann auf zweierlei beruhen. Die Länder wurden unterschiedlich stark von Schocks getroffen oder sie wählen verschiedene Wege, um auf die Schocks zu reagieren. Die OECD zeigt im neuesten „Employment Outlook“, dass die Veränderungen der Wachstumsraten des Bruttosozialproduktes (BSP) in dieser Rezession weniger streuen als in allen früheren Abschwüngen seit der ersten Ölpreiskrise. Die gegenwärtige Krise ist stark synchronisiert. Das gilt nicht für die Arbeitsmärkte. Dort streut der Anstieg der Arbeitslosigkeit stärker als in den Rezessionen der 70er Jahre und der „dot com“-Krise, allerdings weniger stark als in der Krise zu Beginn der 90er Jahre. Das spricht dafür, dass die eigentlichen Gründe für die heterogene Entwicklung auf den Arbeitsmärkten weniger an unterschiedlichen Anpassungslasten als an verschiedenen Anpassungskapazitäten der Länder liegen.


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Auf den Arbeitsmärkten der Länder mit den größten Bruttosozialprodukt-Schocks war alles möglich. In manchen Ländern, wie in Island oder Irland, stieg die Arbeitslosigkeit sprunghaft um über 3,5 Prozentpunkte an. In anderen, wie Japan oder Luxemburg, veränderte sich auf den Arbeitsmärkten wenig. In skandinavischen Ländern, wie Dänemark, Finnland und Schweden, stieg die Arbeitslosigkeit zwischen 1,5 und 3,5 Prozentpunkte. Auch in den Ländern, in denen die BSP-Schocks eine mittlere Stärke aufwiesen, sind alle drei Reaktionen auf den Arbeitsmärkten nachweisbar. Interessant sind vor allem die deutschen Arbeitsmärkte. Trotz erheblicher BSP-Schocks verschlechterte sich die Lage nur wenig. Es gab schließlich auch Länder, die kaum von solchen Schocks getroffen wurden. Bei den meisten von ihnen, wie Australien oder die Schweiz, waren die Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte kaum spürbar. In Neuseeland stieg allerdings die Arbeitslosigkeit um über 1,5 Prozentpunkte.

Die Reaktionen

Die große Streuung der Arbeitslosigkeit beruht auf unterschiedlichen länderspezifischen Reaktionen auf die BSP-Schocks. Die Reaktionsmuster auf den Arbeitsmärkten zwischen Europa und den USA unterscheiden sich erheblich. Eine Wachstumszerlegung bringt Licht ins Dunkel. Obwohl das Wachstum in Europa stärker als in den USA schrumpfte, stieg die Arbeitslosigkeit weniger stark. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass sich amerikanische Unternehmen stärker über Entlassungen angepasst haben. Europäische Unternehmen haben eher (qualifizierte) Arbeitnehmer gehortet und versucht, Entlassungen so gut es ging zu vermeiden. Arbeitszeitkonten, Zeitarbeit, betriebliche Bündnisse und Kurzarbeit waren wichtige Instrumente. In Europa sank die Arbeitsproduktivität, in den USA stieg sie an. Steigende Lohnstückkosten setzen der europäischen Strategie allerdings Grenzen.


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Der globale Blick auf Europa gibt nur einen ersten Hinweis. Europa ist kein monolithischer Block. Auch auf den europäischen Arbeitsmärkten herrscht Vielfalt. Die Länder haben unterschiedlich auf die BSP-Schocks reagiert. Dem „amerikanischen“ Muster, überschüssige Arbeitskräfte in Zeiten der Krise schnell loszuwerden, folgten in Europa vor allem die Unternehmen in Spanien, Irland und mit Abstrichen auch Frankreich. Allerdings schlug Großbritannien, das angelsächsische „Musterland“ in Europa, den amerikanischen Weg nicht ein. Dem „deutschen“ Muster, Arbeitszeitkonten abzuräumen, (qualifizierte) Arbeitskräfte so lange es geht zu horten, primär Randbelegschaften abzubauen, Lohnzugeständnisse auf betrieblicher Ebene zu organisieren und stärker auf Teilzeit zu setzen, folgten prinzipiell auch die Niederlande, die skandinavischen Länder und Italien. In diesen Ländern stieg die Arbeitslosigkeit weniger stark.


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Die Ansteckung

Die Arbeitslosigkeit in Europa und den USA droht strukturell zu verhärten. Diese Gefahr ist bei einer europäischen und amerikanischen Arbeitslosenquote von um die 10 % nicht gering. Mit der Dauer der Krise zeigen sich sektorale, regionale und qualifikatorische Schleifspuren. Der Mismatch von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten nimmt zu, das Phänomen der Hysterese wird relevant. Die Gefahr der strukturellen Arbeitslosigkeit erhöht sich, wenn der Bedarf an sektoralem Wandel mit der Krise gestiegen ist. Sie steigt aber auch dann, wenn sich die Struktur der Nachfrage nach Qualifikationen durch die Krise verändert hat. Beides dürfte der Fall sein. Tatsächlich erhöht sich in den USA die Zahl der offenen Stellen, ohne dass die Zahl der Arbeitslosen nennenswert sinkt. Gleichzeitig steigt die Langzeitarbeitslosigkeit. Das alles deutet auf einen erhöhten strukturellen Anpassungsbedarf hin.


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Die OECD hat versucht, die gegenwärtige Gefahr der strukturellen Ansteckung zu quantifizieren. Dabei wurde untersucht, wie sensibel in der Vergangenheit strukturelle Arbeitslosigkeit auf zyklische reagiert hat. Trotz eines starken Anstiegs der zyklischen Arbeitslosigkeit in den USA schätzt die OECD die Gefahr einer strukturellen Ansteckung als gering ein. Flexible amerikanische Arbeitsmärkte sind ein wirksamer Schutz. Es ist allerdings fraglich, ob diese Ergebnisse noch gelten, wenn die Immobilienkrise die räumliche Mobilität der Arbeitnehmer verringert. Weniger optimistisch ist die OECD für die meisten europäischen Ländern mit Ausnahme von Dänemark und Schweden. Da europäische Arbeitsmärkte weniger flexibel sind, steigt auch das Risiko einer strukturellen Ansteckung.  Eine sehr hohe Infektionsgefahr wird für die mediterranen Länder, aber auch für Irland und die Schweiz diagnostiziert.


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Fazit

Die schweren Schockwellen der Finanzkrise mischen die Karten im „Krieg der Modelle“ (Richard Freeman) neu. Das „amerikanische Modell“ hat an Attraktivität verloren, das „nordische“ und „kontinentale“ gewonnen. Wer die besseren Karten hat und künftig die Nase vorn haben wird, hängt davon ab, wo die Arbeitsstundenproduktivität am schnellsten wächst. Die Erfahrung zeigt, mehr Wettbewerb auf Arbeits- und Gütermärkten sind wichtige Treiber dieser Entwicklung. Eine stärker koordinierte und harmonisierte Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik in Europa ist kontraproduktiv. Mehr institutioneller Wettbewerb durch europäische Vielfalt und weniger Zentralisierung sind das Gebot der Stunde. Erfolgreich ist nur, wer experimentiert, von den Besten lernt und dessen Macht begrenzt wird. Das ist eine Stärke des „amerikanischen Modells“. Die Nachricht von seinem Ableben ist deshalb übertrieben.

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