Angela im Wunderland

Die Europäischen Staats- und Regierungschefs haben auf ihrem letzten Gipfel vom 30. Januar 2012 den intergouvernementalen Fiskalvertrag beschlossen, der im kommenden März verabschiedet werden und eine Wiederholung der Staatsschuldenkrise künftig verhindern soll. Das Vereinigte Königreich und Tschechien machen allerdings nicht mit, und auch bei einigen anderen Mitgliedsländern der EU, die nicht in der Eurozone sind, hält sich die Begeisterung für eine allzu starre fiskalische Regelbindung wohl eher in Grenzen. Dennoch wird der Fiskalpakt von der Bundesregierung als Meilenstein zur weiteren Stabilisierung der Eurozone  bezeichnet, weil er eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild auch für andere Länder vorsieht.

Kernpunkt der Vereinbarung ist erstens die Verpflichtung der unterzeichnenden EU-Mitgliedstaaten, ihre nationale Gesetzgebung anzupassen und eine Fiskalregel möglichst in die Verfassung aufzunehmen. Die Regel sieht vor, dass das jährliche konjunkturbereinigte Haushaltsdefizit eines Landes grundsätzlich nicht mehr als 0,5% des BIP betragen darf. Diese Regel muss spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrages, also bis März 2013, in nationales Recht umgesetzt sein und um einen Korrekturmechanismus bei Vorliegen höhere Defizitquoten ergänzt werden. Andernfalls besteht ein Klagerecht der übrigen Vertragsunterzeichner vor dem Europäischen Gerichtshof. Dessen Entscheidung wird bindend sein und ist bei Nichtumsetzung mit der Androhung finanzieller Strafen verbunden, die bis zu 0,1 % des BIP betragen können und in den dauerhaften Rettungsschirm ESM fließen.

Sollte ein Unterzeichnerland die im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vorgesehene Obergrenze für das jährliche strukturelle Haushaltsdefizit von 3 Prozent des BIP  überschreiten, wird die Europäische Kommission automatisch Korrekturmaßnahmen  einleiten. Dies verpflichtet das betroffene Land, strukturelle Reformen durchzuführen und sein Haushaltsdefizit nachhaltig abzubauen. Die Unterzeichnerländer verpflichten sich, die Entscheidung der Kommission zu unterstützen und können die Eröffnung des Defizitverfahrens nur mit qualifizierter Mehrheit wieder aussetzen (Bundesfinanzministerium, 2012).

Insofern übernimmt der Fiskalpakt die Philosophie des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP), allerdings mit drei wichtigen Unterschieden: Erstens wird die Obergrenze für die jährliche Neuverschuldung von 3 % p.a. auf 0,5 % p.a. herabgesetzt, was der Tatsache Rechnung trägt, dass die Gesamtverschuldung in fast allen EU-Mitgliedsstaaten seit Inkrafttreten des SWPs beträchtlich angestiegen ist. Zweitens wird die Schuldenbremse Bestandteil der nationalen Gesetzgebungen, vorzugsweise der Verfassungen, und ist damit schwerer zu brechen. Und drittens werden Defizitverfahren nicht mehr vom Europäischen Rat beschlossen, sondern müssen von der qualifizierten Mehrheit der Unterzeichnerstaaten abgelehnt werden, um ein automatisches Verfahren zu verhindern; diese Änderungen machen es wahrscheinlicher, dass in Zukunft innerhalb der EU von mehr Budgetdisziplin nicht nur geredet, sondern diese auch tatsächlich durchgesetzt wird.

So weit, so gut.

Leider ist das aber noch nicht alles. Es gibt auch noch den zweiten Bestandteil des Vertrages, der die Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM als dauerhaften Rettungsschirm vorsieht. Dieser soll vorgezogen werden und bereits Mitte 2012 seine Arbeit beginnen. Der ESM hat das Recht, Staatsschuldtitel auf Primär- und Sekundärmärkten aufzukaufen und Kredite an Unterzeichnerstaaten zu vergeben, sofern sie vorgegebene Reformprogramme umsetzen. Da alle Unterzeichnerstaaten bis Mitte 2013 die Schuldenregel des Fiskalpakts in nationales Recht umgesetzt haben müssen, soll die Kreditgewährung durch den ESM danach von der Ratifizierung und Umsetzung der Schuldenbremse abhängig gemacht werden. Damit wird ein dauerhafter Rettungsschirm eingeführt und zugleich die deutsche Forderung nach Verknüpfung von Solidität und Solidarität umgesetzt.

Dennoch bleiben begründete Zweifel, dass der Fiskalpakt die Europäische Schuldenproblematik lösen kann, auch wenn dies von der Deutschen Bundesregierung behauptet wird – leider ist eher das Gegenteil zu befürchten. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens hatten die Gründungsväter der Europäischen Währungsunion zwei Verteidigungslinien gegen das Entstehen übermäßiger Haushaltsdefizite aufgebaut. Die eine ist die „No bailout-Klausel“ des Artikels 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, wonach weder die Europäische Union noch einzelne Mitgliedsstaaten für die Schulden anderer Mitgliedsstaaten haften. Die Klausel ist damit eine Ex-post-regel, die Haushaltssündern klar machen sollte, dass sie selbst ihre Schulden tilgen und die Konsequenzen zu hoher Haushaltsdefizite allein tragen müssen. Die zweite Verteidigungslinie ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der eine präventive Regel darstellt und durch eine fiskalische Überwachung das Entstehen übermäßiger Haushaltsdefizite verhindern sollte.

Durch den ESM wird die No-bailout-Klausel faktisch zu Grabe getragen, denn potenzielle Haushaltssünder (und private Investoren in Staatsanleihen) wissen jetzt, dass Schuldenstaaten geholfen wird, sofern sie ihre Verfassungen ändern und eine Schuldenbremse gesetzlich verankern. Während bislang noch prinzipiell Unsicherheit darüber herrschte, ob ein Bail-out erfolgt oder nicht, was zumindest potenziell das Schuldenmachen bremst, ist diese „constructive ambiguity“ inzwischen beseitigt. Es ist zu befürchten, dass sich dadurch auch die Anreize zur Haushaltsdisziplin vermindern.

Zweitens haben die Staats- und Regierungschefs auf dem Europäischen Gipfel im Januar  nicht präzise festgelegt, was passiert, wenn ein Unterzeichnerland die Schuldenbremse nicht in nationales Recht umsetzt oder sie anschließend verletzt. Diese Möglichkeit ist jedenfalls nicht auszuschließen, schließlich können auch Verfassungen gebrochen werden, und Verfassungsklagen sind langwierig und ergebnisoffen. Die Drohung, das betreffende Land vom Zugang zum dauerhaften Rettungsschirm auszuschließen, dürfte kaum glaubhaft sein. In diesem Zusammenhang ist auch ein Zitat des portugiesischen Ministerpräsident Pedro Passos Coelho vom September 2011 interessant, der eine Schuldenbremse in der Verfassung seines Landes als „goldene Regel, die niemandem wehtut“ bezeichnet hatte (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2011).

Zudem ist die im Vertrag vorgesehene Klagemöglichkeit einzelner Unterzeichnerstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Schuldensünder kaum praktikabel oder mit hohen politischen Kosten verbunden. Es ist kaum vorstellbar, dass Deutschland etwa Italien (oder umgekehrt) wegen zu hoher Defizite verklagt. Besser wäre es gewesen, das Klagerecht zumindest der Europäischen Kommission zuzubilligen und auf supranationaler Ebene anzusiedeln. Zudem sind Strafen bei Erfolg der Klage zwar möglich, aber nicht zwangsläufig. Offenbar wird der EuGH auch mal ein Auge zudrücken können. Vielleicht ist der Glauben deutscher Politiker in die Verbindlichkeit von Absprachen und Regeln ein wenig naiv, weil in anderen Ländern mehr Gewicht auf eine flexible Interpretation solcher Regeln gelegt wird.

Drittens schreibt der Fiskalpakt eine Obergrenze lediglich für das strukturelle jährliche Haushaltsdefizit vor und nimmt damit ausdrücklich Überschreitungen in Kauf, die konjunkturelle Ursachen haben oder Folge außergewöhnlicher Umstände sind. Obwohl die Gründe für solche Ausnahmeregeln offensichtlich sind, und vielleicht auch denjenigen einleuchten, die an die Wirksamkeit keynesianischer Fiskalprogramme glauben, wird damit natürlich einer Vertragsverletzung Tür und Tor geöffnet. Wegen der Berechnungsunsicherheiten  ist zu befürchten, dass wir uns in Zukunft vor Erklärungen und Beteuerungen nicht mehr werden retten können, dass sich einzelne Länder in einer Konjunkturkrise befänden oder andere Sonderfaktoren eine Regelverletzung begründeten. Außergewöhnliche Umstände lassen sich immer finden.

Was als Lösung der Schuldenkrise verkauft wird, ist in Wahrheit der Einstieg in eine Transferunion zwischen den Unterzeichnerländern. Es wäre besser gewesen, die Glaubwürdigkeit der „No-bailout Klausel“ zu stärken und eine Insolvenzordnung für Staaten zu entwickeln, anstatt den Stabilitäts- und Wachstumspakt auszubauen und verstärkt auf eine Prävention übermäßiger Haushaltsdefizite zu setzen. Auch Staaten können Pleite gehen und müssen das auch, wenn ihre Politiker zu großzügig mit den Staatsfinanzen umgehen. Es fehlen Regeln, wie mit diesem Fall umzugehen ist, auf die sich die Investoren ex ante einstellen können.

Ein wenig erinnern die Versuche deutscher Politiker, die Europäische Schuldenkrise durch politische Selbstverpflichtungen der Mitgliedsstaaten nachhaltig zu lösen, an „Alice im Wunderland“, die dem weißen Kaninchen hinab in die Unterwelt folgt. Dort begegnet sie Fabelwesen, die in einer eigenen Logik leben, und scheitert bei dem Versuch, ihnen ihre Schulregeln beizubringen. Finanzielle Solidität ist auch solch eine Regel, und in Europa wird diese Solidität ohne zentrale Eingriffsrechte bloß durch einen Fiskalpakt nicht umzusetzen sein. Was dann übrig bleibt, ist ein Rettungsschirm ohne Fiskaldisziplin, der sich als noch als Meilenstein in die falsche Richtung erweisen dürfte.

Aber vielleicht stimmt es ja doch, dass „Unmögliches zu glauben nur eine Frage der Übung“ ist.

Literatur

Bundesministerium der Finanzen (2011). Ein Vertrag für mehr Stabilität,  http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_54/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Europa/Der__Euro/Stabilitaet/Stabilisierung-des-Euro/20120202-esm.html?__nnn=true.

European Commission (2012), Treaty on Stability, Coordination and Governance in the Economic and Monetary Union, Brussels.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011). Eine Schuldenbremse für Portugal, Nr. 216, 15. September 2011, S. 13.

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